Wer als Europäer*in an die Corona-Pandemie in den neokolonialen Staaten Afrikas und Asiens denkt, geht oft davon aus, dass dort alles noch viel schlimmer sein müsste als in den industrialisierten Ländern. Und tatsächlich haben das Virus und die ökonomische und soziale Krise in einigen Ländern der neokolonialen Welt katastrophale Auswirkungen. Es gibt aber auch Gegenbeispiele und Länder, in denen die Situation in vielen Punkten an Europa erinnert.
Von Thies Wilkening, Hamburg
In Indien, aber auch einigen afrikanischen Staaten haben die Regierungen Ausgangssperren nach europäischem Vorbild verhängt, obwohl ein Großteil der Bevölkerung Tagelöhner*innen sind, die ihre Familien ohne tägliche Arbeit nicht ernähren können.
Bilder von Millionen indischer Wanderarbeiter*innen gingen durch die Medien, die zu Beginn der Ausgangssperre verzweifelt versuchten, sich zu Fuß von den Großstädten in ihre hunderte Kilometer entfernten Heimatdörfer durchzuschlagen. Sie hofften, dort von ihren Verwandten Obdach und Nahrung zu bekommen. In verschiedenen afrikanischen Ländern hat die Angst vor dem Verhungern zu Widerstand gegen die Ausgangssperren in Armenvierteln geführt, der von der Polizei niedergeschlagen wird.
Dennoch gibt es auch Aspekte, die darauf hindeuten, dass manche neokoloniale Länder die Pandemie ebenso gut oder besser überstehen könnten als die industrialisierten Länder. Dafür spricht neben dem deutlich geringeren Altersdurchschnitt der Bevölkerung und, bedingt durch für die Arbeiter*innen und Armen fehlenden Zugang zu Gesundheitsversorgung, weniger Menschen, die mit Vorerkrankungen leben auch die größere Erfahrung im Umgang mit Infektionskrankheiten und Epidemien.
Beispiel Côte d‘Ivoire
In Côte d‘Ivoire (Elfenbeinküste) gibt es bisher nur etwa 1100 getestete Corona-Fälle, 14 Menschen sind an Covid-19 gestorben. Auf Grundlage von Erfahrungen bei der erfolgreichen Bekämpfung der Ebola-Epidemie vor zwei Jahren wurden frühzeitig Maßnahmen ergriffen. Die Hauptstadt Abidjan wurde abgeriegelt, Restaurants, Bars und viele kleine Läden geschlossen, viele Fabriken und Baustellen stillgelegt. Eine generelle Ausgangssperre gibt es allerdings nur nachts.
Die Liefer- und Produktionsketten funktionieren noch, Im- und Exporte sind bisher nicht gesunken. Allerdings beginnen die Lebensmittelpreise zu steigen – der Preis für einen Sack Reis ist von umgerechnet 27,60 auf 30,66 Euro gestiegen, ein Kilo Rindfleisch kostet jetzt 4,60 statt 3,37 Euro.
Arbeiter*innen droht noch aus einem anderen, auch uns in Europa bekannten Grund verstärkte Armut – während ihre Einkommen sinken, müssen Mieten und Rechnungen weiter gezahlt werden. Der Stromversorger CIE, der einem Konzern mit Sitz in Frankreich gehört, stundet Stromrechnungen bis Juli, besteht aber darauf, dass sie dann voll gezahlt werden müssen. Das gleiche gilt für die Wasserversorgung – obwohl niemand weiß, ob die Situation sich bis Juli normalisieren wird.
Hausbesitzer*innen wurden von der Regierung aufgefordert, „Verständnis“ für zahlungsunfähige Mieter*innen zu zeigen, der Staat wendet jedoch keinen Zwang an. Auch zu normalen Zeiten gibt es keine staatliche Aufsicht über den Zustand von Wohnungen und das Geschäftsgebaren von Vermieter*innen.
Die staatlichen Krankenhäuser behandeln Covid-19-Erkrankte kostenlos, wurden aber jahrelang kaputt gespart. Die Regierung wollte private Kliniken fördern. Ärzt*innen und Pflegekräfte haben deshalb schon zweimal mit Streik gedroht. Viele gespendete Schutzmasken, Desinfektionsmittel und Nahrungsmittel kommen nicht in den Krankenhäusern an, weil sie unterschlagen und verkauft werden.
Die Durchführung der Maßnahmen durch den Staat „von oben“, durch bürokratisch erteilte Anweisungen ohne Einbeziehung bestehender Selbstverwaltungsstrukturen in den Stadtvierteln führt zu Problemen. Durch mangelnde Aufklärung glauben viele Menschen, dass es das Virus gar nicht gäbe oder dass nur Weiße daran sterben würden. Es wurden sogar neu errichtete Gesundheitszentren angegriffen, weil die Regierung dort angeblich Infizierte unterbringen wolle, um das Virus gezielt in bestimmten Stadtteilen zu verbreiten.
Die in Abidjan aktive Gruppe „Militant“ (ISA in Côte d‘Ivoire) fordert die staatliche Verteilung von Lebensmitteln an Arme, die durch die Krise ihr Einkommen verloren haben, kostenlose Energie- und Wasserversorgung, die Suspendierung aller Mieten sowie die Produktion und Verteilung von Schutzmasken durch den Staat.