Avenida Río Churubusco 410, Coyoacán, Mexico Stadt, 20. August 1940, 17:20 Uhr: Natalia Sedowa erfasst das Grauen, als sie ihren Mann schreiend und blutüberströmt aus seinem Arbeitszimmer wanken sieht, einen Eispickel im Hinterkopf. Eine Zeit lang kämpft er noch um sein Leben, doch am nächsten Tag erliegt der russische Revolutionär Leo Trotzki (60) seinen Verletzungen. 300 000 Menschen kommen zu seinem Begräbnis.
von Conny Dahmen, Köln
Dem Mörder, Ramón Mercader, gelingt die Flucht nicht mehr, Trotzki kann ihn mit Hilfe seiner Leibwächter noch festhalten. Der GPU-Geheimagent hatte sein Opfer seit Jahren verfolgt, sein Umfeld infiltriert, sich sogar mit einer Sekretärin Trotzkis verlobt, bis er sich unerkannt den Zutritt zu Sedowas und Trotzkis Haus erschleichen konnte. 1960, nach seiner Haftentlassung, wird ihm für seine Tat der Titel eines Helden der Sowjetunion verliehen. Bereits wenige Monate zuvor hatte der stalinistische Maler David Alfaro Siqueiros ein erfolgloses Attentat mit Maschinenpistolen organisiert; danach wurde das Anwesen strengstens bewacht. Beide sahen sich als Vollstrecker eines Todesurteils, das über Trotzki bereits 1934 in Abwesenheit bei einem Schauprozess gefällt worden war.
Warum musste Leo Trotzki sterben? Wie konnte dieser alte Mann, der bereits drei Jahre lang im mexikanischen, zuvor im türkischen und norwegischen Exil gelebt hatte, das Stalin-Regime noch dermaßen in Angst und Schrecken versetzen, dass es ihn um den halben Erdball jagte?
Trotzki war der letzte der alten bolschewistischen Führer*innen der Oktoberrevolution. Diejenigen, die nicht eines natürlichen Todes gestorben waren, hatte Stalin aus dem Weg räumen lassen. Als Vorsitzender des Petrograder Sowjets 1905 sowie 1917 war er einer der wichtigsten Organisatoren der Oktoberrevolution, später Volkskommissar (so hießen in der Sowjetunion die Minister) für äußere Angelegenheiten und Gründer und Führer der Roten Armee im Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg wurde gewonnen, allerdings unter großen Opfern. Viele der besten Kommunist*innen starben, das Land war zerstört, die Produktion am Boden. Die militärisch gestärkte, aber politisch geschwächte Rätemacht sah sich gezwungen, erst Bauernaufstände niederzuschlagen, und schließlich mit der “Neuen Ökonomischen Politik” marktwirtschaftliche Elemente wieder einzuführen.
Kampf gegen den Stalinismus
In seiner Analyse des Stalinismus zeigt Trotzki auf, dass für die Entwicklung des Sozialismus gesellschaftlicher Überfluss vorhanden sein muss, da sonst nur der Mangel verallgemeinert würde. Dieser Mangel ließ in der Sowjetunion eine privilegierte Parteikaste mit eigenen Interessen und dem neuen Generalsekretär Stalin an der Spitze entstehen, die immer mehr Macht in ihren Händen konzentrierte.
Trotzki wurde politisch kaltgestellt, denn er hatte von Anfang an vor den gefährlichen Auswüchsen der Bürokratie und ihrer falschen konservativen und nationalistischen Politik gewarnt. Er sah hier keine klassische kapitalistische Konterrevolution, sondern einen politischen Rückschlag der Revolution, der eine neue Schicht dominieren ließ. Nicht die alte herrschende Klasse kam zurück an die Macht, sondern eine abgehobene bürokratische Schicht stützte sich auf die neuen sozialen Verhältnisse, die durch die Revolution geschaffen wurden: Auf das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln und die Planwirtschaft. Um die Macht zurück zu gewinnen, sei eine politische Revolution notwendig, welche die Produktionsweise aufrechterhält und die Arbeiter*innendemokratie wiederherstellt, wie Trotzki in seinem Werk „Verratene Revolution“ von 1936 darlegt.
Zehntausende Bolschewiki standen ihm in seinem Kampf zur Seite und schlossen sich zwischen 1927 und 1923 der Plattform der Linken Opposition an. Lenins Widerstand gegen die Bürokratie endete mit seinem Tod Anfang 1924, was Stalins Machtposition enorm stärkte. Diese verteidigte er nicht nur durch eine beispiellose Verleumdungskampagne gegen den „konterrevolutionären Trotzkismus“, sondern auch durch eine Politik, die Trotzkis Erkenntnissen diametral entgegen stand.
Während die Linke Opposition weiter für Internationalismus stand und die Russische Revolution als ersten Schritt in Richtung einer Weltrevolution sah, begründete die Parteispitze mit der Theorie des „Sozialismus in einem Land“, warum die Verteidigung der Sowjetunion – und damit Macht und Privilegien der Bürokratie – über die Ausdehnung der internationalen Revolution gestellt werden müsse, welche diese Macht und Privilegien infrage gestellt hätte.
Der Theorie der „Permanenten Revolution“ setzte Stalin die alte Etappentheorie eines falsch verstandenen Marxismus entgegen, derzufolge in wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern zunächst die bürgerliche Revolution durchgeführt und ein funktionierender Kapitalismus aufgebaut werden müsse, bevor zu einem – sehr viel – späteren Zeitpunkt eine sozialistische Umwandlung der Gesellschaft möglich sei. Vor dem Hintergrund dieser Theorien wurden immer wieder wichtige Chancen für die internationale Revolution verspielt, mit einem enormen Blutzoll für die Arbeiter*innenklasse. So verordnete Stalin der chinesischen KP, sich der bürgerlichen Kuomintang-Partei zu fügen. 1927 kündigte diese die Zusammenarbeit auf, ihre Truppen richteten ein Massaker an Arbeiter*innen in Shanghai an und zerschlugen die KP in den Städten.
Die Permanente Revolution
Trotzkis gefährlichste Waffe war das geschriebene Wort – und das bis heute. Seine „Theorie der Permanenten Revolution“, die er 1906 in seiner Broschüre „Ergebnisse und Perspektiven“ darlegte, beschreibt auch heute noch die Aufgaben revolutionärer Bewegungen in der neokolonialen Welt. Trotzki zufolge ist die nationale kapitalistische Klasse in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung, wie damals im zaristischen Russland, zu schwach, um die bürgerliche Revolution durchzuführen – also die Landverteilung zu klären, eine bürgerliche Demokratie zu etablieren und die nationale Frage zu lösen. Diese fortschrittliche Rolle kann dann nur die städtische Arbeiter*innenklasse aufgrund ihres revolutionären Potenzials und ihrer Stellung im Produktionsprozess spielen und die damals weitaus größere Klasse der Bäuer*innen in der Revolution leiten.
Hat sie die Macht in einem unterentwickelten Land erst einmal errungen, müsse sie unweigerlich mit der sozialistischen Umwandlung des Eigentums beginnen, um die demokratischen Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu erfüllen. In diesem Sinne also ist die Revolution „permanent“, weil sie weitergeht als die bürgerliche Revolution.
Dies ist beim „Arabischen Frühling“ ausgeblieben und so konnten zwar einige Diktatoren gestürzt, nicht aber Armut und Unterentwicklung beseitigt werden. Die Bewegungen sind nicht weit genug gegangen, so dass wir heute erneuten Krieg, Terror und Elend in Syrien, Libanon usw. sehen. Trotzki weist in diesem Zusammenhang aber auch auf die Notwendigkeit einer internationalen Ausdehnung sozialistischer Revolutionen hin.
Die Bolschewiki stürzen den Kapitalismus
Auf Grundlage dieser Erkenntnisse riefen Trotzki und Lenin, als sie im Frühjahr 1917 aus dem jeweiligen Exil nach Russland zurück kehrten, zur Machtübernahme durch die Arbeiterklasse auf – was ihnen reichlich Kritik und Lenin den Vorwurf des „Trotzkismus“ in der Partei einbrachte. Im Februar hatte eine Revolution den Zaren zu Fall und die bürgerliche Provisorische Regierung an die Macht gebracht, die aber die Forderungen der Massen nach Land, Brot und Frieden nicht erfüllen konnte.
Wieder bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, die neben dem russischen Parlament ein selbständiger Machtfaktor wurden. Lenins „Aprilthesen“ fußten auf Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution. Trotzki als früherer Kritiker von Lenins Vorstellungen von der revolutionären Partei hatte sich zwischenzeitlich vom bolschewistischen Organisationsverständnis überzeugen lassen und wurde umgehend in das Zentralkomitee der Partei gewählt.
Den bolschewistischen Anführer*innen der Oktoberrevolution war allerdings bewusst, dass die sozialistische Revolution zwar in Russland begonnen, aber in Deutschland und im Rest Europas vollendet werden müsse, sonst wäre sie verloren. Doch die revolutionäre Welle gegen Ende des Krieges gegen Ende des Krieges wurde überall sonst niedergeschlagen oder vereinnahmt. Die junge Sowjetrepublik blieb isoliert und sah sich sogleich einer Invasion zahlreicher militärischer Einheiten der imperialistischen Armeen ausgesetzt. Den jahrelangen blutigen Bürgerkrieg konnten die extrem opferbereiten Revolutionär*innen zwar gewinnen, die Wirtschaft brach jedoch zusammen und die Demokratie in den Sowjets und in der Partei blieb auf der Strecke.
Faschismus-Analyse
Die revolutionären Möglichkeiten der frühen 1920er Jahre vor allem in Deutschland, aber auch in Italien und Ungarn wurden verpasst. Später hatte die falsche Politik der (von Stalin kontrollierten) Kommunistischen Internationale in Deutschland und Spanien verheerende Auswirkungen. Das erleichterte Hitler die Machtergreifung und die Vorbereitung auf den Krieg.
Trotzki erkannte im Faschismus eine besondere Form der bürgerlich-kapitalistischen Reaktion auf eine schwere Krise des wirtschaftlichen und politischen Systems. Auf Grundlage einer Massenbasis im Kleinbürgertum, zum Beispiel bei Bauern, kleinen Gewerbetreibenden oder Beamten und und bei den verarmten Erwerbslosen, im sogenannten „Lumpenproletariat“, konnte er alle Organisationen der Arbeiter*innenbewegung zerstören.
Trotzkis Schlussfolgerung, dass das Bürgertum kein Bündnispartner im Kampf gegen den Faschismus sein kann, da es mit seinem System die Basis für ihn bereitet, gilt auch heute noch. Ebenso wie seine dringende Empfehlung an die KPD, eine Einheitsfront mit der SPD als Partei mit großer Arbeiter*innenbasis zu bilden und den Faschismus so zurück zu schlagen. Dies lehnte die KPD ab, beschimpfte die SPD stattdessen und erklärte, der „Sozialfaschismus“ der SPD sei noch gefährlicher als Hitler.
Nach dem blutigen Scheitern dieser Sozialfaschismus-Theorie schwenkten die Stalinisten international um und erklärten die „Volksfront“ zum Leitfaden ihrer Politik, was sich wiederum im Kampf gegen den Faschismus in Spanien als fatal erweisen sollte. Nun sollten die kommunistischen Parteien Bündnisse mit pro-kapitalistischen Parteien eingehen, um die bürgerliche Demokratie zu verteidigen.
Der Hintergrund dafür war der Versuch, eine erfolgreiche sozialistische Revolution in Spanien zu vermeiden, die zu weiteren Erhebungen in Europa und damit in der Weiterentwicklung zu einer möglichen Entmachtung der Stalin-Bürokratie geführt hätte. In Spanien war die Folge dieser Politik der Sieg und die jahrzehntelange blutige Herrschaft des Faschismus.
Die „Feder“ ist nicht zu schlagen
Der Kampf der Linken Opposition in Russland wurde immer schwieriger, die Verfolgung ihrer Mitglieder durch Staatsapparat und Geheimpolizei härter. Sie wurden aus der Partei ausgeschlossen, verhaftet, in den Tod getrieben oder liquidiert. Trotzki wurde 1928 auf die Insel Büyükada vor Istanbul verbannt, wo er seine Kontakte mit linken Oppositionellen aus verschiedenen Ländern verstärkte.
Als die III. Internationale, mittlerweile Instrument des Stalinismus, offensichtlich politisch verloren war, gründeten rund 3000 Marxist*innen 1938 die IV. Internationale, die sofort auf entschiedene Gegner stieß: Den Stalinismus, die schwache Sozialdemokratie, den Imperialismus und natürlich den Faschismus.
Die Unterdrückung und der stalinistische Terror in Russland erreichte mit den Moskauer Schauprozessen von 1936 bis 1938 eine neue Qualität: Mindestens acht Millionen Menschen wurden verhaftet, fünf bis sechs Millionen starben in den Gulags, unter ihnen auch Familienmitglieder Trotzkis, die gar nicht politisch aktiv waren. Viele Revolutionär*innen wurden in dieser Zeit gebrochen. Selbst Diego Rivera und Frida Kahlo, die Trotzkis Asyl in Mexiko organisiert hatten, krochen Jahre später zu Kreuze.
Trotzki stand auch für konsequenten Optimismus, selbst in seinen dunkelsten Stunden. Im Februar 1940 schrieb er in seinem als “Testament” bezeichneten “Tagebuch im Exil”:
“Mein Glaube an eine kommunistische Zukunft ist heute noch stärker als in meiner Jugend. Natascha hat das Fenster zur Hofseite noch weiter geöffnet, damit die Luft besser in mein Zimmer strömen kann. Ich kann den glänzenden grünen Rasenstreifen unter der Mauer sehen, den klaren blauen Himmel darüber und die Sonne überall. Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt und es voll genießen.”