Obwohl Biden wenig beliebt und blass ist, liegt Trump in den Umfragen hinten. Corona hat die USA schwer getroffen, über 200.000 Menschen sind gestorben, die Wirtschaft ist abgestürzt wie nie. Weder Virus noch ökonomische Verwüstung sind unter Kontrolle. Trump hat auf die gefährdete Wiederwahl mit der Behauptung reagiert, dass er nur verlieren könne, wenn Wahlbetrug im Spiel sei. In diesem Fall würde er sein Amt nicht aufgeben. Wie weit kann er dieses Diktatoren-Spiel treiben?
Von Claus Ludwig, Köln
Trump prophezeite, der Streit um die Wahl würde wegen des Betruges, „den die Demokraten abziehen“ vor dem Supreme Court landen – und beeilte sich, das Gremium nach dem Tod der Richterin Ruth Bader Ginsburg schnell wieder auf neun Richter*innen aufzustocken, um sich eine Mehrheit zu sichern.
Wegen der Pandemie wird eine Rekordbeteiligung bei der Briefwahl erwartet. Nach Umfragen wählen eher Anhänger*innen der Demokraten per Briefwahl. Trump hat schon vor Monaten eine Kampagne gestartet, die Briefwahl als anfällig für Fälschungen darzustellen. Er warnte vor Betrug – und wirkte aktiv darauf hin, den US Postal Service (USPS) zu schwächen.
Zunächst verweigerte er zusätzliche Mittel, um die Möglichkeit der Briefwahl für alle am 3. November sicherzustellen. Der von Trump ernannte neue Post-Chef Dejoy verfügte im Juli Kürzungen, welche den Briefversand beeinträchtigen. Überstunden wurden nicht mehr genehmigt, Öffnungszeiten in Postämtern gekürzt, Briefkästen abgebaut, Technik in Briefzentren stillgelegt. Es ist einfach zu durchschauen, dass Dejoy in sein Amt gehievt wurde, um die Post vor der Präsidentenwahl 2020 gezielt zu schwächen. Trumps Geschichte von der anfälligen Briefwahl soll damit eine reale Basis bekommen, gleichzeitig wird die Post diskreditiert und für eine spätere Privatisierung sturmreif geschossen.
Ungerechtes Wahlsystem
Das Wahlsystem der USA ist nur eingeschränkt demokratisch. Durch das System der Wahlleute zählen die Stimmen in kleineren, konservativen Staaten im Mittelwesten mehr als in den bevölkerungsreichen Küstenstaaten. Bei der Wahl hatte 2016 bekam Trump fast drei Millionen Stimmen weniger als Hillary Clinton, siegte jedoch bei den Wahlleuten mit 304 zu 227.
Anders als in Deutschland bekommt man als Staatsbürger*in nicht automatisch eine Wahlbenachrichtigung geschickt, sondern muss sich aktiv registrieren. Das wirkt als Hürde für die Beteiligung von Menschen mit einem geringen Bildungsniveau und stressigen Mehrfach-Jobs. Die Wahlbeteiligung liegt bei nur 60%. Zudem ist das Wahlsystem in den 51 Bundesstaaten unterschiedlich. In einigen Staaten zählen die Stimmen der Briefwähler*innen nur wenn sie bis zur Wahl eintreffen, in anderen reicht der Poststempel bis zum Wahltag. Die Präsidentenwahl 2000 gewann der republikanische Kandidat George W. Bush ganz knapp vor dem Demokraten Al Gore. Entscheidend war der Staat Florida. Dort verschwanden Wahlurnen. Gores Name war auf dem Stimmzettel ungünstig platziert. Nach mehreren Neuauszählungen unter der juristischen Kontrolle des republikanischen Gouverneurs Jeb Bush wurde dessen Bruder zum Sieger erklärt.
Strategie der Spannung
Auf die Welle von Protesten gegen rassistische Polizeigewalt hat Trump mit einer Eskalation reagiert. Aus der Sicht des Rechtspopulisten war die Debatte nicht mehrheitlich zu gewinnen. Er konnte sie allerdings nutzen, um seine eigene Anhängerschaft zu festigen und zu radikalisieren und das Gefühl allgemeiner Unsicherheit zu befördern.
Die Polizei attackierte friedliche Demonstrationen nach dem Tod von George Floyd im Mai mit massiver Gewalt. In Portland, Oregon, gingen nicht gekennzeichnete Bundesbeamte im militärischen Outfit gegen Demonstrierende vor, beschossen ganze Demos mit Tränengas und Pfefferspray, nahmen Menschen ohne Begründung fest und fuhren diese zunächst an unbekannte Orte.
Angehörige rechter Milizen griffen mehrfach Demonstrationen der Black Lives Matter Bewegung an. Die Polizei ließ sie tagelang gewähren, während sie Menschen, die Lebensmittel für Demonstrierende lieferten mit Sondereinsatzkommandos attackierte und ihre Fahrzeuge zerstörte. In Kenosha, Wisconsin, ging Ende August der 17jährige Nachwuchs-Nazi Kyle Rittenhouse mit seinem halbautomatischen Gewehr seelenruhig an der Polizei vorbei, ermordete zwei Teilnehmer einer BLM-Demo und ging unbehelligt zurück durch die Polizeireihen. Er wurde erst am Tag darauf in seinem Wohnhaus festgenommen.
Trump setzt darauf, das Gefühl von allgegenwärtiger Gewalt und Bedrohung zu befördern, um sich als starken Mann für „Ruhe und Ordnung“ zu inszenieren. Die von der Polizei und den rechten Milizen ausgehende Gewalt soll dazu dienen, weitere Polizeigewalt zu legitimieren. In den 1970er Jahren war diese „Strategie der Spannung“ vor allem in der Türkei erfolgreich – der rechte Terror verängstigte und erschöpfte die Bevölkerung und legte die Grundlage für die Akzeptanzs des Militärputsches im September 1980.
Die Bewegung gegen die rassistische Gewalt darf sich von diesen Methoden nicht einschüchtern lassen. Die Proteste müssen umsichtig organisiert werden. Aber es darf nicht dazu kommen, dass die Drohung eines einzigen potenziellen Killers dazu führt, dass Proteste abgesagt werden. Das Selbstbewusstsein der Rechtsextremist*innen und ihre und Bereitschaft zur Zerstörung werden durch den rassistischen Staat gefördert. Doch die extreme Rechte ist zahlenmäßig weitaus kleiner als die sozialen Bewegungen wie BLM. Die Bewegungen stehen vor der Aufgabe, eine Strategie zur Selbstverteidigung zu entwickeln und sich in die Lage zu versetzen, die Gefährlichkeit der rechten Banden zu minimieren.
Die Frage ist nicht, ob Trump und sein Umfeld im Fall einer Wahlniederlage dazu fähig sind, sich eine Mehrheit herbei zu lügen und sich weigern, das Weiße Haus zu räumen. Trumps politische Psychologie basiert auf seinem Selbstverständnis als Unternehmer, der sich als unfehlbaren Boss sieht und Demokratie nur als schmückendes Beiwerk. Ohne Frage ist auch der harte Kern seiner Basis bereit, ihren Präsidenten unter Aushebelung demokratischer Rechte und mit Einsatz von Gewalt im Amt zu halten. Teile von Trumps Basis glauben an das Märchen, der egozentrische Milliardär wäre ein Kämpfer gegen das Establishment, welches sich gegen sie, die „einfachen“, weißen US-Amerikaner*innen verschworen hätte.
Wer entscheidet wirklich?
Die Entscheidung fällen aber nicht Trump und seine Anhänger*innen allein. Entscheidend ist, wie sich die herrschende Klasse in den USA, die Kapitalbesitzer*innen und ihre treuen Vertreter*innen in Politik, Militär, Verwaltung und Justiz verhalten. Das US-Kapital fährt seit dem Bürgerkrieg 1861-65 gut damit, keine diktatorischen Experimente zu erlauben. Das auf den beiden pro-kapitalistischen Parteien basierende Präsidialsystem ermöglicht eine effektive Durchsetzung der Kapitalinteressen und hat genug Warneinrichtungen und Sicherheitsventile, um aufkommenden Unmut zu erkennen und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Auch Trump ist trotz all seiner exzentrischen Manöver hart am Rande des Wahnsinns in das umfassende System von Checks & Balances eingebunden. Kongress, Senat und die große Unabhängigkeit der Bundesstaaten begrenzen seine Macht.
In den letzten Jahren sind Risse innerhalb der herrschenden Klasse aufgebrochen. Der Streit darüber, wie der Niedergang des US-Kapitalismus angesichts des Aufstiegs von China aufzuhalten ist, wirkt als Spaltpilz. Vertreter*innen der alten Industrien wie Kohle, Öl und Stahl, die besonders vom industriellen Niedergang betroffen sind, stützen Trump. Im Staatsapparat, in Polizei und Militär, gibt es Sympathien für Trumps rechtspopulistische Positionen. Die Rechtsentwicklung der Republikanischen Partei hat sich während Trumps Präsidentschaft beschleunigt. Sie ist jetzt offener rassistisch und sexistisch. In St. Louis, Missouri, stand ein wohlhabendes weißes Paar am Straßenrand und richtete seine Gewehre auf die BLM-Demonstration. Als Belohnung für ihre Provokation wurden die beiden zum Wahlparteitag der Republikaner eingeladen.
Andere Teile des Kapitals sind entsetzt darüber, wie wenig Trump in der Lage ist, eine Strategie gegen Chinas Aufstieg zu finden. Sein Hin und Her in der Außenpolitik und seine diplomatischen Amokläufe haben die USA stärker isoliert und die weltpolitische Rolle geschwächt.
Würde Trump versuchen, die Macht trotz einer Wahlniederlage zu behalten, würde das keine einheitliche Reaktion der ökonomisch Herrschenden zur Folge haben. In den Unternehmerverbänden, bei Polizei, Armee und Justiz würden scharfe Auseinandersetzungen geführt werden, innerhalb der Apparate würde um Positionen gerungen.
Welche Linie sich dabei durchsetzt, hängt von der Reaktion auf Trumps Operationen ab. Wenn das Wahlergebnis so knapp ist, dass sich seine Erzählung medial stützen und ausbauen lässt und die Proteste sich nur zögerlich entwickeln, könnten sich Staat und Kapital mit Trump arrangieren. Wenn eine neue explosive Massenbewegung entsteht, wenn der Betrug allzu offensichtlich ist, wenn das Vertrauen in die Institutionen noch weiter schwindet, dann wächst die Wahrscheinlichkeit, dass das System von Checks & Balances greift und politische oder juristische Wege gefunden werden, Trump loszuwerden und Biden als Präsidenten zu installieren. Mitch McConnell, republikanischer Mehrheitsführer im Senat, schrieb auf Twitter: „Der Sieger der Wahl am 3. November wird am 20. Januar ins Amt eingeführt. Es wird einen geordneten Übergang geben, so wie es seit 1792 alle vier Jahre der Fall war“ und bestätigt damit die bisherige Linie des Kapitals.
Spaltung der Herrschenden
Trump hat für die Kapitalist*innen einige schmutzige Jobs erledigt und ist auch weiter bereit dazu. Aber wenn der Preis dafür sein sollte, die Stimmung gegen das System stark anzuheizen, könnte dieser von den Herrschenden und ihren Vertreter*innen im Apparat als zu hoch angesehen werden. Gleichzeitig ist Trump nicht der Einzige, der mit der Diktatur flirtet. Angesichts von Geschwindigkeit und Wucht des Niedergangs der USA in der Corona-Krise und zu erwartender harter Klassenauseinandersetzungen liebäugeln breitere Schichten im Staatsapparat mit einer Ausweitung der Repression und begrüßen die vom Präsidenten betriebene Strategie der Spannung.
Sicher ist nur, dass weder Trump noch Biden der Krise des US-Imperialismus entkommen können. Sicher ist, dass beide eine Politik für die Superreichen und gegen die Mehrheit der Bevölkerung machen werden. Sicher ist, dass selbst im Fall einer klaren Niederlage und eines Rückzugs von Trump seine rechtspopulistische Basis die Geschichte von der gestohlenen Wahl glauben und sich darüber festigen wird, was – nach Jahren einer frustrierenden Präsidentschaft Biden – zu einer Rückkehr einer stärkeren und extremeren Rechten führen wird.
Wahrscheinlich ist aus der Sicht von Ende September ein Wahlsieg von Biden und – möglicherweise nach in die Länge gezogenen politischen und juristischen Streitereien – am Ende die Übergabe des Präsidentenamtes an die Demokraten. Bis dahin kann aber noch einiges passieren. Trumps Flirt mit der Diktatur ist ein Zeichen für die tiefe Krise des US-Kapitalismus, die tiefste seit seinem Siegeszug ab Ende des 19. Jahrhunderts. Ob es mehr wird als Flirt, ist noch nicht entschieden.