Locker für die Konzerne

Schulboykott NRW

Deutschland macht sich locker. Restaurants und Gaststätten öffnen, in Betriebe wird wieder dicht an dich gearbeitet, Busse und Bahnen sind voll, die Grenzen sollen für die Sommerferien öffnen. Die Bundesliga fängt an (“in Stadien, in die kein Fans reinkommt … für einen Bezahlsender, den fast keine Sau sieht”, Extra 3). Die NRW-Regierung ist an vorderster Front, aber alle Bundesländer machen mit beim Lockerungs-Wettlauf.

von Claus Ludwig, Köln

Es ist verständlich, dass viele erleichtert sind. Eltern mit der Doppelbelastung von Homeschooling und Homeoffice, die sich um die Entwicklung ihrer Kinder sorgen. Beschäftigte in der Gastronomie und Tourismus, die um ihre Jobs bangen. Solo-Selbstständige und Kulturschaffende, die völlig in der Luft hängen. Doch dies waren nicht die Gründe für das Handeln der etablierten Politiker*innen. Die Öffnung erfolgt auf Drängen und im Interesse des Kapitals. Sie ist betrieben worden von Beratungsgremien wie in NRW, in denen Gewerkschafter*innen, Elternvertretungen und Umweltverbände komplett fehlen und Unternehmer*innen den Ton angeben. Sie ist per Kampagne vorbereitet worden von BILD und anderen bürgerlichen Zeitungen.

Die Öffnung kommt aus Sicht der Virus-Bekämpfung möglicherweise zu schnell. Wenn es schief geht und die zweite Welle dadurch größer und heftiger wird, liefert man die Schuldigen gleich mit: Die Bürger*innen, die mit ihren neu gewonnenen Freiheiten angeblich nicht umgehen können, die sich zu oft mit zu vielen treffen. Man hat ja gewarnt: Passt schön auf, Maske und so, Distanz, klar auch in den Grundschulen, haben wir doch gesagt.

Nicht die Politik soll Schuld sein, nicht die Unternehmen, welche ihre Arbeitskräfte anfordern und damit den öffentlichen Personennahverkehr füllen, nicht die Pressekampagne, nein die Schuld wird auf diejenigen abgewälzt werden, die Schlange stehen oder sich im Park treffen. Die etablierten Parteien rufen tagaus, tagein “Macht euch locker” und wenn sich die Leute locker machen, wird es zum Problem. Bürgerliche Politiker*innen und Medien regen sich über die Demonstrationen auf, auf denen verunsicherte Bürger*innen, Anhänger von Verschwörungstheorien und Rechtsextreme zusammenkommen. Doch diese Geister haben sie mit ihrem Anheizen der Ungeduld selbst gerufen.

Diejenigen, die jetzt auf die Straße gehen und behaupten, sie würden das Grundgesetz gegen die Regierenden verteidigen, sind in Wahrheit die Begleitband der vom Kapital orchestrierten Schnell-Öffnung und helfen dem Geschäft derjenigen Konzerne, denen sie angeblich so kritisch gegenüberstehen. Gleichzeitig bieten sie der Regierenden eine Möglichkeit, Sündenböcke zu produzieren und von der eigenen Verantwortung für die möglicherweise zu früh erfolgen Lockerungen abzulenken.

Demokratische Debatte

Einzelne Schritte waren durchaus richtig. Die Kinder brauchen Bewegung und Sport, sie brauchen ihre Freund*innen, die Eltern brauchen Entlastung. Es war richtig, die Spielplätze und die Sport-Außenanlagen in Betrieb zu nehmen.

Die chaotische Schulöffnung war idiotisch. Der Zweck war nicht, die Eltern zu entlasten. Stattdessen sollten Prüfungen wie das Abitur, also das Sortieren und Bewerten, durchgezogen werden. Die Schulöffnung war von oben per Kommando verfügt. Stattdessen wäre es nötig, die Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen einzubeziehen in die Diskussion, wie und wann die Schulen geöffnet werden können und gleichzeitig die Fernlehre verbessert werden kann. Bei der Umsetzung vor Ort haben sich viele Lehrer*innen und Schulleitungen so reingehängt, dass zum Teil tragfähige Lösungen entstanden sind. Das ist jedoch nicht das Verdienst der Bildungsministerien, vor allem nicht in NRW.

Berechtigt sind auch die Sorgen der Lohnabhängigen und kleinen Selbstständigen in den von der Schließung stark betroffenen Bereichen. Doch mit den jetzigen Öffnungen ist ihnen nur begrenzt geholfen. Ob sich der Betrieb von Gaststätten unter diesen Umständen lohnt, ist völlig offen. Wenn es zu einer zweiten Welle käme und ein erneuter Shutdown verhängt würde, wäre das verheerend für viele. Im Vergleich dazu wäre eine vorsichtigere Lockerung jetzt das kleinere Übel.

Für die abhängig Beschäftigten müsste die Lohnfortzahlung zu 100% garantiert werden, ob sie wegen der Kinderbetreuung nicht arbeiten können, wegen Stillegung des Betriebs oder wegen gesundheitlicher Risiken. Kleine Selbstständige brauchen unbürokratische Hilfen vom Staat zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes und laufender geschäftlicher Kosten. Dafür müssten die Hilfen an die Konzerne gestrichen werden, die trotz Corona Dividenden an ihre Aktionäre auszahlen wollen oder in den letzten Jahren hohe Profite eingefahren haben.

Systemwurst

Der ganze Zynismus der Herrschenden zeigt sich am Umgang mit den osteuropäischen Arbeiter*innen in der Fleischindustrie und Landwirtschaft. Ihre soziale Not in den Heimatländern wurde genutzt, um sie trotz der allgemein gültigen Reisebeschränkungen nach Deutschland zu holen.

Sie arbeiten, so Wurst-Boss Tönnies stolz, in 16-Stunden-Sonderschichten am Wochenende. Meistens ungeschützt, viel zu eng nebeneinander. Sie schlafen in Mehrbettzimmern, laut dem Journalisten Werner Rügemer acht Arbeiter auf 30 Quadratmeter. Sie werden in Kleinbussen eng gedrängt zur Arbeit gefahren. Hunderte haben sich infiziert. Trotzdem werden die Fleischfabriken nicht geschlossen. Die Schweine-Lobbyisten haben sich erdreistet, ihre Läden für “systemrelevant” zu erklären. Und die Politiker*innen nicken folgsam. Auch bei der Spargelernte haben sich osteuropäische Arbeiter*innen infiziert, es gab Todesfälle.

Werner Rügemer schreibt:

“Die Unternehmenschefs und die Behörden haben möglichst lange das Testen vermieden, selbst wenn Beschäftigte typische Corona-Krankheiten zeigten. Die Polizei, die in der städtischen Öffentlichkeit mit hoher Präzision das Abstandsgebot in Parks, Straßen und Geschäften kontrolliert und Bußgelder verhängt – sie kam in keinem Schlachtbetrieb vorbei.”

Die zweite Welle

Ob es zu einer zweiten Welle kommt, können wir nicht abschließend beurteilen. Aber für jede*n sind einige Fakten sichtbar:

  1. Die Regierung hat zunächst den Virus verharmlost und wertvolle Zeit verstreichen lassen, die zu einer Isolierung der einzelnen Infektionsherde hätte führen können.
  2. Trotz dieser Verspätung und vieler Widersprüche hatte das Herunterfahren ab Mitte März eine massive Wirkung: Die Ausbreitung des Virus wurde verlangsamt, eine Überfüllung der Intensivstationen verhindert, viele Tausend Menschenleben wurden gerettet. Das zeigt der Vergleich mit Großbritannien, wo deutlich mehr Zeit verschwendet wurde. Die Hauptschwäche der deutschen Lockdown-Variante war, dass ein großer Teil der Industriebetriebe weiterarbeitete und so auf weitere Möglichkeiten der Distanz verzichtet wurde.
  3. Eine noch stärkere Eindämmung könnte dazu führen, dass die einzelnen Infektionsherde erkannt und isoliert werden könnten, v.a., wenn massenhaft getestet würde, endlich auch in Kliniken und Pflegeheimen. Dann könnte Deutschland in eine Situation wie in Südkorea oder Taiwan kommen, wo jeweils zeitlich und räumlich begrenzte Maßnahmen ergriffen wurden, ohne das Leben der Masse der Menschen einzuschränken.
  4. Alle hoffen, dass es gut geht. Aber die schnelle, von Profitinteressen diktierte Lockerung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer zweiten Welle kommt, die dann voraussichtlich nicht auf wenige Herde wie im Februar/März beschränkt wäre, sondern sich stärker gleichmäßig in der Fläche ausbreiten könnte.
Wer hält den Laden am Laufen? 

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wer “systemrelevant ist”. Bankchefs, Broker und Berater sind es nicht, Pfleger*innen, Verkäufer*innen, Industriearbeiter*innen und Beschäftigte im Transportwesen schon. Die Krise hat auch gezeigt, welche gesellschaftlichen Klassen in der Lage sind, verantwortlich zu handeln, welche Klassen die Gesellschaft gestalten sollten.

Die Kapitalist*innen haben weltweit versagt. Die von ihnen veranlasste profitable Zurichtung des Gesundheitswesens und die Ignoranz gegenüber der sich entwickelnden Pandemie haben uns diese Situation eingebrockt. Jetzt können sie nicht abwarten, uns arbeiten zu lassen, damit sie Geld verdienen.

Es ist kein Zufall, dass neben den Rechtsextremen auch die Marktradikalen von der FDP so vehement die Gefahren leugnen. “Wer Angst hat, soll zuhaus bleiben”, so FDP-Vize Kubicki. Ihre Beschwörung des Individuums schlägt in der Krise in mörderische Asozialität um. Wer ökonomisch nicht verwertet werden kann, den schätzt die FDP nicht. Aber auch CDU und SPD machen sich locker für die Konzerne, die rechtsliberale Speerspitze der Grünen um Boris Palmer sowieso.

In dieser Krise zeigt sich, dass es die Arbeiter*innenklasse ist, die als einzige Klasse umfassende soziale Verantwortung übernehmen kann. Die “einfachen” Leute kämpfen für ihre eigenen Interessen, sind dabei solidarisch miteinander, verstehen, welche Beschränkungen nötig sind, sind entschlossen, selber unangenehme Situationen auszuhalten, aus Solidarität mit den Menschen, die durch Corona besonders gefährdet sind.

Natürlich sind die Kolleg*innen im Gesundheitswesen, die das hautnah erleben, ganz vorne dabei. Es gibt Beschäftigte in den Kliniken, die private soziale Kontakte freiwillig komplett heruntergefahren haben, um andere Menschen zu schützen – obwohl sie den sozialen Ausgleich für ihre harte Arbeit dringend brauchen können. Aber auch Lohnabhängige in anderen Bereichen, auch Kolleg*innen, die selber Kurzarbeit oder Jobverlust fürchten müssen, nehmen eine verantwortliche Haltung ein. Nicht die formale Bildung befähigt Menschen zu tieferen Erkenntnissen, sondern ihre soziale Lage. Asozial sind nicht die Armen, sondern die politischen Vertreter*innen des Kapitals bzw. seiner verschiedenen Schichten und Fraktionen, von der gemäßigten Variante in der SPD über die Marktverrückten von der FDP bis zur rechtsextremen AfD.

Angesichts der Möglichkeit einer zweiten Welle ist es nötig, den Kampf gegen den Virus zu demokratisieren und die Entscheidungen über Schließungen und andere Maßnahmen, über die Produktion von Schutzmaterial, Impfstoffen und die Sicherheit am Arbeitsplatz nicht der abgehobenen politischen Elite zu überlassen, sondern durch die betroffenen Belegschaften und Gemeinschaften zu kontrollieren und zu organisieren.

Weltweit waren es die organisierten Arbeiter*innen, die schnelle Maßnahmen forderten, die, wie in Italien und Spanien, die Schließung ihrer Betriebe mit Streiks durchgesetzt haben. In Irland haben Schüler*innen und Lehrer*innen die übereilte Öffnung der Schulen und die Examen verhindert. Busfahrer*innen in Belgien, Schweden und England haben mit Streiks Sicherheitsmaßnahmen durchgesetzt.

Die globale Klasse der arbeitenden Menschen hat in dieser Krise angedeutet, dass sie das Potenzial hat, eine neue Gesellschaft zu organisieren und die korrupte, untaugliche und parasitäre herrschende Klasse abzulösen – eine neue Gesellschaft auf der Grundlage umfassender Demokratie, in der die lohnabhängig Beschäftigten, welche den Reichtum produzieren, auch über Produktion und die Verteilung desselben gemeinsam entscheiden.