Belarus – Das Endspiel wird ausgetragen

Die Streiks in Belarus weiten sich weiter aus. Lukaschenko sagte bei einer Ansprache in einer Fabrik in Minsk: “Wir hatten unsere Wahlen. Nur über meine Leiche wird es Neuwahlen geben.” Aber diese Entscheidung liegt nicht mehr bei ihm – die nächsten Tage werden diese Frage auf die eine oder andere Weise entscheiden.

von Rob Jones, ISA in Russland

Als eine schöne Ironie, die meistens mit Massenaufständen und Revolutionen einhergehen, ist ein Video erschienen, in dem Alexandr Lukaschenko in einer Limousine fährt, die von einem riesigen Muldenkipper verfolgt wird, der eindeutig das Auto crashen will, was symbolisiert, wie schnell die Massenbewegung ihn und seine Herrschaft einholt. Die Arbeiter*innen der „Belaz“-Fabrik, die den Muldenkipper herstellt, gehören zu denjenigen, die in den Streik getreten sind.

Am Wochenende kam es zu einem Kräftemessen im gesamten Land. In Minsk wollte Lukaschenko seine Kräfte sammeln. Konvois von Bussen reisten aus verschiedenen Regionen an, und doch konnte er nur nach der höchsten Schätzung zehntausend Menschen versammeln. Sogar einige der Redner*innen dort sagten, dass es absurd sei zu glauben, er hätte 80% der Stimmen gewonnen.

Im Gegensatz dazu versammelten sich in jeder größeren Stadt des Landes zehntausende Oppositionelle. Allein in Minsk versammelten sich bis zu 200.000 Menschen im Stadtzentrum. In einer Reihe von Städten haben die lokalen Verwaltungen begonnen, die rot-weiße Fahne der Opposition zu hissen. Die Menge begann mit Sprechchören wie „Streikt weiter bis zum Ende“, „Du bist der Henker deines eigenen Volkes – tritt zurück“ oder „Großvater – nimm weiter deine Tabletten“. Die Forderung nach einem „Tribunal“ wurde immer lauter, was zu einer Diskussion führte: „Ich würde ihn auf der Stelle erschießen“, sagte eine Frau. „Nein, nein. Erschießen ist zu einfach. Nur ein Tribunal“, sagte eine andere. „Nein, ich bin humaner“, sagte die erste, „Ich würde ihn erschießen.”

Streiks und Generalstreik

Einen enormen Aufschwung erlebten die Proteste am Donnerstag und Freitag, als über hundert Fabriken und Betriebe streikten. Von den großen Industriegiganten, die Tausende und manchmal Zehntausende von Arbeiter*innen beschäftigen, bis hin zu Krankenhäusern und dem IT-Sektor. Selbst der staatliche Rundfunk ist inzwischen auf die Seite der Opposition gewechselt. Das passierte in Folge einer Rede von Lukaschenko, in der er alle Demonstrant*innen beschuldigte, „Schafe“ zu sein, die für ausländische Mächte arbeiten würden und „Menschen mit krimineller Vergangenheit und Arbeitslose” seien.

Diese ignoranten und provokativen Äußerungen haben nur Öl ins Feuer gegossen. Als Reaktion darauf produzierten Arbeiter*innen der riesigen Minsker Traktorenfabrik ein großes Transparent mit der Aufschrift „Wir sind keine Schafe, keine Rinder, keine Unmenschen – Wir sind die Arbeiter der MTF. Wir sind nicht 20, sondern 16.000” und marschierten damit am Freitag in Massen zum Parlamentsgebäude im Stadtzentrum. Bei ihrer Ankunft senkte die OMON-Bereitschaftspolizei, die das Gebäude umzingelt, ihre Schilde.

Unter den ersten Protestierenden waren auch Beschäftigte aus dem Gesundheitsbereich. Einige hielten Plakate mit der Aufschrift „Patient Nr. 1 ist todgeweiht!” Berichten zufolge haben die Beschäftigten Polizist*innen, die in den ersten Tagen zur Behandlung ins Krankenhaus gingen, bewusst falsche, schwerwiegende Diagnosen gestellt, um sie daran zu hindern, weiter auf die Straßen zu gehen. Sanitäter*innen schlossen sich der wachsenden Zahl von streikenden Industriebetrieben an. Das passierte meistens in Form von Massenversammlungen in Werken, wo die Beschäftigten gefragt wurden, ob sie für Lukaschenko gestimmt hätten – niemand antwortete, dann schossen Hände hoch, als die Alternative angeboten wurde – eine Stimme für Tichonowskaja. IT-Mitarbeiter, die normalerweise in kleineren Betrieben arbeiten, schlossen sich auf den Straßen zusammen, um ihre Solidarität zu bekunden.

Die Art dieses Aufstandes änderte sich im Laufe der Woche. Zu Beginn gab es im ganzen Land Massendemonstrationen, die in der Regel von der Bereitschaftspolizei angegriffen wurden. Über 6.000 Menschen wurden verhaftet und diejenigen, die inzwischen wieder freigelassen wurden, sprechen von einer enormen Überbelegung der Zellen und in vielen Fällen von Folter und Vergewaltigungsdrohungen gegen weibliche Gefangene durch die Polizei. Als sich die Nachricht von staatlicher Gewalt verbreitete, stiegen über Nacht in den Vororten von Minsk, wo die Arbeiter*innenklasse in der Regel lebt, Sprechchöre aus den Wohnungen auf: „skhodi, skhodi“ – „Rücktritt, Rücktritt“.

Als sich die Streiks ausbreiteten, war die Polizei nicht mehr zuversichtlich, die Situation unter Kontrolle bekommen zu können und der nationale Polizeichef kündigte an, dass alle Inhaftierten freigelassen werden sollten. Als die Gefangenen heraus kamen, erzählten sie was während ihrer Inhaftierung geschehen war, was die Wut weiter anheizte. Am Sonntag kamen Tausende zur Beerdigung von Alexander Taraikowsky, der Anfang der Woche verstorben war. Die Polizei behauptete, ein Sprengkörper, den er auf sie werfen wollte, sei explodiert – doch Videobeweise zeigen, dass er überhaupt nichts in seinen Händen hatte.

Fehlende Führung

Ein weiterer Faktor, der die Stimmung der Proteste veränderte, war die direkte Beteiligung von Frauen, die landesweit Menschenketten organisierten, oft mit kleinen Kindern im Schlepptau, um ein Ende der Gewalt zu fordern. Eine gewisse Rolle spielte dabei Tichonowskaja, die sich mit Veronika Tsepkalo und Maria Kolesnikowa, Stabschefin der anderen disqualifizierten Kandidaten, verbündete. Dieser Fakt wurde in den westlichen Medien stark hervorgehoben, doch genau der Tag, an dem die Frauen begannen, organisiert zu protestieren, forderte Tichonowskaja die Menschen auf, ihre Proteste einzustellen.

Am Freitag entwickelten sich Massenproteste von Schüler*innen, bei denen sie sich weigerten, ihre Schulzeugnisse zu akzeptieren, indem sie Plakate mit der Aufschrift „Ihr habt Menschen getötet“ aufhängten und sagten, dass die Prüfungskommissionen „sich ihrer Taten schämen sollten“. Lehrer*innen werden oft als Kanäle für staatliche Propaganda angesehen. Die Lehrer*innen selbst haben aber nun auch begonnen, sich den Protesten auf organisierte Weise anzuschließen. Die Art und Weise, wie sich die ganze Situation mit den Massenstreiks im ganzen Land entwickelt hat, führte dazu, dass sich der Staat mit der Brutalität zurückhalten musste, aus Angst, noch entschlossenere Opposition zu provozieren.

Lukaschenko und sein Regime machen „ausländische Agitator*innen“ für die Lage verantwortlich. Woher diese kommen sollen ist nicht klar, aber er behauptet manchmal, dass Agitator*innen aus der Ukraine, Polen und Russland, den drei großen Ländern rund um Belarus, eingetroffen seien. Der Kreml leugnet natürlich die russische Beteiligung, gibt aber westlichen Einflüssen die Schuld. Eine nach der anderen haben stalinistische und ehemalige stalinistische Gruppen sich beeilt, Lukaschenko zu unterstützen, den sie aus irgendeinem Grund als letztes Bollwerk der „Sowjetherrschaft“ betrachten. Es überrascht nicht, dass am Sonntag unter denen, die für Lukaschenko demonstrierten, auch solche mit Fahnen der kommunistischen Partei und der russischen kommunistischen Partei waren.

Von Spontaneität zur Organisierung

Die Wahrheit ist, dass es bei den Protesten der Opposition ein sehr hohes Maß an Spontaneität gegeben hat. Diejenigen Parteien, die sich in den vergangenen Jahren als Oppositionsparteien positioniert hatten – hauptsächlich von rechtssozialdemokratischer und mild nationalistischer Couleur – sind aus dem Kampf verschwunden, sobald COVID-19 ins Land kam. Die Zufallsfigur Swetlana Tichonskaja rief zu Beginn der Woche zu Verhandlungen mit Lukaschenko auf. Sie wurde zu einem Treffen im Büro der Wahlkommissionen eingeladen, von welchem sie nicht zurückkehrte. Es ist offensichtlich, dass sie dort bedroht wurde – sie tauchte später in Litauen auf und sagte, dass die Dinge zu weit gegangen seien und sie ihre Kinder zu einer Priorität machen müsse. Jetzt hat sie angekündigt, dass sie bereit sei, bis zu möglichen Neuwahlen die „nationale Führung“ zu übernehmen.

In Belarus gibt es keinen nennenswerten Grad an gewerkschaftlicher Organisierung. Wie in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken gibt es in vielen Fabriken noch die ehemalige staatliche Gewerkschaft, die jedoch Lukaschenko gegenüber vollkommen loyal ist. Sie warnt vor den wirtschaftlichen Folgen für die Beschäftigten, wenn die Proteste anhalten. Die kleinen unabhängigen Gewerkschaften, die vor allem in den ersten Jahren nach 1997/8 aufgebaut wurden, haben an Einfluss verloren und ihre offizielle Stellungnahme zu den Ereignissen besteht daraus, die Beschäftigten dazu aufzufordern, eine Petition zu organisieren. Einzelne oder Gruppen von Aktivist*innen dieser Gewerkschaften haben sich jedoch an der Organisation der Proteste beteiligt.

Wenn es jemanden oder etwas gibt, der oder das die Proteste „organisiert“, dann ist es die Wirtschaftskrise, COVID-19 und die Wahlmanipulation und natürlich die provokativen Äußerungen von Lukaschenko selbst. Erst gestern behauptete er, dass diejenigen, die in den Streik getreten waren, dafür bezahlt worden seien und entlassen werden müssten.

Forderungen

Der spontane Charakter der Proteste erklärt, warum es keine politischen Transparente und nur sehr wenige von den Demonstrant*innen vorgebrachte Slogans gibt. Manchmal wird die rot-weiße Flagge getragen, die in der Zeit von 1991 – 1994 das Symbol von Belarus war. Diese wurde verboten, als Lukaschenko an die Macht kam und einige Symbole aus der Sowjetzeit wiederherstellte. Oft hört man „Schiwis Belarus“ – “Es lebe Belarus”.

Wenn Forderungen erhoben werden, bestehen sie in der Regel aus der Notwendigkeit von Neuwahlen, einem Ende der Polizeigewalt und der Freilassung politischer Gefangener. Nun wird zum ersten Mal der Ruf nach einem „Tribunal“ laut. Am weitesten fortgeschritten sind vielleicht die Vorschläge des Streikkomitees der Minsker Traktorenfabrik, die die Reform der Polizei- und Militärstrukturen und die Entlassung aller an der Gewalt gegen Demonstrant*nnen beteiligten Personen, einen Regierungswechsel, die Reform der Wahlkommission und die vollständige Rehabilitierung der politischen Gefangenen fordern. Jetzt, wo Streikkomitees eine Rolle spielen, werden auch Forderungen wie die Beendigung der Leiharbeit, die Abschaffung des Erlasses Nr.3 (das sogenannte „Gesetz gegen Parasiten“ zur Besteuerung der Arbeitslosen) und die Rücknahme der Rentenreform laut.

Diese stehen im Widerspruch zu den Forderungen, die jetzt von der Oppositionstroika vorgeschlagen werden, und zu den europäischen Mächten, die eindeutig einen Kompromiss mit dem Regime anstreben. Erstere schlagen die Einrichtung eines Koordinierungsausschusses vor, um die Machtübergabe zu gewährleisten, während Valery Tsepkalo, einer der nicht zugelassenen Kandidaten, sogar vorschlägt, Lukaschenko Straffreiheit zu gewähren und noch sechs Monate lang an der Macht zu lassen, bis neue „ehrliche“ Wahlen abgehalten werden, bei denen Lukaschenko selbst wieder kandidieren könnte.

Jetzt, wo der Protest die Form eines Arbeiter*innenaufstandes angenommen hat, ist die liberale Opposition in der Not, einen Ausweg finden zu müssen. Die EU wiederum fordert Lukaschenko nicht einmal zum Rücktritt auf und schlägt stattdessen die Einrichtung eines „Runden Tisches der nationalen Einheit“ vor.

Die Rolle Russlands

Gleichzeitig setzt Lukaschenko eindeutig auf die Unterstützung Putins. Nach einem Telefongespräch am Sonntag berichtete Lukaschenko, dass Putin bereit sei, Unterstützung zu leisten, was klar militärische Unterstützung bedeutet. Er warnte die Demonstrierenden davor, sich zu „Kanonenfutter“ machen zu lassen, was klar impliziert, dass er extreme Maßnahmen ergreifen würde.

Putin stellte jedoch klar, dass die einzige Unterstützung, die er zu diesem Zeitpunkt anzubieten bereit sei, eine militärische Intervention Polens oder eines anderen EU-Landes im Rahmen des kollektiven Sicherheitsabkommens sei. Das macht die Aktionen von Tsepkalo, der sich mit US-Senator*innen und EU-Vertreter*innen getroffen und versucht hat, eine Anhörung zu Belarus im US-Kongress zu initiieren, besonders unwillkommen, da eine solche Einmischung westlicher imperialistischer Mächte den Vorwand für eine Intervention Russlands verstärken könnte.

Während ein möglicher Sturz von Lukaschenko einen gefährlichen Präzedenzfall für Russland darstellen würde, könnte eine offene Intervention noch gefährlicher sein, da die Unruhen innerhalb Russlands nach sechs Wochen Massenproteste in der fernöstlichen Stadt Chabarowsk und nun auch nach großen Protesten in der Ural-Republik Baschkirien wegen ökologischer Fragen bereits zunehmen. In beiden Fällen erscheinen bereits Transparente mit der Aufschrift „Von Chabarowsk bis Brest gibt es keinen Platz für eine Diktatur“ Die russische Presse spricht nicht nur von der zunehmenden Politisierung dieser Prozesse, sondern von ihrer „Weißrusslandisierung“. Es gibt Berichte über Kolonnen russischer Nationalgardisten, die sich der Grenze zu Belarus nähern. Diese sind aber wahrscheinlich eher dazu da, die Grenze zu überwachen, falls die belarussischen Ereignisse außer Kontrolle geraten, als die Grenze selbst zu überqueren.

Was jetzt notwendig ist

Die ISA steht in voller Solidarität zu den Demonstrationen und Streiks in Belarus. Wir haben kein Vertrauen darin, dass Banker und ehemalige Diplomaten, die selbst viele Jahre lang Teil des Lukaschenko-Regimes waren, das Schicksal des Landes bestimmen sollten. Sowohl eine Intervention des westlichen Imperialismus als auch von Russland sind abzulehnen.

Die Streiks müssen ausgeweitet und von gewählten Streikkomitees geführt werden, bis Lukaschenko gehen muss und alle politischen Gefangenen freigelassen werden. Die Streikkomitees sollten sich zusammenschließen und auch Vertreter*innen von Schüler*innen und Einwohner*innen umfassen, um eine revolutionäre verfassungsgebende Versammlung zu organisieren, die darüber entscheidet, wie das Land im Interesse der Arbeiter*innenklasse geführt werden soll.

In den vergangenen Tagen hat die oppositionelle „Troika“ um Tichonowskaja vorgeschlagen, ein Übergangs-Koordinationskomitee zu organisieren und die Arbeiter*innen einzuladen, Vertreter*innen zu entsenden, um den Machtwechsel zu überwachen. Aber das ist nicht das selbe wie eine verfassungsgebende Versammlung. Ein Wechsel an der Spitze des Systems wird das System selbst nicht verändern. Wenn man für einen politischen Wandel kämpft, muss auch das wirtschaftliche System verändert werden – Dekret Nr. 3 und das Vertragssystem sollten sofort aufgehoben und die Rentenreformen rückgängig gemacht werden. Der Staatshaushalt sollte dahingehend geändert werden, dass statt der Polizei und der Staatsbürokratie Bildung und Gesundheitsversorgung finanziert werden. Um dies zu gewährleisten, bedarf es eindeutig einer politischen Arbeiter*innenpartei, die die Regierung bilden kann, die in der Lage ist, die Wirtschaft unter demokratischer Arbeiter*innenkontrolle zu führen und eine sozialistische Regierung als Teil einer sozialistischen Föderation demokratischer sozialistischer Staaten einzusetzen.

Das Endspiel

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels wird das Kräfteverhältnis im ganzen Land gemessen. Gestern versammelte sich allein in Minsk die Opposition zehnmal mehr, als Lukaschenko aufbringen konnte – und auch in anderen Städten gab es riesige Proteste.

Heute haben sich die Streiks weiter ausgebreitet. Das Internet wird wieder einmal abgeschaltet. Lukaschenko selbst beschloss, in der Minsker „Volat“-Fabrik aufzutreten, indem er mit dem Hubschrauber dorthin flog, anstatt zu fahren. Arbeiter*innen aus nahegelegenen Fabriken marschierten auf das Werk zu und riefen: „Tritt zurück, tritt zurück“. Lukaschenko erklärte selbst in seiner Rede: „Wir hatten unsere Wahlen. Nur über meine Leiche wird eine weitere Wahl abgehalten werden“. Es ist jedoch klar, dass er diese Entscheidung nicht mehr zu treffen hat – die kommenden Tage werden die Frage auf die eine oder andere Weise entscheiden.

Foto: Максим Шикунец, CC BY-SA 4.0