Am 9. September 2000 wurde in Nürnberg der Blumenhändler Enver Simsek von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos ermordet. Das war der erste von zehn Morden des „Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU)“, der bis 2007 neun Migranten und eine Polizistin tötete. Zwanzig Jahre später werden Drohbriefe mit der Unterschrift „NSU 2.0“ verschickt. Die Absender sitzen mutmaßlich in Polizeidienststellen.
von Claus Ludwig, Köln
Merkel hatte eine lückenlose Aufklärung versprochen, aber diese ist bis heute nicht erfolgt. Der Prozess in München und die Untersuchungsausschüsse von Bundestag und Landtagen haben mehr neue Fragen aufgeworfen als beantwortet. Die staatlichen Untersuchungen hatten primär das Ziel, die offizielle Version zu bestätigen: Der NSU bestehe nur aus Böhnhardt, Mundlos und Beate Zschäpe, dazu habe es Unterstützer*innen gegeben. Mit dem Tod der beiden Männer und Zschäpes Inhaftierung habe der NSU aufgehört zu existieren. Die Behörden hätten Fehler begangen, nicht gut kooperiert, Zusammenhänge übersehen, wären von falschen Hypothesen („Döner-Morde“) ausgegangen.
Der NSU war nicht zu dritt
Diese offizielle Version ist nichts als eine „Verschwörungstheorie“. Schon direkt nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos im November 2011 war vielen klar, dass der NSU größer gewesen sein muss. Es gab lokale Kontakte. Staatliche Stellen haben nicht einfach „versagt“, sondern aktiv weggeschaut, wussten etwas über die Morde, hatten V-Leute, die direkt involviert waren. Der hessische Verfassungsschutz-Agent Andreas Temme war dabei, als Halit Yozgat 2006 in Kassel ermordet wurde.
Völlig offen ist, warum die Polizistin Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn ermordet wurde und ob diese Tat auch von Böhnhardt und Mundlos ausgeführt wurde. Der Tod der beiden selbst ist nicht aufgeklärt. Es gibt logische und technische Lücken in der Beweisführung in Richtung Selbstmord. In Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen kamen insgesamt vier Zeugen jeweils kurz vor ihren Aussagen unter seltsamen Umständen ums Leben.
Während der „Aufklärung“ der Mordserie haben VS-Ämter Akten vernichtet oder weggeschlossen. In dieser Zeit war Hans-Georg Maaßen Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Er agiert heute offen als Rechtsextremer.
Der NSU war mit Teilen des Staatsapparates verbunden. Seitens staatlicher Stellen diente die „Aufklärung“ in erster Linie zur Vertuschung, die Aufdeckung einiger Wahrheiten war lediglich die notwendige Begleitmusik. Es ist davon auszugehen, dass der NSU nie aufgehört hat zu existieren.
Kontrollverlust beim KSK
Auch bürgerliche Medien und Politiker*innen müssen zugeben, dass der Staatsapparat seit dem offiziellen Ende des NSU weit stärker von Rechtsextremen durchdrungen wurde. „NSU 2.0“ ist eine realistische Bezeichnung. Staatliche Stellen gucken nicht mehr nur weg oder unterstützen Nazis, die außerhalb des Staates agieren. Die aktiven Nazis sitzen selbst bei der Polizei oder der Bundeswehr. Dies ist eine neue Qualität.
Mit „NSU 2.0“ und ähnlichen Parolen wurden über neunzig Drohschreiben an Antwält*innen, Politiker*innen und Künstler*innen verschickt. Ein Teil der Angaben war nicht öffentlich zugänglich, sondern stammte aus Polizei-Computern. Es wird davon ausgegangen, dass hinter dieser Parole ein Nazi-Netzwerk innerhalb der hessischen Polizei steckt.
In Berlin-Neukölln wurde die Aufklärung von rechten Brandanschlägen mutmaßlich durch Staatsanwälte behindert, die mit der AfD sympathisieren und erst jetzt abgezogen wurden.
Rund um mehrere Soldaten der Bundeswehr-Einheit KSK (Kommando Spezialkräfte, rund 1100 Soldat*innen) hatte sich das „Hannibal-Netzwerk“ gegründet, welches Waffenlager und „sichere Häuser“ anlegte und sich auf einen Umsturz am „Tag X“ vorbereitete. An diesem Tag sollen „Linke“ entführt und getötet werden. Koordinator war KSK-Unteroffizier André S. vom Stützpunkt Calw, dabei waren auch Kriminalbeamte, Mitglieder von Sondereinsatzkommandos und Aktive des Reservisten-Vereins-Uniter sowie Soldat Franco A., der, als Syrer getarnt, einen Terrorangriff vorbereitete.
Polarisierung nach rechts und links
Dem KSK sind mehrere zehntausend Schuss Munition, über hundert Dienstwaffen sowie Sprengstoff „abhanden gekommen“. Rechte Soldaten horteten diese in ihren Häusern. Dies können sie nicht allein gemacht haben, an den Diebstählen müssen ganze Gruppen beteiligt gewesen sein. Der Einfluss der Nazis im KSK ist so groß, dass sich Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer im Juli 2020 gezwungen sah, die Einheit umzustrukturieren und die Ausbildung dem Heer zu unterstellen. Von einer Auflösung der Truppe sah sie jedoch ab. Auch Polizeimunition von SEK Bayern und Spezialeinheiten aus Nordrhein-Westfalen tauchte bei der Gruppe „Nordkreuz“ auf, die Teil des „Hannibal“-Netzwerks war.
Seit dem Auftritt von Pegida 2014 erlebt Deutschland eine neue Welle von Rassismus. Die AfD hat sich als rechtsextreme Partei etabliert. Doch in der Gesellschaft insgesamt gibt es nicht nur einen Rechtstrend, sondern eine Polarisierung. Mehr Menschen haben sich nach links entwickelt, haben die AfD konfrontiert, sind aktiv bei antifaschistischen Protesten oder in der Klimabewegung. Im Staatsapparat selbst ist das anders. Dort ist keine Polarisierung nach links erkennbar; die nach rechts ist eindeutig und massiv. Jede Regierungsbeteiligung einer Partei, welche die faschistischen Elemente als „links“ betrachten, und seien es nur die Grünen als CDU-Juniorpartner, könnte die Gewaltbereitschaft der Verschwörer erhöhen.
In einigen faschistischen Netzwerken in Polizei und Armee sind Fieberträume vom Aufstand und der großen Abrechnung entstanden. Die herrschende Klasse und die etablierten Parteien haben kein Interesse an solchen Putschplänen, sie herrschen relativ komfortabel per parlamentarischer Demokratie. Sie würden diese Netzwerke gerne klein halten, aber scheinen nicht willens oder nicht in der Lage, den Staatsapparat konsequent von faschistischen Elementen zu säubern und die ganze Bande aus dem Dienst oder ins Gefängnis zu werfen.
Die mörderischen Anschläge von Hanau und Halle wurden von „Einzeltätern“ ausgeführt. Wäre der Täter von Halle nicht an technischen Problemen gescheitert, wäre es dort zu einem Massenmord gekommen. Diese technischen Probleme hätten Täter*innen aus dem Staatsapparat nicht.
Antifa bleibt Handarbeit
Antifaschistische Initiativen und journalistische Arbeit haben mehr zu Aufklärung des NSU beigetragen als die Untersuchungsausschüsse. Politiker*innen, die dort unbequeme Fragen stellten, kamen schnell an ihre Grenzen. Beim Kampf gegen die Faschist*innen können wir uns nicht auf den Staat verlassen. Mehr Polizei, mehr Verfassungsschutz, das stärkt nur die Rechten.
Es ist weiterhin nötig, den Druck auf Nazis aufrecht zu erhalten, sie in die Öffentlichkeit zu zerren, jeden Aufmarsch und jede öffentliche Veranstaltung mit massenhaftem Widerstand zu konfrontieren. Ihre Nester müssen aufgespürt, Mitläufer*innen entmutigt werden.
Die antifaschistischen Bewegung ist demokratisch und diszipliniert, wir verteidigen erkämpfte demokratische Rechte und kämpfen gemeinsam für unsere sozialen Interessen. Und: Wir sind mehr. Das ist der Kern der Stärke der Arbeiter*innenbewegung und der sozialen Bewegungen. Am Ende wird es aber nicht reichen, wenn wir uns lediglich bei Demonstrationen gegen rechte Übergriffe schützen. Die antifaschistische und die Arbeiter*innenbewegung müssen die Nazi-Banden zerschlagen. Die Gewerkschaften sollten ihre vorsichtige Haltung aufgeben und und sich – als größte gemeinsame Organisation von Deutschen und Migrant*innen – aktiv am Kampf gegen die rechte Gefahr beteiligen.