Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt unter seinem revolutionären Decknamen Wladimir Lenin, wurde vor 150 Jahren in der Stadt Simbirsk (heute Uljanowsk) an der russischen Wolga geboren. Im Alter von 30 Jahren gehörte er bereits zu den führenden Marxist*innen der Welt. Nur 17 Jahre später führte er zusammen mit Leo Trotzki die erste sozialistische Revolution der Welt an.
Rob Jones, Sotsialisticheskaya Alternativa — ISA in Russland
Wenn eine heutige Regierung alle internationalen Abkommen zerreißen würde, welche die Rechte der einfachen Bevölkerung einschränken, die Kontrolle über die wichtigsten Sektoren der Wirtschaft übernehmen würde, ein System der Arbeiterinnenkontrolle in der Industrie einführen und an die Arbeiterinnen und Bäuerinnen der ganzen Welt appellieren würde, zum Wohle aller zusammenzuarbeiten, würde sie begeisterte Unterstützung unter Arbeiterinnen und Unterdrückten finden. Und das alles ist nur ein Teil dessen, was die erste Sowjetregierung unter Führung der Bolschewiki im November 1917 umsetzte.
Die neue Sowjetregierung war nicht nur auf der großen Bühne revolutionär – sie veränderte fast jeden Aspekt des Lebens der einfachen russischen Werktätigen.
Das revolutionäre Russland schied sofort aus dem imperialistischen Ersten Weltkrieg aus. Es gewährte jenen nationalen Gruppen das Selbstbestimmungsrecht, welche das ehemalige russische Imperium hatten verlassen wollen. Es enteignete die Großgrundbesitzerinnen und gab allen Kleinbäuerinnen das Recht, das Land zu nutzen. Sie verweigerte der russisch-orthodoxen Kirche und anderen Religionen das Recht, sich am Staat zu beteiligen.
Während in bürgerlichen Demokratien wie Großbritannien das Wahlrecht auf grundbesitzende Männer über 21 Jahre beschränkt war, gewährte das neue Sowjetrussland allen Bürgerinnen, Männern und Frauen über 18 Jahren, das Wahlrecht – sofern sie andere nicht ausbeuteten. Ein System von Sowjets („Räten“), das aus gewählten Vertreterinnen der Arbeiterinnen, Soldatinnen und Bäuer*innen bestand, führte die Gesellschaft.
Die bolschewistische Regierung deklarierte, dass Frauen gleichberechtigt sein sollten. Sie führte ein breit angelegtes Programm zur Reduzierung des Analphabetismus unter Frauen ein. Sozialküchen, Wäschereien und Kindergärten wurden errichtet, um Druck von den Frauen zu nehmen. Die Ehe- und Scheidungsgesetze wurden dahingehend geändert, dass eine Frau eine Ehe jederzeit verlassen kann, wenn sie dies wünscht. Das Recht auf Abtreibung wurde eingeführt. Alexandra Kollontai wurde die erste weibliche Regierungsministerin der Welt. Homosexualität wurde entkriminalisiert. Eine ganze Reihe führender kultureller und politischer Befürworter*innen der Revolution waren homosexuell, darunter Georgi Tschitscherin, der Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten.
Bildung, einschließlich der Hochschulbildung, wurde für alle kostenlos gemacht. Eine Massenalphabetisierungskampagne wurde gestartet. Eine neunjährige Schulbildung wurde eingeführt, und alle, die mit 16 Jahren einen Schulabschluss erwarben, hatte das Recht, an einer Universität zu studieren. Bis 1921 wurden über 200 neue Universitäten gegründet, was die Gesamtzahl innerhalb von drei Jahren verdreifachte. Hunderte von speziellen Schulen wurden eingerichtet, um Minderheitensprachen zu unterrichten. Auch das Gesundheitswesen wurde für alle kostenlos gemacht, und alle medizinischen Einrichtungen wurden in das staatliche System integriert. Die medizinische Einstellung änderte sich radikal – anstatt vor allem darauf abzuzielen, die Wohlhabenden bei chronischen Krankheiten und Verletzungen zu behandeln, nahm der sowjetische Ansatz die Beseitigung von Infektionskrankheiten ins Visier, welche damals Hunderttausende und sogar Millionen von armen Menschen töteten. Die Lebenserwartung, die 1913 noch unter 30 Jahren lag, stieg 1926 auf 44 und bis zum Ende des Zweiten Krieges auf 60 Jahre.
Neben alledem und trotz des Bürgerkriegs, den die imperialistischen Mächte nach der Revolution anzettelten, gelang es der bolschewistischen Partei Lenins, das russische Alphabet zu modernisieren, in mehreren Regionen Schriftsprachen einzuführen und den reaktionären julianischen Kalender mit dem übrigen Europa in Einklang zu bringen. Einige ewiggestrige Konservative sind davon noch heute verwirrt und verwenden noch immer die julianischen Daten. Inlandspässe wurden abgeschafft.
Darüber hinaus war Lenin maßgeblich an der Gründung der Dritten Internationale, der Komintern, beteiligt. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, revolutionäre Bewegungen in der ganzen Welt aufzubauen.
Jugendjahre
Viele von Lenins Ideen entstanden in seiner Jugend in der Provinz Simbirsk. Sein Vater lebte in einem komfortablen, aber bescheidenen Holzhaus und war örtlicher Schulinspektor. Er nutzte die Position, um sich für Bildungsreformen einzusetzen. Die drei Uljanow-Söhne profitierten von der bildungsfreundlichen Atmosphäre, in welcher das Lesen gefördert wurde. Alexandr, der Älteste, war von revolutionärem Geist durchdrungen und schloss sich der Gruppe „Narodnaja Wolja“ („Volkswille“) an. Diese vertrat die Ansicht, dass individueller Terror zur Revolution führen würde. 1887 wurde er wegen seiner Beteiligung an einem Komplott zur Ermordung des Zaren hingerichtet. Dies hinterließ in Wladimir die unumstößliche Überzeugung, dass solche Methoden schädlich seien, dass nur die organisierte und politisch bewusste Arbeiter*innenklasse die Revolution vollenden könne.
Wladimir wurde von der Universität in Kasan verwiesen, weil er bei der Organisation eines Studierendenprotestes geholfen hatte. Daraufhin zog er nach Sankt Petersburg. Dort trat er der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei, die 1898 gegründet worden war, um die Ansichten von Marx und Engels innerhalb der russischen revolutionären Zirkel und in der Arbeiter*innenbewegung zu verbreiten. Er wurde verhaftet, ins Exil geschickt und reiste nach seiner Freilassung nach Europa, wo er eine wichtige Rolle in den dortigen marxistischen Kreisen spielte. Er gründete eine Zeitung, Iskra („Funke“), welche nach Russland eingeschmuggelt wurde.
Die sozialdemokratische Bewegung in Europa, die ursprünglich auf den Ideen von Marx und Engels beruhte, war dramatisch gewachsen. In Deutschland hatte sie mit Gewerkschaften und gewählten Vertreter*innen massenhafte Unterstützung. Lenin hatte zunächst großen Respekt vor den Giganten der europäischen Sozialdemokratie wie Karl Kautsky und Wilhelm Liebknecht sowie vor Georgi Plechanow, dem Begründer der russischen Sozialdemokratie. Aber die alte Sozialdemokratie war mittlerweile von jenen dominiert, die mehr an einer Karriere im Parlament als am revolutionären Marxismus interessiert waren.
Was tun?
Ein Wendepunkt in Lenins politischer Entwicklung kam mit der Veröffentlichung seiner Schrift „Was tun?“ im Jahr 1902 und den Debatten auf dem Zweiten Kongress der russischen Sozialdemokratischen Partei 1903. Was zunächst wie ein Streit über organisatorische Fragen aussah, war in Wirklichkeit die Spaltung der sozialistischen Bewegung Russlands in einen reformistischen und einen revolutionären Flügel.
Lenin plädierte dafür, die Sozialdemokratie soll eine Partei professioneller Revolutionärinnen sein, die diszipliniert, vereint und in Übereinstimmung mit dem Programm der Partei handelt. Seine Gegnerinnen, angeführt von Julius Martow, meinten, die Partei solle breiter sein. Es genüge, sagte er, dass ein Mitglied dem allgemeinen Ansatz der Partei zustimme und sich nicht unbedingt an ihren Aktivitäten beteilige. Lenin gewann die Mehrheit der Stimmen – seine Fraktion wurde so zu den „Bolschewiki“ („Mehrheitler“) gegen Martows „Menschewiki“ („Minderheitler“).
1905
Zwei Jahre später, zu Beginn des Jahres 1905, brach die erste russische Revolution aus. Pater Gapon, ein orthodoxer Priester und wahrscheinlicher Polizeiagent, versuchte, den Zorn der Massen abzulenken und führte eine massive Arbeiterinnendemonstration zum Winterpalais des Zaren in St. Petersburg, um eine Petition mit einem Aufruf zu Reformen abzugeben. Die zaristische Polizei eröffnete das Feuer. Das löste eine massive Streikwelle im gesamten russischen Reich aus, die auch Polen und Finnland erfasste. Die Arbeiterinnen bildeten zum ersten Mal Sowjets („Räte“). Bis Ende des Jahres war Trotzki zum Präsidenten des St. Petersburger Sowjets gewählt worden.
Viele von Lenins Bolschewiki scheiterten zwar an dieser Prüfung, Lenin selbst jedoch nicht. Einer der führenden Bolschewiki in St. Petersburg, Alexandr Bogdanow, vertrat diejenigen, die konspirativ am Aufbau einer Untergrundpartei gearbeitet hatten, aber er erwies sich als unfähig, den Wechsel zur Massenarbeit zu vollziehen. Er murmelte, dass der Sowjet, der Hunderttausende von Arbeiterinnen repräsentierte, ein Manöver Trotzkis sei, und schlug vor, dass die Bolschewiki ihm ein Ultimatum stellen sollten – der Sowjet solle das bolschewistische Programm annehmen, oder sie würden sich aus ihm zurückziehen. Lenin verstand jedoch die Bedeutung des Sowjets. Er plädierte dafür, die Partei jetzt einer Masse junger Arbeiterinnen zu öffnen, um den konservativen Einfluss der ‚Komitee-Männer‘ zu überwinden.
Lenin zog die klare Schlussfolgerung, dass es kein Vertrauen in die liberale Bourgeoisie geben dürfe, welche sich um einen Kompromiss mit dem Zarismus bemühte, um eine verfassungsgebende Versammlung zuzulassen. Die Menschewiki halfen ihr dabei. Er argumentierte, dass die Arbeiterinnenklasse mit der armen Bäuerinnenschaft in einem revolutionären Block zusammenarbeiten sollte, um das Zarenreich zu stürzen und eine echte revolutionäre Demokratie zu errichten. Obwohl dies im bürgerlichen Rahmen bliebe, würde es der Arbeiterinnenklasse erlauben, das ganze Volk und insbesondere die Bäuerinnenschaft für „die volle Freiheit, für die konsequente demokratische Umwälzung, für die Republik! An der Spitze aller Werktätigen und Ausgebeuteten — für den Sozialismus!“ (LW 9, S.104) zu kämpfen. Trotzki ging noch weiter. Er argumentierte, dass die liberale Bourgeoisie in Russland, wie in anderen rückständigen Ländern, zu schwach und unfähig sei, ihre eigene Revolution durchzuführen, so wie es die französische und englische Bourgeoisie getan hatte. Die Arbeiter*innenklasse müsse dies für sie erledigen und weiter gehen, um die sozialistische Revolution durchzuführen.
In den Jahren der Reaktion, die auf 1905 folgten, kämpfte Lenin für den Fortbestand der Partei und gegen die ultralinken Strömungen, darunter Bogdanow, der dafür eintrat, dass Revolutionär*innen nicht an der parlamentarischen Arbeit teilnehmen sollten. Doch große Herausforderungen lagen voraus.
Der Verrat der Sozialdemokratie
Die Zweite Internationale hatte immer die Ansicht vertreten, dass die Arbeiter*innenklasse aller verschiedenen Länder gemeinsame Interessen hat. Es war ein massiver Schock, als 1914 die deutsche Sozialdemokratie – mit den ehrenwerten Ausnahmen von Karl Liebknecht und Otto Rühle – im Reichstag für die Finanzierung der Kriegsmaschinerie des deutschen Imperialismus stimmten. Als Lenin die Nachricht zum ersten Mal hörte, tat er sie als Lüge ab. Doch der Menschewismus, so scheint es, war nicht nur reformistisch, sondern seine Politik führte auch zum Verrat des Internationalismus. Es blieb 38 Delegierten aus 11 Ländern überlassen, in vier Wagen zur Zimmerwald-Konferenz 1915 zu reisen, um das Banner des internationalen Sozialismus hochzuhalten.
In Russland selbst war revolutionäre Organisierung aufgrund des Krieges und der Aktivitäten der zaristischen Polizei sehr schwierig. In den ersten Monaten des Krieges wurde die bolschewistische Partei auf eine Handvoll Mitglieder reduziert. Die gesamte weibliche Mitgliedschaft war verhaftet worden. Nach und nach wurden neue Kräfte aufgebaut, aber sie waren kaum bereit für den Ausbruch einer neuen Revolution. Als eine Delegation von Arbeiterinnen zu den Bolschewiki kam, um Unterstützung bei der Vorbereitung eines Streiks zum Frauentag 1917 zu erhalten, wurde ihnen gesagt, sie sollten auf eine Entscheidung des Zentralkomitees warten. Die Bolschewiki hatten keine Druckerpresse, um ein Flugblatt für den Streik herzustellen. Es war die kleine Gruppe der Meschrajonzy („Zwischengruppe“), eine Gruppe von revolutionären Antikriegs-Sozialdemokrat*innen, die sich später unter Trotzkis Einfluss mit den Bolschewiki zusammenschloss, die Flugblätter „gegen Krieg, hohe Preise und die Ungleichberechtigung der arbeitenden Frauen“ herausgaben.
Viele der bolschewistischen Führerinnen in Russland hatten die ideologischen Kämpfe, die vor allem unter den Sozialdemokratinnen im europäischen Exil stattgefunden hatten, abgelehnt und verstanden die Bedeutung der Unterschiede zwischen Bolschewiki und Menschewiki nicht. Selbst im April 1917 arbeiteten die Bolschewiki und Menschewiki in 54 der 68 russischen Regionen noch immer als eine Einheitspartei.
Die Wiederbewaffnung der Partei
Dennoch braute sich eine Revolution zusammen. Zu Beginn des Jahres 1917 wuchs die bolschewistische Partei – sie hatte in Petrograd inzwischen bis zu 2000 Mitglieder. Nach der Februarrevolution, kam die bürgerliche Provisorische Regierung an die Macht. Die lokale Führung der Bolschewiki, einschließlich Kamenev und Stalin, unterstützte die Provisorische Regierung. Als Lenin aus dem Exil zurückkehrte, stand er im April vor der Aufgabe, die Partei, wie Trotzki es nannte, „wiederzubewaffnen“.
Nikolai Suchanow war Menschewiki, der sich am Finnischen Bahnhof in St. Petersburg befand, als Lenin nach Russland zurückkam. Als politischer Gegner, aber ehrlicher Zeuge beschrieb er, was geschah. „Wenn sie über das enthusiastische Zusammentreffen mit Lenin auf dem finnischen Bahnhof schreiben, ist das keine Übertreibung. Die soldatischen und proletarischen Massen, die von den Bolschewiki zum Bahnhof gerufen wurden, waren voller Freude […] Die Ankunft des bolschewistischen Führers war gekennzeichnet durch seine haarsträubend anmutende Erklärung, dass ‚die Flammen der sozialistischen Weltrevolution bereits brennen‘ […] Die Besorgnis der Sozialisten, einschließlich der Bolschewiki, über die Rede des neu angekommenen Lenin war nicht schwer zu begreifen. Sie alle hatten Marx und Engels sowie die westlichen Sozialisten, studiert, und sie alle verstanden die Abfolge der zu unternehmenden Schritte auf die gleiche Weise […] Zuerst die bürgerlich-demokratische Revolution und erst dann, unter Nutzung der demokratischen Freiheiten und mit der Entwicklung des Kapitalismus und dem Entstehen einer Arbeiterklasse, ein Kampf für den Sozialismus… die russischen Sozialisten bereiteten sich nicht für den bewaffneten Kampf um die Macht vor, sondern für die zukünftigen parlamentarischen Debatten in der Verfassungsgebenden Versammlung. Lenin kehrte wie ein Wirbelwind nach Russland zurück, brachte ihre Pläne durcheinander und beschloss, mit den Vorbereitungen für die sozialistische Revolution zu beginnen, in deren Verlauf die Macht in die Hände des Proletariats und der armen Bauernschaft, an die Sowjets, übergehen sollte.“ [unsere Übersetzung, Anm.]
Daraufhin schrieb Lenin seine berühmten „April-Thesen“. Die „Prawda“ veröffentlichte sie erst, nachdem sie eine Reihe von Kommentaren darüber hinzugefügt hatte und klargestellt hatte, dass die Thesen die persönliche Meinung des Autors seien. Als er zwei Tage später vor dem bolschewistischen Zentralkomitee sprach, verlor er die Abstimmung. Sinowjew, Schljapnikow und Kamenjew waren alle gegen ihn. Letzterer erklärte: „Russland ist nicht bereit für eine sozialistische Revolution“. Dserschinski fuhr Lenin an und verlangte, im Namen „der Genossen zu sprechen, die die Revolution in der Praxis durchgemacht haben“. Lenin blieb jedoch standhaft – bis Ende April hatte er die Unterstützung der Partei gewonnen. Das war der Moment, sagt Suchanow, als „der politische Kalender Russlands sich beschleunigte und sich von Februar auf Oktober sprang“.
Lenin war zuversichtlich, dass die Arbeiterinnenklasse und vor allem die Jugend ihn unterstützen würden. Die bolschewistische Partei wuchs im Laufe des Jahres 1917 dramatisch an, als die Voraussetzungen für den Sieg der Revolution im November reiften. Es wurde immer klarer, dass es den Liberalen und gemäßigten Sozialistinnen nicht gelingen würde, den Krieg zu beenden, die nationale Unterdrückung zu beenden, die verfassungsgebende Versammlung einzuberufen oder auch nur irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, um das Los der Massen zu verbessern. Mit Ende des Jahres zählten die Bolschewiki fast 350.000 Mitglieder. Jedes fünfte Mitglied der Partei war unter 26 Jahre alt, die Hälfte unter 35.
Das Bündnis mit Trotzki
Als Trotzki wenige Wochen nach Lenin nach Russland zurückkehrte, wurden die beiden unzertrennlich und führten gemeinsam die Revolution an. Ihre früheren Differenzen über die Notwendigkeit einer straff organisierten revolutionären Partei und über den permanenten Charakter der Revolution (welche von ihren Feind*innen dramatisch übertrieben worden waren), wurden in der Praxis beigelegt: Trotzki war überzeugt, dass Lenin mit dem ersten Punkt Recht hatte, Lenin glaubte Trotzki mit dem zweiten Punkt im Recht. Beide verstanden voll und ganz, dass eine Revolution in Russland nur dann erfolgreich sein konnte, wenn sie Teil einer umfassenden Weltrevolution war.
Lenin zitierte gerne Faust: „Grau, Teurer Freund, ist alle Theorie und Grün des Lebens goldener Baum.“ Er nutzte dieses Zitat, als er erklärte, warum er seine frühere Position, die Forderung nach der „revolutionären demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“, geändert hatte. Er sagte: „Wer jetzt lediglich von „revolutionär-demokratischer Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ spricht, der ist hinter dem Leben zurückgeblieben, der ist damit faktisch zum Kleinbürgertum übergegangen, der ist gegen den proletarischen Klassenkampf, der gehört in ein Archiv für „bolschewistische“ vorrevolutionäre Raritäten (Archiv „alter Bolschewiki“ könnte man es nennen)“ (LW 24, S.27).
Tatsächlich sind es Fragen wie diese, die den wahren Charakter Lenins zeigen. Nicht all das, was von seinen Gegnerinnen dämonisiert oder von jenen vergöttert wird, die ihn gerne als allmächtig darstellen. Lenin hat Fehler gemacht oder in seinen Einschätzungen falsch gelegen. Aber wenn er das tat, konnte er seine Meinung ändern, meist nach heftigen Diskussionen mit seinen Genossinnen.
Es war diese Herangehensweise, nun in Verbindung mit seinem engen Bündnis mit Trotzki, die es der bolschewistischen Partei ermöglichte, die Unterstützung der arbeitenden Massen und der Soldat*innen, wie sie von den Sowjets vertreten wurden, zu gewinnen und die Revolution im November zum Sieg zu führen. Die neue sowjetische Regierung machte sich daran, Russland nach sozialistischen Gesichtspunkten umzugestalten.
Aber der Imperialismus sah das sozialistische Russland zu Recht als ein Signal für die Arbeiterinnen im Rest der Welt. Sie begannen einen brutalen Bürgerinnenkrieg – mindestens 14 imperialistische Armeen, darunter die britische, deutsche, US-amerikanische, japanische und französische, unterstützten die ehemaligen zaristischen und Weißgardistinnengruppen bei dem Versuch, die Revolution zu stürzen. Die heroischen Opfer, die die Arbeiterinnenklasse während des Krieges brachte, ließen sie erschöpft und ausgelaugt zurück. Das Stocken der Weltrevolution, insbesondere nach dem Verrat der deutschen Revolution durch die Sozialdemokratie, isolierte die rückständige Wirtschaft. Dies hatte Folgen: die Revolution degenerierte.
Lenins letztes Gefecht
Es gab zwei gescheiterte Mordanschläge auf Lenin. Der erfolgreichere war der zweite im Jahr 1918. Fanny Kaplan, eine linke Sozialrevolutionärin, traf ihn mit einer Kugel im Nacken. Dies war mitverantwortlich für die Schlaganfälle, die er später erlitt, bevor er 1924 starb. In dieser Zeit erkannte er, dass die reaktionären Kräfte innerhalb des neuen Sowjetstaates rund um das Triumvirat Sinowjew-Kamenjew-Stalin an Stärke zunahmen. Lenin beschrieb dies als „… in einen fauligen bürokratischen Sumpf gesogen zu werden“ [unsere Übersetzung, vgl. Louis Fischer: The life of Lenin, S.564] Um dem entgegenzuwirken, schlug er einen Pakt mit Trotzki zur Bekämpfung der sich ausbreitenden Bürokratie vor. Doch leider war der objektive Trend gegen sie. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts entwickelte sich eine bürokratische politische Konterrevolution, die in der schrecklichen stalinistischen Diktatur gipfelte. Der Stalinismus machte unter Beibehaltung des staatlichen Eigentums an den Produktionsmitteln viele der sozialen und demokratischen Errungenschaften der Revolution zunichte.
Lenins Vermächtnis
Abgesehen davon, dass Lenin mit Trotzki der Führer der russischen Revolution war, hat er uns ein großes theoretisches und praktisches Erbe hinterlassen. Er hat gezeigt, warum es notwendig ist, eine starke revolutionäre Organisation mit einem klaren Programm aufzubauen, die in der Lage ist, die Arbeiterinnenklasse im Kampf für den Sozialismus zu vereinen. Eine solche Partei, warnte er, würde nicht in allen Ländern auf die gleiche Weise aufgebaut werden. Revolutionärinnen, so argumentierte er, sollten „alle sonstigen Gebiete, Sphären und Seiten des öffentlichen Lebens ununterbrochen, unablässig, unentwegt ausnutzen und in allen diesen Bereichen auf neue, auf kommunistische Art“ (LW 31, S.85)
Seine Analyse des Staates als Instrument der Unterdrückung in der Klassengesellschaft ist heute von ungeheurer Relevanz. Kapitalistische Regierungen versuchen heute, uns während der Coronakrise einzureden, dass wir alle im gleichen Boot säßen, um die Arbeiter*innenklasse die Kosten der Krise tragen zu lassen. Lenins Herangehensweise an die nationale Frage auf der Grundlage der Anerkennung des Rechts der Nationen auf Selbstbestimmung ist auch heute noch revolutionär. Zahlreiche kapitalistische Regierungen verweigern national Unterdrückten dieses Recht, sei es in Kurdistan, Katalonien, Tibet oder in Nordafrika. Darüber hinaus gibt es die Erfahrung mit der Einheitsfront-Taktik der Bolschewiki, die es ihnen ermöglichte, durch die Sowjets eine mächtige, vereinte Bewegung aufzubauen, die in der Lage war, den Kapitalismus zu stürzen.
Vielleicht ist aber vor allem Lenins Herangehensweise an den revolutionären Marxismus hervorzuheben. Er betrachtete ihn nie als Dogma, sondern entwickelte ihn anhand von lebendigen Erfahrungen. Wie er selbst bemerkte: „Wer eine „reine“ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.“ (LW 22, S.364)