Lockdown capitalism!

Der Teil-Lockdown ab Anfang November hat nach Angaben der Regierung den Zweck, ein unkontrolliertes Anwachsen der Infektionszahlen zu verhindern. Dieses Ziel steht allerdings unter dem Vorbehalt, die kapitalistische Wirtschaft am Laufen zu halten und die Stellung deutscher Konzerne in der internationalen Konkurrenz zu verteidigen. Während harte Einschnitte für Privatleben, Kultur, Freizeit, Sport und Gastronomie vorgenommen werden, sind Fabriken, Büros, Bussen und Bahnen voll. Schulen und Kitas bleiben geöffnet, vor allem, weil die Eltern weiter arbeiten sollen.

SAV-Bundesvorstand

Drei Viertel aller Infektionswege können derzeit nicht nachvollzogen werden. Die Regierung handelt so, als wären Jugendliche in einem vollen Klassenzimmer immun, während sie am Nachmittag auf einem Sportplatz oder auf der Straße zu Superspreader*innen mutieren. Private Treffen machen Menschen angeblich zu Gefährder*innen, weitaus häufigere und engere Treffen am Arbeitsplatz behandelt die Regierung als unbedenklich. Im ÖPNV, am Arbeitsplatz, in Schulen und Kitas verbreitet sich das Virus. 

Im Frühjahr wurden vor allem ältere Menschen positiv getestet. Inzwischen ist das Virus relativ gleichmäßig in allen Altersgruppen verteilt, bei 10-19jährigen ebenso wie bei Menschen zwischen 40 und 60. Nur bei den 0-9jährigen ist der Anteil der Corona-Positiven – noch – etwas geringer. Allerdings werden jüngere Menschen seltener getestet, weil sie nicht so häufig Symptome haben. Am 12. November waren 300.000 Schüler*innen in Quarantäne.

Der Kultur- und Sozial-Lockdown ist nicht das beste Mittel, um den Virus schnell und umfassend zu bremsen. Die Ausbreitung mag verlangsamt werden. Im Dezember könnte es dann Erleichterungen geben, als Zugeständnis an den Handel im Weihnachtsgeschäft und zur Laune-Aufhellung für die Bevölkerung. Danach drohen allerdings wieder neue Beschränkungen, möglicherweise bis hin zu drastischen Einschnitten in demokratische Rechte wie abendliche Ausgangssperren, wie sie in Österreich und Spanien verhängt wurden. Frustrationen, Depressionen, schwierige häusliche Situationen von Kindern, Frauen und Familien, Einsamkeit werden zunehmen. Mehrere Hunderttausend Menschen gehen auf das Ende ihrer wirtschaftlichen Existenz zu.

Widersprüche fördern Widerspruch

Ein weiterer Effekt wird sein, dass die freiwillige Disziplin und Bereitschaft, sinnvolle Einschränkungen hinzunehmen, untergraben wird. Im Frühjahr war die Zustimmung zu den Maßnahmen groß, die meisten haben mitgemacht. Diese Einigkeit ist verschwunden. In den Medien wird diskutiert, in jedem Restaurant, in jeder Kneipe, so lange die noch offen waren, diskutierten Gäste und Gastronom*innen und kritisierten die Maßnahmen. Auch die bürgerlichen Medien und Fachleute debattieren die Verhältnismäßigkeit und Wirksamkeit der Maßnahmen kontrovers.

Die zum Teil absurde Widersprüchlichkeit wird mehr Menschen dazu treiben, die Maßnahmen insgesamt in Frage zu stellen, auch sinnvolle Einschränkungen zu umgehen oder offen gegen als Schikanen empfundene Beschränkungen zu rebellieren. Das wird begleitet sein von mehr Repression und Spitzelei, von durch die Polizei und Ordnungsamt verhängten Strafen, von mehr Willkür der staatlichen Kräfte. Dass die Maßnahmen ohne breite gesellschaftliche Debatte, es gab nicht einmal vorher eine parlamentarische Diskussionen, umgesetzt werden, wird die Frustration anheizen.

Das Virus lässt sich nur effektiv eindämmen, wenn die gesamte Bevölkerung in diesen Kampf einbezogen wird. Es braucht demokratische Diskussionen und Vorschläge über den besten Weg. Die besten Lösungen würden die Betroffen selber finden, in Absprache mit Fachleuten. Die Eltern und Erzieher*innen, die Beschäftigten im Betrieb, die Pflegekräfte und Reinigungskräfte…

Würde es echte Diskussionen geben, in Schulen, Betrieben, auf lokaler, regionaler und bundesweiter Ebene, über sinnvolle und über sinnlose Maßnahmen, dann würden nicht nur viele gute Ideen dabei herauskommen, es würde auch eine breite gesellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen geben, die auf dieser Basis getroffen worden wären. Die nötigen Einschränkungen würden weniger drastisch ausfallen und gleichzeitig nachhaltig sein.

Bisher gut durch die Pandemie?

Die deutsche Regierung hat den Ruf, bisher gut durch die Pandemie gekommen zu sein. Angesichts der Katastrophen in den von den Horror-Clowns regierten Ländern USA, Großbritannien und Brasilien ist das verständlich. Aber es nicht wahr. 

Die Regierung hat im Februar die Pandemie unterschätzt und die Chance verschlafen, das Virus sofort einzudämmen. Alle etablierten Parteien haben komplett dabei versagt, das Bildungssystem zu verändern. Die einzelnen Schulen und Lehrer*innen haben viel gemacht, aber das System insgesamt ist unverändert unterfinanziert und marode. Die Intensivstationen wurden aufgerüstet, neue Beatmungsgeräte beschafft. Doch die personelle Ausstattung bleibt hinter der technischen zurück. An der entscheidenden Stelle, bei der Belastung und Finanzierung des Personals gibt es keine Fortschritte. Die bescheidene Verbesserung in der Bezahlung wurde durch die Kolleg*innen und ver.di gegen den Widerstand der öffentlichen Arbeitgeber errungen. Sie wertet den Beruf aber nicht in dem nötigen Maße auf, um mehr Pflegefachkräfte zu gewinnen.

Was möglich wäre

Wenn die Regierung wirklich mit einer kurzfristigen drastischen Aktion die Welle würde brechen wollen, müsste sie auch Produktion, Handel, Verkehr und Schulen lahmlegen anstatt das kapitalistische “Weiter so” mit zum Teil absurden Beschränkungen des kulturellen und sozialen Lebens zu kombinieren. Doch aufgrund ihrer Orientierung an den Interessen der Konzerne haben die bürgerlichen Parteien kein wirksames Konzept, weder kurz- noch langfristig. Sie haben kein Plan B, nicht einmal einen Plan A.

Die etablierten Parteien sind bereit, kleine Unternehmen über die Klinge springen zu lassen und zeigen wenig Mitleid mit Gastronom*innen und Kulturschaffenden. Sie opfern diese für die großen Handels- und Industriekonzerne. Merkel und Co. sind weder willens noch in der Lage, Corona zu bekämpfen. Ein echter, kurzer “Wellenbrecher-Lockdown” wäre eine Option, wenn die Zeit genutzt würde, um Tests und Nachverfolgung auszubauen sowie Schulen, ÖPNV und Betriebe umzuorganisieren.

Durch die Wiedereinführung der Vermögensteuer und eine Corona-Abgabe auf große Vermögen kann die Pausieren der Wirtschaft finanziert werden, bei voller Lohnfortzahlung für alle Beschäftigten und mit Hilfen für Selbstständige, die eine Pleite verhindern. Gerade während der Pandemie haben Deutschland große Konzerne ihre Profite steigern können. Die Aldi-Besitzer*innen allein haben ihr Vermögen um 7 Milliarden Euro gesteigert, SAP-Gründer Hopp um 4 Milliarden, LIDL-Eigentümer Schwarz um 11 Milliarden, Familie Würth um 7 Milliarden, Klatten (BMW) um 2,7 Milliarden.

Auch abseits umfassender Kontaktbeschränkungen bestehen Möglichkeiten, die Infektionsgefahr zu verringern. An den Schulen sind kleinere Klassen und Fortschritte bei der Digitalisierung überfällig. Die Bildungsministerien des Bundes und der Länder gefährden sowohl die Gesundheit von Lehrer*innen, Schüler*innen und deren Angehörigen als auch die Bildung. Die NRW-Bildungsministerin (FDP), die Ikone des Komplettversagens der etablierten Politik, hat das von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vorgeschlagene “Solinger Modell” eines geteilten Unterrichts mit kleineren Gruppen per Erlass verboten und will durchsetzen, dass weiter Schüler*innen in vollen Klassenräumen sitzen.

Technisch sind Verbesserungen möglich. Luftfilteranlagen für einen Klassenraum kosten je nach Größe des Raumes zwischen 1000 und 3000 Euro oder umgerechnet rund 100 Euro pro Schüler*in. Bürgerliche Politiker*innen behaupten allen Ernstes, es wäre zu teuer, sämtliche Schulen damit auszurüsten. Ein einziger Eurofighter der Bundeswehr kostet rund 100 Millionen Euro. Für den Preis eines einzigen Jets könnten eine Million Schüler*innen mit virenfreier Luft versorgt werden.

Es ist auch ohne epidemiologische Untersuchungen davon auszugehen, dass sich Schüler*innen und andere Fahrgäste in vollbesetzten oder gar überfüllten Bussen und Bahnen anstecken. Gleichzeitig stehen Tausende Reisebusse still, die Fahrer*innen sind in Kurzarbeit-Null oder bereits entlassen. Die Unternehmen und die Beschäftigten bekommen staatliche Hilfen. Es wäre ein leichtes und von heute auf morgen machbar, insbesondere im morgendlichen Berufs- und Schulverkehr sämtliche verfügbaren Reisebusse als Verstärkerlinien einzusetzen und so das Infektionsrisiko spürbar zu reduzieren.

Die Gesundheitsämter kommen mit der Kontaktverfolgung nicht mehr hinterher. Es gibt Zehntausende Beschäftigte in Call-Centern, die einen komplett ausgestatteten Arbeitsplatz und zusätzlich Übung darin haben, um Menschen telefonisch zu kommunizieren. Derzeit sind sie weiter damit beschäftigt, Menschen mit Werbeanrufen zu nerven, um ihnen einen neuen Handy-, einen Stromvertrag oder irgendein Abo aufzuschwatzen. Sie würden sich freuen, bei mindestens gleichem Lohn etwas Sinnvolles zu tun. Die Call-Center könnten unter demokratischer Beteiligung der Beschäftigten für die telefonische Nachverfolgung genutzt werden. Anstatt mit hohem Aufwand kleine Gruppen von Soldat*innen in die Gesundheitsämter zu schicken, könnten die Call-Center den Gesundheitsämtern  unterstellt werden.

Antigen-Tests können innerhalb von 15 Minuten nachweisen, ob eine Person aktuell infektiös ist. Der Materialaufwand pro Test ist auch nicht größer als der für eine einzelne Plastikwasserflasche. Die Verfahren sind bekannt. Durch die Veröffentlichung der Patente und Verfahren zur Herstellung der Antigen-Tests einschließlich der Baupläne der Produktionsanlagen könnten die Kapazitäten innerhalb kurzer Zeit vervielfacht werden. Aber auch für die Durchführung dieser Tests  ist deutlich mehr Personal nötig: in Krankenhäusern, Altenpflegeeinrichtungen, Schulen und Kitas.

Linke Positionierung

Die Regierung war trotz Warnungen nicht auf die Pandemie vorbereitet. Sie war nicht auf die zweite Welle vorbereitet. Die Betroffenen, die Beschäftigten, die Gewerkschaften und DIE LINKE  müssen die Konsequenzen aus diesen Erfahrungen ziehen.

Die Gewerkschaften vertreten zwar richtige Forderungen zum Schutz der Beschäftigten, aber sie widersprechen nicht der politischen Linie von Regierung und Kapital. DIE LINKE ist weitgehend abgetaucht. Sie macht im Einzelnen gute Vorschläge, aber ist als grundlegend oppositionelle Kraft nicht erkennbar. DIE LINKE-Gesundheitssenatorin des Bundeslandes Bremen, Claudia Bernhard, setzt die Beschränkungen in Kraft, ohne den Sinn und möglicherweise Unsinn einzelner Maßnahmen überhaupt zu kommentieren, ohne weitergehende Vorschläge zu machen und ohne umfassende Debatte im Landesparlament – linke Politik als bürgerlicher Verwaltungsakt auf dem Weg in die Überflüssigkeit.

Es ist dringend nötig, eine klare linke Opposition gegen die Corona-Strategie der herrschenden Klasse und ihrer Parteien zu formulieren – zur Verteidigung von Jobs und Einkommen. Gegen die Abwälzung von Krisenlasten und gesundheitlichen Risiken auf die arbeitenden Menschen. Für eine effektive Pandemie-Bekämpfung. Gegen die Einschränkung demokratischer und persönlicher Freiheitsrechte. Für ein anderes Bildungssystem, für ein besseres Gesundheitswesen. Für eine Vermögensabgabe und eine dauerhaft höhere Besteuerung von Reichtum und Kapitaleinkünften, um die Kosten der Krise nicht auf die Arbeiter*innenklasse abzuwälzen.

Die Pandemie hat die Grenzen der kapitalistischen Marktwirtschaft wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht. Beispiel Gesundheitswesen: Ohne eine Überführung der Pharmaindustrie und der privaten Krankenhäuser in öffentliches Eigentum, ohne die Abschaffung der Fallkostenpauschalen bei Umstellung auf eine bedarfsgerechte Finanzierung und ohne die Einstellung von jeweils zusätzlichen 100.000 Beschäftigten in Krankenhäusern und Altenpflege bei tariflicher Bezahlung, wird sich nichts Grundlegendes an der Situation ändern.

Die dringend nötige bedarfsgerechte Finanzierung des Gesundheitswesen, der Schulen und des öffentlichen Verkehrs und die Absicherung der Einkommen und Arbeitsplätze aller Beschäftigten bei nötiger Produktionsumstellung ist nur durch demokratische Planung und nicht durch blinde Marktgesetze zu ermöglichen. Der Kapitalismus, der auf Privateigentum an Konzernen und Banken, auf Profit und Konkurrenz basiert, ist dazu dauerhaft nicht in der Lage. Es ist jetzt an der Zeit, an der Verbreitung sozialistischer Gesellschaftsalternativen zu arbeiten und in den täglichen Abwehrkämpfen eine solche Perspektive zu eröffnen. 

Wenn Arbeiter*innenbewegung, die Linke insgesamt und vor allem DIE LINKE als Partei keine eindeutige linke Opposition gegen die Corona-Politik der Regierenden einnimmt, besteht die Gefahr, dass die bisher isolierten rechten Corona-Leugner*innen stärker an der Frustration von Menschen anknüpfen können, deren Existenz gefährdet ist oder drangsalierte Jugendliche sich in wenig zielführende Auseinandersetzungen mit staatlichen Organen begeben. Die Zeit drängt.