Teil 2: Von der Kulturrevolution zur kapitalistischen Weltmacht
(Hier gehts zum ersten Teil: Besonderheiten der chinesischen Entwicklung, Teil 1)
Das maoistische China ging ab Ende der 1950er einen eigenen Entwicklungsweg, in Abgrenzung von der Sowjetunion. China war trotz großer wirtschaftlicher Fortschritte noch immer ein rückständiger Agrarstaat, das Bildungsniveau war niedrig. Mao setzte, auch weil es an ausgebildetem Personal mangelte, in vielen Bereichen auf dezentrale Verwaltung der Provinzen und strebte nicht nur national, sondern auch regional nach Autarkie.
von Ianka Pigors, Hamburg und Doreen Ullrich, Aachen
Die wirtschaftlichen Rückschläge des „Großen Sprung vorwärts“ 1958-1962 hatten Maos Position in der Partei geschwächt. Seine politischen Konkurrenten glaubten an ökonomischen Aufschwung durch die Zulassung kapitalistischer Wirtschaftsformen und drängten Maos Einfluss zurück. 1966 zog er die Notbremse. In der sogenannten „Kulturrevolution“ versuchte er, seine Position in der Staatsführung zurückzugewinnen, indem er die Bevölkerung, insbesondere die Jugend, zum Kampf gegen das „Establishment“ aufrief.
Nach 17 Jahren autoritärer Bürokratenherrschaft hatte sich eine Menge berechtigter Wut angestaut, die sich auf Maos Stichwort hin entlud. Leider war die „Kulturrevolution“ keine politische Revolution der Arbeiter*innenklasse gegen die parasitäre Bürokratie, sondern ein unübersichtlicher Aufstand aus verschiedenen Elementen: Zornigen Jugendlichen, aber auch Opportunist*innen, die auf Aufstieg hofften und Leuten, die alte Rechnungen begleichen wollten. Die Industriearbeiter*innen, deren Zahl in den urbanen Zentren inzwischen erheblich angewachsen war, verhielten sich der oft destruktiven und exzessiv gewalttätigen Bewegung gegenüber eher skeptisch, zumal die rebellierende Jugendlichen 1967 bei einem Generalstreik in Shanghai als Streikbrecher eingesetzt wurden.
Das Ausmaß der Revolte ging Mao und seiner Fraktion bald zu weit. Sie ergriffen Gegenmaßnahmen. 1968 wurde die Jugendorganisation der „Roten Garden“, die unabhängig von der Partei entstanden war, aufgelöst. Zehn Millionen Mittelschüler*innen wurden aus den Städten in abgelegene Provinzen verbannt. Die Kulturrevolution war zu Ende. Mao gelang es, seine Stellung in der Partei zu festigen – gegen die rechten Reformer, die mehr Markt wollten und gegen die Kritik von links.
Dengs Weg zum Kapitalismus
Dieser Sieg währte nicht länger als Maos Leben. Nach seinem Tod 1976 kehrten die sogenannten „Reformer“ an die Macht zurück. 1978 übernahm Deng Xiaoping die Macht. Er machte die Kollektivierung der Landwirtschaft rückgängig, indem er die Volkskommunen in private Parzellen aufteilte. Lokale Parteibürokraten wurden für Gewinne und Verluste der verstaatlichten Betriebe verantwortlich gemacht und es wurden Sonderwirtschaftszonen errichtet, in denen ausländische Direktinvestitionen zugelassen wurden. Das System wurde nach und nach auf das ganze Land ausgeweitet. Gleichzeitig wurden bestimmte Wirtschaftsbereiche gezielt für die kapitalistische Konkurrenz auf dem Weltmarkt fit gemacht. 1990 wurde die Börse in Shanghai wiedereröffnet. Bei all dem achtete Deng sorgfältig darauf, dass die Parteibürokratie die Kontrolle über den Prozess behielt.
Im heutigen China sind Wirtschaft und Staat deshalb ungewöhnlich eng verflochten. Als „Unternehmen im Staatsbesitz“, sogenannte SOEs (State Owned Enterprises), bezeichnet man Unternehmen, die zu mehr als 50 % staatlich sind.
In den westlichen Industriestaaten sind solche Unternehmen überwiegend im Bereich der Daseinsvorsorge und der Logistik tätig oder es handelt sich um Banken und Versicherungen. Diese Unternehmen sind dort selten echte „Global Player“. In sogenannten „Schwellenländern“ ist das anders. Nirgendwo ist dieser Trend jedoch so ausgeprägt wie in China. Zwei Drittel der chinesischen Konzerne auf der Liste der weltweit umsatzstärksten Unternehmen sind SOEs, nicht nur Öl- Transport- und Rüstungskonzerne, sondern z.B. auch Chemie- und Lebensmittelproduzenten, Handelsfirmen und Mischkonzerne.
70 bis 100 Großkonzerne, denen nationale Bedeutung beigemessen wird, unterstehen als „Zentralverwaltete Unternehmen“ einer Kommission der Staatsrates, der sogenannten „State Asset Supervision and Administration Commission“ (SASAC) oder sind dem Finanzministerium unterstellt. Zentralverwaltete Unternehmen werden auf Grundlage politischer Entscheidung der nationalen Führungsgremien in staatliche Dienstleister und gewerbliche Konzerne untergliedert. Die letzte Gruppe wird nach denselben Kriterien nochmals in einen strategisch wichtigen und einen vollständig dem privaten Wettbewerb unterworfenen Sektor unterteilt.
Dadurch kann die Zentralregierung Wirtschaftsbereiche, die sie aus politischen bzw. wirtschaftsstrategischen Erwägungen fördern und kontrollieren möchte, ganz oder teilweise vor kapitalistischer Konkurrenz abschirmen und gezielt mit staatlichem Kapital versorgen, ohne das Profit- und Konkurrenzsystem in Frage zu stellen.
Kapitalismus mit staatlicher Steuerung
Daneben gibt es Tausende ehemalige „Stadt- und Dorfunternehmen“, die rechtlich den Lokalverwaltungen oder -regierungen unterstellt sind. Diese sind inzwischen oft auch international aktiv. Ihre Eigentumsstrukturen sind vielfältig. An ihnen sind kollektive, staatliche und private Investoren beteiligt, häufig die eigenen Manager*innen oder lokale Parteigrößen. Dadurch gibt es eine große Verflechtung mit der Lokalpolitik. Dies begünstigt Konkurrenz und Spannungen zwischen verschiedenen Regionen, die Herausbildung eines Flickenteppichs von lokalen Verordnungen und Regelungen, aber auch Konflikte mit der Zentralregierung.
Neben den SOEs gibt es nicht-staatliche Unternehmen, die einer erheblichen Kontrolle durch die Partei unterliegen. Ein Beispiel ist der Telekommunikationsgigant Huawei. Der Konzern wurde 1987 von Ren Zhengfei mit einem Startkapital von mageren 5000 Dollar gegründet. Ren hält heute angeblich 1 % der Firmenanteile, der Rest des Konzerns gehört nach Auskunft von Huawei „den Mitarbeiter*innen“. Diese dürfen die Anteile allerdings nicht verkaufen und vertreten sich in der Eigentümer*innenversamlung auch weder direkt noch über gewählte Vertreter*innen selbst. Ihr Stimmrecht wird durch eine staatliche „Gewerkschaft“, also faktisch durch Repräsentant*innen der KPCh wahrgenommen, so dass davon auszugehen ist, dass die politischen Interessen der Bürokratie nicht zu kurz kommen.
Bürokratie und Konzernbosse sind personell eng verflochten. Wer in China was werden will muss in die sogenannte Kommunistische Partei eintreten. Jack Ma, Gründer von Alibaba und reichster Chinese, ist natürlich KP-Mitglied, genau wie seine größten Konkurrenten, Baidu-Gründer Robin Li und Tencent-Gründer Pony Ma. In vielen der alten Industrie- und Finanzkonzerne sitzen wichtige KPCh-Mitglieder, so beim größten chinesischen Unternehmen Sinoprec, einem Öl- und Gaskonzern, ebenso wie im Versicherungskonzern Ping An Insurance. Die Partei lenkt die Wirtschaft, die Wirtschaft lenkt die Partei.
Parteibürokrat*innen, ihre Kinder und Verwandten übernehmen Positionen in den staatlichen und privaten Unternehmen und kommen so zu Reichtum und Einfluss. 2007 waren 2932 von 3220 Chines*innen mit einem Vermögen von mehr als 13 Mio US-Dollar Kinder hochrangiger Parteifunktionäre (Quelle: „Have China Scholars All Been Bought?“, Carsten A. Holz, April 2007).
Die Hauptinstrumente des chinesischen Staates sind inzwischen nicht mehr direkte Eingriffe in die Unternehmen, sondern „makroökonomische Maßnahmen“: Genehmigungsverfahren, Verwaltungsvorschriften, Steuern, Haushalt, Zinsen, Investitionen. Der heutige Umgang mit dem staatlichen Sektor hat wenig gemeinsam mit der bürokratischen Planwirtschaft der Mao-Zeit. Er ähnelt eher der massiven staatlichen Intervention, mit denen die kapitalistischen Staaten Südkorea, Taiwan und Singapur aufgebaut wurden. Der Vorbild beim Aufbau der Konzerne waren Koreas „chaebols“, die riesigen Mischkonzerne wie Samsung oder Hyundai.
In China lag die wirtschaftliche Macht zunächst in den Händen der Bäuer*innen und Arbeiter*innen, der Kapitalismus wurde unter Mao abgeschafft. Im Laufe der kapitalistischen Rekonstruktion unter Deng bediente sich die erstarkende kapitalistische Klasse in China mehr und mehr der KPCh als ihrer Interessenvertretung. Mit Freihandelszonen und dem Aufbau riesiger Fabriken wurde China erst die Werkbank der Welt und macht sich jetzt daran, die USA als stärkste Ökonomie abzulösen. Dabei nimmt China Großprojekte wie die „Neue Seidenstraße“ in Angriff – neue Handelswege zwischen Asien, Afrika und Europa. Es hat eine eigene Entwicklungsstrategie für Afrika und tauscht Rohstoffe wie seltene Erden gegen billige Waren und günstige Kredite.
Auf dem Weg zur Spitze
Die spezifische Form des chinesischen Kapitalismus hat den Aufstieg der letzten Jahrzehnte ermöglicht. Das hohe Ausmaß an staatlicher Lenkung und staatlichen Investitionen haben Infrastrukturprojekte möglich gemacht, die in anderen Ländern undenkbar wären. Während Länder wie Brasilien, Russland oder Saudi-Arabien überwiegend auf ihre Energieexporte setzen und Indiens Ökonomie auf dem unvollständigen Niveau eines vom Imperialismus dominierten Landes verbleibt, hat China Dutzende Industriekonzerne hervor gebracht, die zu Weltmarktführern geworden sind. Die von der Planwirtschaft geborgten Methoden der Steuerung des Kapitalismus haben das vormals rückständige China in die Lage versetzt, zu den entwickelten Ländern aufzuholen.
Soziale Ungleichheit
Der Preis für diese Entwicklung ist hoch. Bezahlt haben ihn die chinesischen Arbeiter*innen. Die soziale Ungleichheit ist enorm. Die reichsten 1 % der Haushalte besitzen ein Drittel des Gesamtvermögens, genauso viel, wie die ärmsten 25 %. Sowohl die zentral verwalteten als auch die ehemaligen Stadt- und Dorfunternehmen funktionieren gemäß der kapitalistischen Profitlogik. Wie Privatunternehmen haben deshalb auch die SOEs ein Interesse an möglichst billigen Arbeitskräften.
Das chinesische Sozialversicherungssystem für die Stadtbevölkerung ist nach westeuropäischen Maßstäben unterentwickelt. Die Zuzahlungen für die Krankenbehandlung sind hoch, die Zahlungen bei Arbeitslosigkeit und Renteneintritt decken die Lebenshaltungskosten in der Regel nicht ab. Die Landbevölkerung einschließlich der rund 277 Mio Wanderarbeiter*innen ist noch schlechter abgesichert. Unabhängige Gewerkschaften sind verboten, Aktivist*innen werden staatlich verfolgt. Auch in den übrigen kapitalistischen Systemen dienen Armee und Polizei letztendlich den Interessen der Unternehmer*innen, in China sind Staat und Kapital jedoch an vielen Stellen deckungsgleich. Das vereinfacht die Unterdrückung von Arbeitskämpfen und die Aufrechterhaltung eines für die Kapitalist*innen profitablen Regimes.
Auch China kann den kapitalistischen Widersprüchen und daraus resultierenden Krisen nicht entgehen. Die laufende weltweite Rezession wird Chinas exportabhängige Wirtschaft hart treffen, unabhängig davon, ob das Land Corona früh überwindet oder nicht. Der absehbare Einbruch der Exporte wird Millionen Jobs kosten und den Lebensstandard einer Bevölkerung drücken, die trotz aller Probleme nur den Anstieg desselben kennt. Das bis heute so stabile chinesische Regime kann schnell vor gewaltigen sozialen Verwerfungen und daraus resultierenden Klassenkämpfen stehen. Wenn das System in eine Krise gerät, wird der spezifische chinesische Kapitalismus die gleichen Probleme bekommen wie andere Länder auch.