Syrien-Krieg eskaliert

SU-35

Kämpfe zwischen türkischen und syrischen Einheiten

In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar bombardierten unbekannte Flugzeuge einen Militärkonvoi der islamistischen Rebellen in der Provinz Idlib im Norden Syriens . In Syrien gehen jeden Tag russische, syrische, israelische, amerikanische und türkische Flugzeuge auf mörderische Jagd. Angriffe auf Nachschubwege und Kommunikationseinrichtungen des Feindes sind alltäglich. Neu war in dieser Nacht allerdings, dass wahrscheinlich Flugzeuge einer atomaren Supermacht eine Militärkolonne eines NATO-Mitgliedslandes attackiert haben. 

Dima Yanski, Köln

Infolge des mutmaßlich russischen Angriffs wurden nach offiziellen Angaben 33 türkische Soldaten getötet. Die Reaktion der türkischen Regierung war vorhersehbar. Direkt danach wurden Positionen von Assads Truppen bombardiert und beschossen, was zu mehreren Todesopfern führte. Schwere Artillerie, Mehrfachraketenwerfer mit einer Reichweite bis zu 100 km sowie Dutzende Flugzeuge und Hubschrauber waren im Einsatz.

Das türkische Militär kündigte die Einführung einer Flugverbotszone in Nordsyrien an. Einige nationalistisch geprägte türkische Propagandisten schlugen die Kriegstrommel und forderten eine Kriegserklärung gegen Russland oder mindestens Syrien.

NATO-Bündnisfall?

Am 28. Februar verlangte die Türkei von anderen NATO-Mitgliedern die Erklärung eines sogenannten Bündnisfalls nach Artikel 5 (gemeinsame Verteidigung) oder Artikel 4 (Beratungen der NATO-Staaten). Es wurde angekündigt, dass das türkische Parlament das Kriegsrecht einführen oder sogar offiziell einen Syrien Krieg erklären will.

Der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg versicherte der Türkei „volle Solidarität“ und Unterstützung bei der Flugabwehr, verzichtete jedoch auf konkrete Zusagen. Die Situation ist für die NATO-Mitglieder unüberschaubar. Zudem spielen sich die Kämpfe nicht in der Türkei selbst ab, sondern im Nachbarland Syrien. Dort hat die Türkei nichts zu suchen, was die Ausrufung des Bündnisfalls erschwert.

Die amerikanische NATO-Botschafterin Kay Bailey Hutchison schlug dennoch einen scharfen Ton an: Falls die Russen türkische Truppen angreifen, „sollte dies alles überschatten, was sonst zwischen der Türkei und Russland geschieht.“

Das russische Militär reagierte empört und wies darauf hin, dass die Route des türkischen Konvois nicht abgesprochen war und dass laut ihren Informationen radikale Islamisten den Nachschubweg benutzt hatten. Außenminister Lawrow äußerte seine „Anteilnahme“ und schlug vor, schnell ein Treffen zwischen Erdogan und Putin einzuberufen. Das persönliche Gespräch von Putin und Erdogan sei am 5. März geplant. Gleichzeitig entsandte die russische Marine zwei Fregatten nach Syrien. Die Hauptbewaffnung dieser Schiffe sind Marschflugkörper mit einer Einsatzreichweite von 2500 Kilometern.

Bauernopfer der Großmächte

Die Einzigen, die in diesem Chor der realen Kriegstreiber und angeblichen Friedenstauben nicht zu hören waren, sind die Syrer*innen selbst. Weder die Meinung von Assads Regierung noch die der Rebellen im Norden des Landes interessiert die „besorgten“ Weltmächte. Wer fragt schon die Bauern? Die Syrer*innen in türkischer Uniform mit türkischen Waffen kämpfen gegen Syrer*innen, die von der russischen Armee oder dem iranischen Geheimdienst bewaffnet und ausgebildet wurden.

Es ist eine Art kleiner Weltkrieg, der momentan in den Bergen und Ebenen im Norden Syriens abläuft. Da kämpfen Palästinenser*innen, die Assad unterstützen gegen Palästinenser*innen, die eine Weltkalifat aufbauen möchten. Die Schiiten aus Afghanistan, die wegen Armut in pro-iranischen Milizen dienen, kämpfen gegen Uiguren aus China, die den Islamismus als einzige Möglichkeit der nationalen Befreiung sehen.

Und natürlich die arabischen Jugendlichen aus dem ganzen Nahen Osten: Ein mit einer Kalaschnikow oder M16 bewaffneter junger Araber ist momentan die billigste Währung in der Region. Ihr Leben ist wahrscheinlich weniger wert als die Waffen, die sie tragen.

Alle Großmächte kündigten eine Deeskalation an, was in Orwells Sprache der kapitalistischen Außenpolitik nichts anderes als die Fortsetzung des Krieges bedeutet. Die russischen, syrischen und türkischen Flugzeuge nehmen heute, genau wie gestern, die feindlichen Milizen unter Beschuss. Hunderttausende Syrer*innen ergriffen die Flucht und suchten die Rettung in der Türkei, oder in Europa. Die neuen Flüchtlingsboote erreichten nach wenigen Stunden Lesbos. Erdogan nutzte die verzweifelten Menschen als Druckmittel in Verhandlungen mit den NATO-„Partnern“ und ließ die Grenze zu Griechenland öffnen.

Regionalmacht Türkei

Obwohl die Hölle in Idlib mit guten Friedensvorsätzen gepflastert ist, spitzen sich in der Region die Widersprüche der Weltpolitik und Wirtschaft zu. Die türkische Elite strebt danach, die Rollen des am stärksten bewaffneten Lakaien der NATO und der Halbkolonie des Westens abzulegen. Sie will ihre eigene Macht in der Region ausbauen. Dafür sterben momentan die türkischen Soldaten in Libyen, Syrien und Kurdistan.

Getrieben von einem drohenden wirtschaftlichen Kollaps ist Erdogans Regierung gezwungen, immer mehr auf die Karte der militärischen Eskalation zu setzen. Die Särge der „Märtyrer“ und die Kriegsnachrichten sollen die Massen von ihren Problemen ablenken. Dabei stößt die Türkei auf die Interessen Russlands, das konsequent den eigenen Vasallen Assad unterstützt. Russische und türkische Soldaten töten einander und ihre Proxy-Verbündeten. Gleichzeitig schließen russische und türkische Oligarchen Handel- und Tourismusverträge ab, bauen Atomkraftwerke an der türkischen Mittelmeerküste und verkaufen zusammen Gas.

Bei der Expansion im Mittelmeer gerät die Türkei in Streit mit den eigenen NATO-Alliierten Griechenland  und Frankreich sowie mit Zypern. Es geht um die riesigen Vorräte von Erdgas und den Zugang zu Nordafrika. Bei der militärischen und wirtschaftlichen Ausdehnung in Irak und Syrien stoßen die türkischen Kapitalisten auf den Iran. Das Mullah-Regime will die wirtschaftliche Blockade der USA durchbrechen und baut daher eine sogenannte schiitische Brücke im Irak, Libanon und Syrien. Die kapitalistischen Eliten Irans möchten einen leichteren Zugang zum internationalen Ölhandel bekommen und das Ölkönigreich Saudi Arabien herausfordern.

Wie weit geht die Eskalation?

Momentan scheint die Region die größte Waffenkammer der Welt zu sein. Hunderttausende bewaffnete Kombattant*innen mit Tausenden gepanzerten Fahrzeugen und Kampfpanzern, mit Hubschraubern und Flugzeugen, sind Tag und Nacht in blutige Auseinandersetzungen verwickelt. Die wirtschaftlichen Widersprüche und Interessen werfen Tausende Männer und Frauen ins Feuer des Krieges und lassen selbst den lokalen Machthabern oft keine Wahl.

Im Namen der Demokratie, des Kalifats, der Menschenrechte und der nationalen Interessen wird für Öl, Gas, Handelswege, Zugang zu Märkten und Investitionsfreiheit gekämpft. Wie weit können die russischen, amerikanischen, türkischen, syrischen und iranischen Oligarchen gehen, um ihre Ziele durchzusetzen? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Ein großer Krieg würde für die Kapitalisten enorme ökonomische Verluste bedeuten. Abgesehen davon würde allein die Erklärung des Krieges die kämpfenden Parteien in eine ungleiche Stellung bringen. Setzt sich die NATO für die Türkei ein, steht Russland plötzlich einem übermächtigen Gegner gegenüber, der, abgesehen von atomaren Waffen, Russland in allen anderen Bereichen überlegen ist.

Der Krieg ist ein fester Bestandteil des Kapitalismus. Er ist die Fortsetzung der wirtschaftlichen Interessen mit anderen Mitteln. Dabei geht es nicht nur um gezielte und planmäßige ausgeführte militärischen Plünderungen von Kolonien und Halbkolonien, sondern vielmehr um die zentralen imperialistischen Konflikte der Epoche. Ebenso wenig wie die Eskalation der wirtschaftlichen Konkurrenz lässt sich die extreme Zunahme der Konkurrenz zwischen Imperialisten und der Krieg kontrollieren. Solange der Kapitalismus am Werk ist, ist die Gefahr eines großen Krieges nicht ausgeschlossen.

Das zeigen die Erfahrungen des Syrien-Krieges und der letzten Jahrhunderte. Die Versuchung, einen Krieg zu eigenen Gunsten schnell mit neuen technischen Mitteln durchzuführen, ist immer da. Der Druck der kommenden Wirtschaftskrise erzeugt den zusätzlichen Dampf im Triebwerk der kapitalistischen Wirtschaft und Politik. Die herrschende Klasse ist nicht in der Lage, den Frieden zu garantieren.

Die einzige Kraft, die fähig ist, die Eskalation der imperialistischen Widersprüche zu stoppen, ist die organisierte Arbeiter*innenbewegung. Wir können und müssen eine sozialistische Alternative über die Grenzen der religiösen und nationalen Spaltungen hinaus bieten. Um das zu erreichen, oder mindestens einen Schritt in die Richtung zu machen und das Leiden der Menschen in Syrien zu verringern, wäre es wichtig, politischen Druck auf die eigenen Regierungen auszuüben.

Kein Geld für die militärischen Programm der Regierung. Wir müssen soziale Probleme hier und jetzt lösen. Keine Geheimabsprachen zwischen Erdogan, Putin, Macron, Merkel & Co. Raus mit der Sprache, es gibt nichts zu verbergen! Wir brauchen die NATO nicht – Schluss mit der größten und teuersten Militärbürokratie und Räuberbande der Weltgeschichte.

Alle Großmächte, religiöse Spalter und Nationalisten haben in Syrien nichts zu suchen. Die einzigen, die das Recht auf Bewaffnung haben, sind die Bewohner*innen der Region, die ihre Häuser und Familien vor Plünderern aus der ganzen Welt verteidigen.

Lasst uns die Menschen vor Ort mit schnellen und massiven Investitionsprogrammen unterstützen. Wir können zusammen alle wirtschaftlichen, politischen, klimatischen Herausforderungen bewältigen und eine Gesellschaft aufbauen, die auf solidarischer Planwirtschaft, internationaler Kooperation und breiter Demokratie basiert.

Foto: SU-35, Symbolbild. Rob Schleiffert. CC BY-SA 2.0, File:Su-35 (12509727094).jpg, Created: 14 February 2014.