Von der Song-Dynastie zum Maoismus
Der chinesische Staat funktioniert anders als die meisten Länder. Das Land scheint in der Lage zu sein, schneller und effektiver Infrastruktur aufzubauen oder auf Krisen zu reagieren. Die Vorstellung, China sei in irgendeiner Weise „sozialistisch“ oder „kommunistisch“ hat aber nichts mit der Realität zu tun. Das Land ist eindeutig kapitalistisch. Es gibt eine herrschende Klasse von Kapitalbesitzern, die ironischerweise in der „kommunistischen“ Partei organisiert ist sowie ein großes Proletariat. Der Profit ist das treibende Motiv von Produktion und Handel.Allerdings handelt es sich um einen Kapitalismus besonderer Prägung. Dies ist ein Produkt der chinesischen Geschichte, sowohl der vorkapitalistischen als auch der Periode unter Mao, in der eine von oben bürokratisch kontrollierte Planwirtschaft existierte. Die Wiederherstellung des Kapitalismus aus der Planwirtschaft heraus hat den Charakter Chinas entscheidend geprägt. In diesem zweiteiligen Artikel schildern wir die chinesische Geschichte im Schnelldurchgang.
von Ianka Pigors, Hamburg
Im 10. Jahrhundert entmachtete der erste Kaiser der Song-Dynastie die regionalen Militärführer, unterstellte das Heer der Zentralverwaltung und schuf einen Beamtenapparat, der ein Gegengewicht zum Erbadel bildete. Dieses System ermöglichte die Umsetzung staatlicher Infrastrukturmaßnahmen wie den Bau und Erhalt künstlicher Wasserstraßen und die Notversorgung der Bevölkerung während der periodisch auftretenden Dürren und Flutkatastrophen.
Mitte des 17. Jahrhunderts erreichte das chinesische Großreich durch Eroberungen seine bisher größte Ausdehnung. Diese Zeit überschnitt sich mit dem geopolitischen Aufstieg Europas in Folge der Kolonialisierung Lateinamerikas. Chinas Position Europa gegenüber war zunächst gut. Besonders die wachsende Nachfrage nach Tee bescherte Großbritannien bis 1820 ein Handelsbilanzdefizit von 20 Milionen Pfund jährlich. Bis 1842 durften die europäischen Mächte nur den Hafen von Kanton für den Handel nutzen. Das änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die industrielle Revolution nahm an Fahrt auf. Das europäische Kapital suchte nach Absatzmärkten und günstigen Rohstoffen. Chinas Handelspolitik verärgerte die Handelsgesellschaften.
Gleichzeitig brachen viele Probleme, die sich in China unter der Oberfläche zusammengebraut hatten, plötzlich nach außen: Die Kontrolle des riesigen Gebietes belastete die Staatskasse. Auch die Hungerbekämpfung wurde schwieriger, da die Bevölkerung zwischen 1650 und 1850 von 150 Mio auf 450 Millionen gewachsen war. Der Beamtenapparat wurde korrupter, die Großgrundbesitzer beuteten die Bauern aus. In zwei Kriegen (1839-1842 und 1856-1860) wurde China von den europäischen Staaten gezwungen, seinen Binnenmarkt zu öffnen. Danach verschlechterte sich die Lage der Bevölkerung weiter.
1851 brach unter Führung des christlichen Sektengründers Hong Xiuquan ein Bauernaufstand aus, der u.a. Landreform, Verbot von Privateigentum und Gleichberechtigung der Geschlechter forderte. Schnell schlossen sich demobilisierte Soldaten, verarmte Handwerker*innen und Frauen der Bewegung an. Die Aufständischen errichteten das „Reich des Großen Friedens“ (Taiping) und kontrollierten für einige Jahre große Teile Chinas bis 1864 kaiserliche Truppen mit Unterstützung Frankreichs und Englands das Taiping-Reich zerschlugen. Der Bürgerkrieg kostete 20-30 Millionen Menschen das Leben.
Koloniale Ausbeutung
In der Folgezeit wurde China quasi zu einer Kolonie. Die europäischen Staaten, Russland und Japan setzten ihre wirtschaftlichen und territorialen Interessen durch, was sich nach der Niederschlagung des nationalistischen „Boxeraufstandes“ 1900 noch verschärfte. Das Kaiserreich war nach mehr als 2000 Jahren am Ende. 1912 wurde die Republik ausgerufen. Nationalistische Kräfte, insbesondere die Kuomintang, stellten die Mehrheit in der Nationalversammlung, die jedoch schon bald wieder aufgelöst wurde. Das Reich zerfiel in verschiedene von Warlords geführte Teilgebiete.
Die erzwungene Integration der chinesischen Wirtschaft in den Weltmarkt hatte europäische und teilweise auch chinesische Unternehmer*innen auf den Plan gerufen, die Fabriken bauten, um von den billigen Arbeitskräften zu profitieren. In den neuen Industriezentren wie Shanghai, Hongkong, Guangzhou und Wuhan entstand eine städtische Arbeiter*innenklasse, die begann, sich zu organisieren. Diese Kolleg*innen, aber auch viele Studierende schauten hoffnungsvoll nach Russland, wo die sozialistische Revolution ihren Lauf nahm. 1921 wurde die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) gegründet. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre konnten kommunistische Kader und Gewerkschafter*innen sehr erfolgreich aufbauen und organisierten Streiks und Proteste.
Stalins schlechte Ratschläge
Ideologisch orientierten sie sich stark an der Komintern, die nach der russischen Revolution große Autorität besaß. Dieses Vertrauen sollte sich als tödlicher Fehler erweisen. Nach dem Tod Lenins 1924 hatte der Bürokrat Stalin die Kontrolle über die KPdSU übernommen, um die eigene Macht zu festigen und die Ideologie vom „Sozialismus in einem Land“. Die Stalinist*innen erklärten den chinesischen Genoss*innen, das unterentwickelte China müsse zunächst eine bürgerlich-kapitalistische Phase durchlaufen, bevor eine sozialistische Revolution möglich sei und drängte sie, mit der bürgerlich-nationalistischen Kuomintang zusammen zu arbeiten. Um die kapitalistischen Staaten nicht weiter herauszufordern, propagierte Stalin die „Etappen-Theorie“. Leider folgte die KPCh dieser Anweisung und begab sich in die „Volksfront“, das Bündnis mit der Kuomintang. Das war ein schrecklicher Fehler. Nach einem Generalstreik, der 1926 in Shanghai stattfand, ließ die Kuomintang ihre Maske fallen. Unter der Führung von Chiang Kai-shek und mit tatkräftiger Unterstützung der Gangster-Organisation „Grüne Bande“ begann sie am 12.4.1927 ein blutiges Massaker an Arbeiter*innen und Linken. Dem Angriff und der folgenden Phase des „weißen Terrors“ fielen mindesten 300.000 Menschen zum Opfer. Die organisierte Arbeiter*innenbewegung Chinas wurde praktisch ausgelöscht.
Maos Guerilla
Die überlebenden KPCh-Aktivist*innen zogen sich in entlegene ländliche Regionen zurück und verlegten sich auf einen Guerillakrieg, bei dem sie sich auf die verarmte Landbevölkerung stützten. Der Parteiführer, der letztlich unangefochten aus diese Zeit hervorging, war Mao Zedong. In einem Bürgerkrieg, der bis 1949 dauerte, konnte sich die KPCh schließlich gegen die Kuomintang durchsetzen. 1949 rief Mao die Volksrepublik China aus.
Die Arbeiter*innenklasse spielte in diesem Prozess kaum eine Rolle. Das von Mao errichtete System war von Beginn an eine auf Staatseigentum gestützte Parteibürokratie mit diktatorischen Zügen. Dementsprechend war die Planwirtschaft nie demokratisch und an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert, sondern von Beginn an bürokratisch-zentralistisch. Trotzdem konnte die Produktivität des Agrarsektors mit planwirtschaftlichen Mitteln bis 1958 kontinuierlich gesteigert werden. Die bei bürokratischer Planung ohne demokratische Kontrolle unvermeidlichen Fehlplanungen führten insbesondere in den Jahren des „Großen Sprungs vorwärts“ (1958-1962) zusammen mit Unwettern und Naturkatastrophen zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion und in der Folge zu furchtbaren Hungersnöten und Umweltzerstörungen mit mindestens 15 Millionen Toten. Die Katastrophe hätte mit den Mitteln einer demokratischen Planwirtschaft verhindert werden können. Erst 1966 wurde wieder so viel Getreide produziert wie vor Beginn der Krise.
Lagerkampf
Parallel zum kalten Krieg mit dem Westen entwickelte sich ein Machtkampf zwischen der UDSSR und China. Das stalinistische Russland hatte kein Interesse an einem „Konkurrenten im eigenen Lager“. Mao und seine Bürokrat*innen auf der anderen Seite misstrauten der russischen Parteibürokratie, die ihre außenpolitischen Interessen seit dem Shanghai-Massaker immer wieder über die Interessen ihrer chinesischen Nachbar*innen gestellt hatte. Mao kritisierte die Doktrin der „friedlichen Koexistenz“ mit dem Westen, die Stalins Nachfolger Chruschtschow propagierte und gewann damit die Herzen vieler Moskau-kritischer Linker, vor allem in der ex-kolonialen Welt.
In Teil 2, der im Juni erscheint, gehen wir auf die Kulturrevolution, den Übergang Chinas von einer bürokratischen Planwirtschaft zum Kapitalismus ein und darauf, was dieser Kapitalismus mit der westlichen Variante gemein hat und was ihn davon unterscheidet.