Beengte Wohnverhältnisse, Arbeitsplätze und Kirchen als Superspreader
Ende Juni bestimmen einige Schlagzeilen die Berichterstattung über Corona: Die gestiegene Reproduktionszahl (R), der Ausbruch im Fleischereibetrieb Tönnies und die lokalen Ausbrüche in Häuserblocks in Göttingen und Berlin.
Von Viktor, Berlin
Im Lagebericht schreibt das Robert-Koch-Institut: „In verschiedenen Bundesländern gibt es COVID-19-Ausbrüche (u.a. in Einrichtungen für Asylbewerber und Geflüchtete, in fleischverarbeitenden und Logistikbetrieben, unter Erntehelfern sowie in Zusammenhang mit religiösen Veranstaltungen und Familienfeiern).“
Eine klare Zuordnung von Fallzahlen zu Infektionsclustern – wie sie bspw. in Südkorea seit Anfang der Pandemie erfolgreich praktiziert wird – bleibt das RKI weiterhin schuldig. Diese fehlende Datenerhebung führt zu einer Unsicherheit bei der Beurteilung von Lockerungsmaßnahmen in der öffentlichen Diskussion. Mangels konkreter Zahlen kann nur darüber spekuliert werden, welchen Beitrag einzelne Lockerungsmaßnahmen zu den steigenden Fallzahlen haben. Der wahrscheinlich bestehende Zusammenhang zu den sozialen Verhältnissen wird verschleiert.
Eine Klarheit diesbezüglich wäre allerdings angesichts verschiedener Sachverhalte bitter nötig – noch immer ist zum Beispiel unklar, welchen Beitrag Kinder an der Verbreitung des SARS2-Coronavirus haben. Über die mögliche Verbreitung bei Großveranstaltungen wie Demonstrationen oder inwiefern die Missachtung von Regeln des Social Distancings durch Privatpersonen zu einem erneuten Ansteigen der Infektionszahlen führen kann, wird nur spekuliert.
Für eine Gesellschaft muss es klar sein, aus welchen Gründen an welchen Stellen Einschränkungen hinzunehmen sind – ein mehrjähriges gesamtgesellschaftliches Stop and Go, wie es von Bundesgesundheitsminister Spahn ins Auge gefasst wird, ist weder der Situation angemessen noch erscheint es realistisch durchsetzbar. Eine Diskussion über die Öffnung von Schulen und KiTas anhand von Labordaten ist wenig zielführend, wenn bei der Öffnung nicht gleichzeitig exakte Daten erhoben werden.
Viele bekannte Großausbrüche sprechen dafür, dass bei einer guten Erfassung von Infektionsclustern nicht primär das Fehlverhalten von Einzelnen in den Fokus gerät, sondern die soziale Situation und systematische Ignoranz durch zumindest einige Unternehmer*innen, Politiker*innen oder auch religiöse Führer*innen. Wenn wir uns den Ursprung der ersten Welle in Europa anschauen, kommen wir nicht umhin, dem Skigebiet Ischgl Beachtung zu schenken – nach Untersuchungen der norwegischen Behörden konnten rund die Hälfte der ersten Fälle in Norwegen mit einem Aufenthalt in Ischgl in Verbindung gebracht werden, auch in anderen europäischen Ländern können ähnliche Verhältnisse beobachtet oder angenommen werden.
Soziale Situation und Corona
Die aktuellen Ausbrüche in Deutschland stehen mit der sozialen Lage der Betroffenen in Verbindung. Die unter Quarantäne gestellten Hochhaussiedlungen in Göttingen gehören zu den ärmsten Teilen der Stadt, die Verbreitung des SARS2-Coronavirus beschränkt sich nicht auf einzelne Familien, sondern auf die gesamten Hochhäuser. Eine massenhafte Infektion, zum Beispiel durch gemeinsam genutzte enge Fahrstühle, erscheint unter diesen Bedingungen als wahrscheinliches Szenario.
Auch Berlin-Neukölln gilt – trotz Gentrifizierung – als sozialer Brennpunkt. Einzelheiten zum Ausbruchsgeschehen in der Harzer Straße sind aber nicht bekannt. Unklar ist, ob das Ausbruchsgeschehen mit der sozialen Situation der Altmieter*innen (es gibt offenbar einzelne Familien, die auf engen Raum zusammenwohnen) zu tun hat oder möglicherweise mit Gottesdiensten einer christlichen Freikirche, die nach Berichten von Bewohner*innen ausgiebig besucht wurden.
Der größte Ausbruch Ende Juni läuft beim Fleischverarbeiter Tönnies. Hier wird deutlich, dass sowohl die beengten Arbeitsverhältnisse, möglicherweise im Zusammenspiel mit der in der fleischverarbeitenden Industrie nötigen Kühlung, als auch die beengten Wohnverhältnisse der häufig migrantischen Arbeiter*innen die starke Ausbreitung des Virus ermöglichten und dadurch zur Wiedereinführung strengerer Kontaktbeschränkungen für 360.000 Menschen führten.
Keine räumliche Trennung
Sowohl in Göttingen als auch in Berlin-Neukölln und auch bei Tönnies werden nachweislich Infizierte (und infektiöse) Menschen nicht strikt räumlich von Nicht-Infizierten getrennt. Das erinnert sehr stark an den Anfang des Jahres in die Schlagzeilen geratenen Ausbruch auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess,bei dem sich im Laufe der verhängten Quarantäne 712 Menschen mit SARS 2 Coronavirus infizierten und 14 verstarben. In Göttingen hat diese Situation zu Protesten der Bewohner*innen geführt, gegen die die Polizei gewaltsam vorgegangen ist.
Südkorea gehört zu den Ländern mit der besten Erfassung und Nachverfolgung von Infektionsketten weltweit. Hier können beinahe die Hälfte der registrierten Covid-19 Fälle auf kirchliche Infektionscluster zurückverfolgt werden können – wobei insbesondere das Cluster um die Shincheonenji-Kirche mit über 5000 Fällen heraussticht. Weiteregrößere Cluster sind in Krankenhäusern, Altenpflege und teilweise an Arbeitsplätzen und in sozialen Begegnungsstätten zu finden. Eine solch klare Erfassung wird vom deutschen RKI nicht praktiziert, so dass der Beitrag von religiösen Versammlungen zum Infektionsgeschehen unklar zu beziffern ist. Eindeutig Kirchen zuzuordnende Fälle gibt es aber auch in Deutschland und es ist besorgniserregend, dass in 20 von 58 befragten Gemeinden das Singen weiterhin erlaubt ist: Es kann als wissenschaftlich gesichert angesehen werden, dass beim Singen die Gefahr einer über Aerosole getragenen Infektion groß ist.
In der Medizin wird zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention unterschieden. Das Abstandsgebot ist klar der Verhaltensprävention zuzuordnen. Allen Menschen die Möglichkeit zu geben, das Abstandsgebot auch an der Arbeitsstelle oder im Wohnraum einzuhalten, wäre dagegen der Verhältnisprävention zuzuordnen. Nur an der einen Schraube zu drehen, führt selten zum Erfolg, zumal beides in Wechselwirkung zueinander steht. Wenn Menschen beispielsweise an der Arbeitsstelle aus Kostengründen keine Abstandsregeln einhalten können, ist es nur eine Frage der Zeit, bis diese Abstandsregeln auch im privaten Alltag missachtet werden.
Das RKI: Unabhängig von der Politik?
Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat mehrere falsche Entscheidungen während der Pandemie getroffen. Dazu gehört die späte Akzeptanz der Tatsache, dass Masken die Verbreitung der Viren effektiv einschränken. Hinzu kommt die Verkürzung der Quarantänezeit für medizinisches Personal von 14 auf 7 Tage und die erst spät begonnene gesonderte Erfassung von Infektionen in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Es ist grob fahrlässig, dass weiterhin keine Infektionscluster zentral erfasst und zusammengeführt werden – gerade die Information, wo wie viele Menschen sich mit dem SARS 2 Coronavirus infizieren, erlaubt eine gezielte Verhältnisprävention.
Dies hätte den Fokus mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Missstände gerichtet – Mangel an Schutzmasken, Personalengpässe im Gesundheitswesen und Bildung von Infektionsclustern in Betrieben mit schlechten Arbeitsbedingungen, was nicht im Sinne der Bundesregierung wäre. Das RKI wird zum überwiegenden Teil aus dem Bundeshaushalt finanziert und ist direkt dem Gesundheitsministerium unterstellt.
Für eine effektive Pandemiebekämpfung brauchen wir ein politisch unabhängiges Institut, welches die Erfassung von Fällen nach epidemiologisch gebotenen Kriterien organisiert und bei den Empfehlungen keine Rücksicht auf die kurzfristigen Profit- oder Stabilitätsinteressen von Unternehmer*innen und Politiker*innen nimmt. Dies müsste der direkten demokratischen Kontrolle – insbesondere durch medizinisches Fachpersonal und verwandte wissenschaftliche Felder – unterstehen.