Seit dem 22. September laufen Warnstreiks im öffentlichen Dienst. Es geht um die Löhne von 2,3 Millionen Beschäftigten bei Bund und Kommunen, um die Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst in Ostdeutschland und um Zulagen und Entlastung in kommunalen Krankenhäusern sowie in manchen privatisierten Häusern wie bei Asklepios in Hamburg. Die Arbeitgeber haben bisher kein Angebot vorgelegt, wollen aber eine faktische Nullrunde bis mindestens 2023 durchsetzen. Am 22./23. Oktober gehen die Tarifverhandlungen mit der dritten und letzten Verhandlungsrunde weiter.
von Thies Wilkening, Hamburg
Die Bundestarifkommission von ver.di bezeichnet ihre Forderungen – 4,8 % bzw. mindestens 150 Euro Lohnerhöhung, 100 Euro mehr für Azubis und Arbeitszeitverkürzung in Ostdeutschland auf die im Westen üblichen 39 Stunden – als „Kompromiss“: Auf der einen Seite gebe es die Kolleg*innen, die die letzten Monate in Kurzarbeit waren und denen angesichts der Krise das Selbstvertrauen fehlt, um überhaupt irgendetwas zu fordern. Und auf der anderen Seite die Kolleg*innen aus systemrelevanten Berufen, die sich einen Ausgleich für die Mehrarbeit der letzten Monate wünschen und in manchen Bereichen schon seit Jahren deutlich mehr Lohn und Entlastung fordern.
Dass es diese Unterschiede gibt ist klar. Aber statt einen insgesamt niedrigen Kompromiss für alle zu finden hätte man über die 4,8 % hinaus zusätzliche Entgeltforderungen für die am stärksten belasteten Bereiche aufstellen können. In einzelnen ver.di-Gremien war zum Beispiel von 500 Euro mehr für die Kolleg*innen in den Krankenhäusern die Rede. Stattdessen gibt es jetzt einen separaten Verhandlungstisch für das Gesundheitswesen, an dem es um Zulagen, bezahlte Pausen und Entlastung geht, für den ver.di aber keine klaren Forderungen aufgestellt hat.
Bei den Flughäfen verhandelt ver.di über einen Absenkungs-Tarifvertrag, weil die ganze Luftfahrtbranche vor einem dauerhaften Niedergang stehe. Auch wenn das wahrscheinlich ist, sollten die Beschäftigten dafür nicht mit Lohneinbußen bezahlen, in der Hoffnung, dass ihr Flughafen noch ein Paar Jahre weiter betrieben wird und sie nicht gekündigt werden. Stattdessen könnte ver.di die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen innerhalb des öffentlichen Dienstes und Umschulungsangebote bei voller Lohnfortzahlung fordern. Unmöglich wäre das nicht, allein im öffentlichen Nahverkehr fehlen 15.000 Beschäftigte und in den nächsten zehn Jahren gehen weitere 30.000 in Rente.
Gewinnen kann man nur politisch
Bei Streiks im öffentlichen Dienst entsteht oft nur wenig direkter wirtschaftlicher Schaden für die Arbeitgeber. Deshalb ist öffentlicher Druck und Solidarität aus der Bevölkerung besonders wichtig. Die Ausgangslage dafür ist gut. Die Kolleg*innen in den Krankenhäusern und Altenheimen, bei der Müllabfuhr, in den Gesundheitsämtern, in Notdienst-Kitas oder im Jobcenter haben während des Lockdowns mit großem Einsatz und teilweise persönlichem Risiko den Laden am Laufen gehalten und wurden dafür gefeiert – aber nicht finanziell entschädigt.
Laut einer Forsa-Umfrage haben 63 % der Befragten Verständnis für Warnstreiks. Es ist richtig, dass mit dem Hashtag #UNVERZICHTBAR online für Unterstützung geworben wird. Zusätzlich sollte bei allen Warnstreik-Aktionen und in einem möglichen Erzwingungsstreik mit Material und Redebeiträgen auf die Öffentlichkeit zugegangen werden.
Die Arbeitgeber behaupten wie immer, die öffentlichen Kassen seien leer und die Forderungen deshalb unbezahlbar. Ein trotz Corona sicherer Arbeitsplatz ist laut dem Präsidenten des Arbeitgeberverbands VKA, Ulrich Mädge, „Mehrwert“ genug für den öffentlichen Dienst.
In den Städten und Kreisen ist die Rede davon, wie viele Millionen Euro Steuereinnahmen die jeweilige Verwaltung durch Corona verloren hätte. Aber diese Verluste werden zu großen Teilen vom Bund ausgeglichen, der Milliarden an die Kommunen zahlt. Zudem ist die Finanzlage der öffentlichen Kassen kein Schicksal oder Naturgesetz, sondern abhängig von politischen Entscheidungen.
Wenn die Vermögen der Reichen, die Gewinne von Unternehmen und ihren Aktionär*innen besteuert würden, könnte die Situation ganz anders aussehen. Wir als Sozialist*innen erklären das immer wieder, aber auch die Gewerkschaften könnten so gegen die vermeintlichen „Sparzwänge“ argumentieren. Leider redet ver.di nur von der Kaufkraft der Beschäftigten, die es zum Wohl der Gesamtwirtschaft zu steigern gelte, und sagt ein schnelles Ende der Krise mit anschließendem Wirtschaftsaufschwung voraus, um zu betonen, dass die Forderungen den Arbeitgebern eigentlich nicht weh tun würden.
Dass es dazu tatsächlich kommt ist aber bei weitem nicht sicher. Neben der unabsehbaren Corona-Entwicklung und der immer wieder zu Krisen führenden Überproduktion drohen mit der Deglobalisierung und dem sich entwickelnden „neuen Kalten Krieg“ zwischen zwei kapitalistischen ökonomisch-militärischen Blöcken neue Risiken für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung – um von den Auswirkungen ewigen Wachstums auf den Klimawandel gar nicht zu reden. Dementsprechend kurzsichtig ist eine gewerkschaftliche Argumentation, die dieses ewige Wachstum zur Grundlage hat und Krisen als kurzfristige Ausnahmen in einem eigentlich gut funktionierenden Kapitalismus versteht.
Fotopetition vs. Streikkundgebung?
Eins der zentralen Mittel von ver.di in der Tarifauseinandersetzung ist eine Online-Fotopetition. Gewerkschaftsaktive in Betrieben und Dienststellen sollen möglichst viele Kolleg*innen ansprechen, um Unterstützung für die Forderungen werben und zum Zeichen dieser Unterstützung Fotos von ihnen machen. Die Fotos sollen auf Papier oder Transparente gedruckt und vor der dritten Verhandlungsrunde den Vertreter*innen der öffentlichen Arbeitgeber übergeben werden. Auf die Wirkung der Fotopetition werden große Hoffnungen gesetzt, mit einer ähnlichen Aktion soll es in einer Uniklinik sogar gelungen sein, ohne Streik einen Tarifabschluss durchzusetzen.
Natürlich ist es gut und richtig, mit Kolleg*innen ins Gespräch zu kommen, sie für die Tarifrunde zu mobilisieren und zum Eintritt in die Gewerkschaft aufzufordern, wenn sie noch keine Mitglieder sind. Dafür kann die Fotopetition ein Mittel sein. Sie ersetzt aber nicht die reale Beteiligung von Kolleg*innen bei Warnstreiks und Kundgebungen. Dass Versammlungen unter freiem Himmel trotz Corona möglich sind und bei Einhaltung von Regeln wie der Maskenpflicht zu keinem erhöhten Infektionsrisiko führen, haben unter anderem die Black Lives Matter-Großdemos Ende Mai gezeigt. Deshalb gibt es keinen Grund, auf diese Möglichkeit, gemeinsam öffentlich Stärke zu zeigen, zu verzichten. Dabei kann auch die Solidarität mit streikenden Kolleg*innen aus anderen Bereichen wie dem Nahverkehr durch gegenseitige Besuche erlebbar gemacht werden.
Die Laufzeit entscheidet!
Die Arbeitgeber wollen eine Laufzeit bis mindestens 2023 – angeblich wegen der „Planungssicherheit“. In Wirklichkeit geht es natürlich darum, eine faktische Nullrunde („Inflationsausgleich“ bei geringer Inflationsrate) so lange wie möglich festzuschreiben.
Immer längere Laufzeiten liegen im öffentlichen Dienst im Trend – nachdem beim TVÖD, aber auch bei den Ländern lange zwei Jahre üblich waren, wurde in der letzten Tarifrunde für 30 Monate abgeschlossen, beim TV-L sogar für 33 Monate. Die Abschlüsse wurden als Erfüllung oder sogar Übererfüllung der Lohnforderungen verkauft, dabei wird aber „vergessen“, dass die Forderungen sich auf eine Laufzeit von einem Jahr beziehen und dass man Erhöhungsschritte, die erst nach einem oder zwei Jahren gezahlt werden, natürlich nicht einfach zu den sofort gezahlten Erhöhungen addieren kann, um auf eine Gesamtsumme über die ganze Laufzeit zu kommen.
Abgesehen vom Lohnverlust schwächen längere Laufzeiten auch die Gewerkschaften. Die meisten neuen Mitglieder werden immer dann gewonnen, wenn es Tarifauseinandersetzungen und (Warn-)Streiks gibt, weil Gewerkschaften für Kolleg*innen zu diesen Zeiten eben besonders wahrnehmbar sind. Je seltener Tarifrunden stattfinden, desto weniger sichtbar sind ver.di und GEW an der Basis – besonders dort, wo es keine aktiven Betriebsgruppen gibt – und desto schwächer wird die Durchsetzungskraft, wenn es darauf ankommt. Deshalb ist es wichtig, für eine möglichst kurze Laufzeit zu kämpfen. ver.di und GEW fordern zu Recht zwölf Monate und sollten der Durchsetzung dieser Laufzeit einen hohen Stellenwert einräumen.