Im März 2008 versprach Vladimir Putin, dass im Jahr 2020 das durchschnittliche Gehalt in Russland bei 2400 Euro im Monat liegen würde. Die Voraussetzungen dafür waren vorhanden. Die boomende Weltwirtschaft bot einen endlosen Absatzmarkt für die russischen Naturgüter. Die russischen Banken und Konzerne verwurzelten sich immer fester im Gebiet der ehemaligen UdSSR. Millionen Gastarbeiter*innen strömten nach Russland, um die ölgedopte Wirtschaft zu beschleunigen. Die Löhne stiegen um fette 10% jährlich und die neue russische bürgerliche Elite trat selbstbewusster auf die internationale Bühne.
von Dima Yansky, Köln
Das Märchen hatte sein Ende bereits im Oktober 2008, als der abgestürzte amerikanische Aktienmarkt die Weltwirtschaft fast zum Erliegen brachte. Die sinkenden Rohstoffpreise und der Absturz der russischen Währung führten zu Einkommensverlusten bei einem Großteil der Bevölkerung. Die jungen Leute verloren als erste Arbeitsplätze, Ersparnisse und ihre Perspektiven. Die Krise 2008 war nur die erste in einer Reihe. Es folgten der Rohstoffpreisverfall und US-Sanktionen im Jahr 2014 und letztendlich das Jahr 2020. Krisen wurden zur „normalen“ Sozialisierung für die Generationen Y und Z. Der Krise folgt die Verschuldung. Fast 60 % der Russ*innen unter 30 Jahren, verglichen mit weniger als 20 % der gleichaltrigen Deutschen, zahlen ein Darlehen zurück. Die Armut in Russland ist vor allem jung.
Jugend desillusioniert
Die postsowjetische Gesellschaft imponiert mit einer ungerechten Verteilung des Reichtums. Geht es um die Anzahl der Milliardäre, gehört Russland mit den USA, China, Deutschland und Indien zu den Top-5-Ländern mit der größten Anzahl an Superreichen. Eine Ingenieurin, ein Lehrer, ein Metallarbeiter und eine Ärztin führen jedoch ein fast gleich hartes Leben, das Lichtjahre vom Paradies der herrschenden Klasse, mit ihren italienischen Villen, Yachten und Wolkenkratzerpalästen in Moskau, entfernt liegt.
Die russischen Jugendlichen lernen sehr schnell, dass die neuen Klassengrenzen kaum noch überwindbar sind. Gut gebildet, weltoffen und desillusioniert begeben sich die Jugendlichen auf Suche nach Alternativen und wenden sich vom nationalistisch-bürokratischen Kapitalismus des modernen Russlands ab. Einige haben Illusionen von einem „richtigen Kapitalismus“ wie in den USA oder Europa. Aber der Internetzugang und die Möglichkeit schnell und direkt mit Jugendlichen aus anderen Ländern in einen direkten Kontakt zu kommen, zerstören die Wunschvorstellungen. Mittlerweile sagen fast 40%, sie unterstützen sozialdemokratische oder kommunistische Ideen.
Alle linken Organisationen in Russland erleben einen Zustrom neuer Mitglieder. Einige linke Blogger sind mittlerweile populärer als die offiziellen Zeitungen. Klar, das Regime Putins kann der Jugend abgesehen von dem schwer verdaulichen Cocktail aus Nationalismus, Militarismus und orthodoxen Fundamentalismus weder neue Ideen noch konkrete Perspektiven anbieten.
Aufschwung links
Unsere Schwesterorganisation in Russland, socialist.news, versucht, eine Brücke zwischen dem aktuellen Bestreben der Jugend nach mehr Demokratie, sozialer und Gendergerechtigkeit, intuitivem Internationalismus und dem sozialistischen Programm aufzubauen. Die Genoss*innen kämpften trotz des harten Polizeidrucks gegen die aktuellen Entlassungen während des Corona-Lockdowns. Sie organisierten am 6. März landesweite Frauenstreiks gegen häusliche Gewalt.
Die Zeit der Wirtschaftskrise, mit unvorhersehbaren wirtschaftlichen Folgen für die Jugend und Arbeiter*innenklasse, dem politischen Frühling in den USA und der massiven Abkehr der Jugendlichen vom kapitalistisch-bürokratischen Reich Putins wird unausweichlich zu einer Radikalisierungswelle führen. Die neue Zeit bietet für die Sozialist*innen neue Möglichkeiten, ihre Strukturen aufzubauen und für die neue Gesellschaft zu kämpfen.