Es scheint zur Zeit unwahrscheinlich, dass man das Infektionsgeschehen in Deutschland bald in den Griff bekommt. In fast allen Großstädten herrscht laut RKI ein „diffuses“ Infektionsgeschehen, ohne das eindeutige Infektionsherde auszumachen sind. In einem Artikel spekuliert RBB darüber, warum in Ostberlin weniger infiziert sind als in den zentralen Bezirken und im Westen. Ist es das Durchschnittsalter, die Bevölkerungsdichte, oder gar der höhere Migrant*innenanteil? Andere schieben die Verantwortung auf Jugendliche, die angeblich zu viel feiern. Das ist keine seriöse Suche nach Infektionsherden, sondern nach Sündenböcken.
Von Sebastian Rave, Bremen
Ganz in neoliberaler Manier wird die Verantwortung auf den Einzelnen und seine Entscheidungen gewälzt. Als wäre das Virus in der Freizeit gefährlicher, werden private Treffen und Kulturveranstaltungen eingeschränkt, während sich Schüler*innen in volle Klassenzimmer und Pendler*innen in überfüllte Busse und Bahnen quetschen müssen. Beim nachmittäglichen Spaziergang darf man sich nur mit Menschen aus einem anderen Haushalt treffen und gilt als gefährlich, doch morgens auf der Arbeit ist man anscheinend noch immun. Die Einkommensverhältnisse und Arbeitsbedingungen sind keine Faktoren in der öffentlichen Diskussion. Laut RKI sind größere Infektionsherde: Krankenhäuser, Kitas und Schulen, Alten- und Pflegeheime, Geflüchtetenunterkünfte (in Bremen ist die Landeserstaufnahmeeinrichtung in der Lindenstraße, eine Massenunterkunft in der im April Corona ausgebrochen war, skandalöserweise immer noch nicht geschlossen) und Obdachlosenunterkünfte, und immer noch die Fleischindustrie (Cloppenburg) und ein Frachtzentrum in Esslingen.
Infektionsherd Arbeit
Die gemeinsame Grundlage der Ansteckungen ist die Klassenzugehörigkeit der Infizierten. Es sind die Armen und die Arbeitenden, die unter der Pandemie am meisten leiden. Wer sich jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit in volle Busse und U-Bahnen quetschen muss, wer kein Homeoffice machen kann oder darf, wer auf seiner Arbeit nicht ausreichend geschützt wird oder gar in Massenunterkünften leben muss, in der Social Distancing beim besten Willen nicht möglich ist, wird schnell zum Superspreader – die es mittlerweile eben überall gibt.
Politisches Chaos
Die Politik reagiert kopflos. Der einigermaßen willkürlich festgesetzte Inzidenzwert von 50, ab dem Einschränkungen verordnet werden können, ist eigentlich zu hoch, um Infektionsketten noch nachverfolgen zu können. In Berlin bedeutet dieser Inzidenzwert, dass 1900 Infektionsketten pro Woche nachverfolgt werden müssen, und pro Infiziertem 80-90 Menschen kontaktiert werden müssen. Die Gesundheitsämter sind damit völlig überlastet. Die Bundesländer stecken mitten in einem Wettbewerb, wer härtere Lockdowns verordnet, und gleichzeitig die Wirtschaft so offen wie möglich lässt. Das mitterweile vielerorts wieder gekippte Beherbergungsverbot ist ein besonders dummes Beispiel des föderalistischen Flickenteppichs von Maßnahmen, das im konkreten Fall zu einem ungesunden Run auf Hausärzte für das begehrte negative Testergebnis geführt hat. Dienstreisen waren von dem Beherberbungsverbot natürlich ausgenommen.
So uneinig sich die Politik ist, so einig ist sich das Bürgertum: Ein zweiter Lockdown muss unbedingt verhindert werden. Zu hoch wäre der Preis für die Wirtschaft. Die Politik wird dabei von allen Seiten der verschiedenen Wirtschaftszweige auf dünnes Eis gezogen: Der Laden muss laufen – um fast jeden Preis. Vor dem Hintergrund des drohenden double dip, also dem zweiten Eintauchen in die Rezession, herrscht auch international ein Wettbewerb, wer seine Wirtschaft am besten durch die Pandemie bekommt.
Die kapitalistische Logik beinhaltet den Zwang zum dauerhaften Wachstum und zum Durchsetzen gegen die Konkurrenz. Im Rahmen dieser Logik ist die Abwägung „Wirtschaft gegen Menschenleben“ zwangsläufig, denn ein Stillstand oder Herunterfahren der Wirtschaft bedingt soziale Verwerfungen, untergräbt die Profite und führt zur Vernichtung von Kapital und Arbeitsplätzen. In einer demokratisch geplanten und solidarischen Ökonomie, die auf die Deckung von Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet ist, wäre ein zeitweiliger Shutdown kein Problem. Die Versorgung mit dem Notwendigen würde sichergestellt, andere Arbeiten würden später nachgeholt. Der gesellschaftliche Reichtum würde durch ein Pausieren von Produktion und Konsum nicht geringer.
Kapitalismus mit Vorerkrankungen
Die deutsche Industrie erlebt den größten Beschäftigungseinbruch seit der Krise 2010. 820.000 Stellen sind trotz Kurzarbeit vernichtet. Die Gesamtarbeitsstunden sind in einem Jahr um 10 % zurückgegangen. Das alles ist aber keine reine Corona-Krise: Es ist die Krise eines kapitalistischen Systems, das etliche Vorerkrankungen aufzuweisen hatte. Überproduktion, historische Ungleichheit, Perspektivlosigkeit für Millionen bei gleichzeitiger Unfähigkeit der Milliardäre, ihr Vermögen noch produktiv zu investieren, beherrschten das Bild auch vor der Pandemie.
Weltweit zeigte der Klimawandel als Fiebersymptom die Unfähigkeit einer konkurrenzbasierten und profitorientierten Wirtschaft, planvoll zu arbeiten und sich umzustellen. Die wachsenden Spannungen zwischen verschiedenen imperialistischen Staaten führen aktuell zu einem neuen Kalten Krieg, der bisher vor allem auf wirtschaftlicher Ebene stattfindet, aber zunehmend droht, sich in Stellvertreterkriegen – oder mehr – zu entzünden. Ein milder Verlauf dieser vielfachen Krise des Kapitalismus ist ausgeschlossen. Drastische Maßnahmen sind notwendig:
Kliniken und Gesundheitsämter aufrüsten, ÖPNV sicher machen durch mehr Verkehrsmittel. Dafür: Neue Jobs schaffen, deutliche Lohnsteigerungen und dauerhafte Gefahrenzulagen jetzt!
Demokratische Entscheidung in Betrieb und Schule über Gesundheitsschutz nach dem Prinzip: Maximaler Gesundheitsschutz für Alle statt maximaler Profit für wenige.
Unternehmen, die von der Pleite bedroht sind sowie Krisenprofiteure: Öffnung der Geschäftsbücher, Enteignung und demokratische Kontrolle der Beschäftigten, wenn nötig oder sinnvoll Produktionsumstellung.
Gesamtgesellschaftliche wirtschaftliche Planung statt Marktchaos – Abschaffung des Kapitalismus, für eine sozialistische Demokratie.