Ungleiche Bezahlung, prekäre Arbeitsbedingungen in sogenannten „frauendominierten“ Berufen, massive Mehrfachbelastung durch unbezahlte Kindererziehung, Hausarbeit und Pflege von Familienangehörigen, Sexismus am Arbeitsplatz, in der Familie und in Partnerschaften, sexistische Rollenbilder in Medien, Bildung und Erziehung, Diskriminierung, sexistische Übergriffe und Gewalt: Das alles gehört zum Alltag für Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft.
Sarah Moayeri, Wien
Trotz einiger Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte zur (rechtlichen) Gleichstellung von Frauen sind Sexismus und Unterdrückung weiterhin allgegenwärtig. Die Corona-Krise hat zu einem Anstieg an Gewalt gegen Frauen und Femiziden (Morde an Frauen aufgrund ihres Geschlechts) geführt. Wie in jeder ökonomischen Krise treffen Arbeitslosigkeit, Armut, Perspektivlosigkeit und Austeritätspolitik Frauen besonders hart. Der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen und anderer medizinischer Versorgung wird zunehmend eingeschränkt (wie zuletzt in Polen, wo Abtreibung bis auf wenige Ausnahmen verboten ist). Lockdown und „Social Distancing“ verstärken traditionelle Rollenmuster und Abhängigkeitsverhältnisse. Vielen Frauen sind noch mehr als sonst in den eigenen vier Wänden gefangen und damit häuslicher Gewalt schutzlos ausgeliefert. Sie müssen einspringen, wenn Schulen und Kindergärten geschlossen und ambulante Pflegehilfen zurückgefahren werden.
Auf besonders bedrückende Art hat die Corona-Krise gezeigt, wie abhängig der Kapitalismus vor allem in Krisenzeiten von der bürgerlichen Familie und konservativen Rollenbildern ist – mit allen negativen Auswirkungen.
Doch der Anstieg der Gewalt gegen Frauen passiert auch in einer Zeit, in der in den letzten Jahren durch verschiedene Frauenbewegungen in diversen Ländern eine Veränderung des Bewusstseins stattgefunden hat. Vor allem junge Frauen haben sich anhand von Fragen persönlich erlebter Diskriminierung, des Sexismus und vor allem (sexualisierter) Gewalt radikalisiert.
Sie wollen traditionelle Rollenbilder, grenzverletzendes Verhalten, Sexismus und Gewalt nicht länger dulden. Das ist eine sehr wichtige Entwicklung. Gleichzeitig zeigen die jüngsten feministischen Kämpfe und Bewegungen – von #metoo bis hin zu den Kämpfen um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch – dass die Bewegung ein politisches Programm, Klarheit, Führung und Strategie braucht, um Sexismus nachhaltig und langfristig zurückzudrängen.
Sozialistische Antworten auf Frauenunterdrückung, unser Programm und unsere Kampfvorschläge müssen auf einer marxistischen Analyse von Sexismus und Gewalt gegen Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft basieren. Veränderung kann nur erreicht werden, wenn wir das Übel an der Wurzel packen.
Ursachen von Frauenunterdrückung
Schon Ende des 19. Jahrhunderts skizziert Friedrich Engels in seinem Werk „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“, wie die Entstehung von Privateigentum und damit der Klassengesellschaft die gesellschaftliche Arbeitsteilung prägte und so die Grundlage der „traditionellen“ Familie schuf: „Die Führung des Haushalts verlor ihren öffentlichen Charakter. Sie ging die Gesellschaft nichts mehr an. Sie wurde ein Privatdienst; die Frau wurde erste Dienstbotin, aus der Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion verdrängt.“ Die sich später entwickelnden Klassengesellschaften und letztlich die kapitalistische Gesellschaft profitierten von dieser Privatisierung der Haus- und Pflegearbeit und der Spaltung der Arbeiter*innenklasse in Männer und Frauen – bis heute. Auch wenn sich im letzten Jahrhundert vieles an der „traditionellen“ Familie und an der Rolle der Frau geändert hat, sind die grundlegenden Strukturen und die ökonomische Basis für die Benachteiligung von Frauen im Kapitalismus gleich geblieben.
Die Ersparnis für die Herrschenden durch unbezahlte Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege ist massiv. Oxfam hat Anfang 2020 eine Studie veröffentlicht, nach der Frauen und Mädchen weltweit jeden Tag zwölf Millionen Stunden der Pflege von Angehörigen, der Kindererziehung und dem Haushalt widmen. Wenn diese Arbeit mit dem Mindestlohn des jeweiligen Landes bezahlt würde, entspräche das einer Summe von 11 Billionen US-Dollar im Jahr. Das Abwälzen dieser Aufgaben auf Frauen und in private Sphären führt einerseits zu Mehrfachbelastungen und verfestigt andererseits Abhängigkeiten und das traditionelle Bild der Frau als eine dem Mann untergeordnete Person, die aus biologischen Gründen für alle Bereiche der Care-Arbeit zuständig ist.
Lohnunterschiede, prekäre Arbeitsbedingungen und die Tatsache, dass die Arbeitskraft von Frauen schlecht(er) bezahlt wird, vertieft die Spaltung zwischen Männern und Frauen aus der Arbeiter*innenklasse. Diese ökonomisch ungleiche Stellung von Frauen in der Gesellschaft ist die grundlegende gesellschaftliche Basis für Sexismus und Gewalt gegen Frauen. Frauenfeindliche und sexistische Ideologien haben sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt und fortgeschrieben. Sie sind deshalb tief in der bürgerlichen Gesellschaft und in unseren Köpfen verankert.
Die systematische Unterdrückung von Frauen findet ihren dramatischsten Ausdruck in häuslicher und sexualisierter Gewalt bis hin zu Femiziden. Jede dritte Frau weltweit wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Der systemimmanente Frauenhass basiert darauf, dass Männer immer noch als das „stärkere“, „klügere“ und „bessere“ Geschlecht gelten, Frauen als minderwertig und unterwürfig.
Es ist kein Zufall, dass die neuen Frauenbewegungen Gewalt an Frauen offensiv thematisieren und zum zentralen Thema haben. Die permanente Bedrohung, der Frauen zu Hause, in Partnerschaften, am Arbeitsplatz und auf offener Straße ausgesetzt sind, hat offensichtlich direkte Auswirkungen auf das Leben und den Alltag. Der gefährlichste Ort für Frauen ist weiterhin das eigene zu Hause.
Bei sexualisierter Gewalt geht es nicht um Sex – es geht darum, Macht zu demonstrieren und auszuüben. Dies gilt im persönlichen Bereich und am Arbeitsplatz genauso wie auf der großen politischen Bühne.
So war sexualisierte Gewalt in Ägypten und anderen Ländern ein wichtiges, brutales Mittel, um die Arbeiter*innenklasse zu demoralisieren und die zahlreichen Frauen, die im sogenannten „Arabischen Frühling“ an vorderster Front der Bewegung standen, einzuschüchtern.
Auch wenn durch und durch befreite sexuelle und romantische Beziehungen gleichberechtigter Individuen erst in einer egalitären, sozialistischen Gesellschaft möglich sein werden, ist das Prinzip des Konsens schon heute der Maßstab, an dem Männer ihr Verhalten gegenüber Frauen ausrichten sollten. Dank feministischer Debatten um „Nein heißt Nein“ und „Ja heißt Ja“ gibt es zum Teil heute ein höheres Bewusstsein dafür, was konsensualer Sex bedeutet.
Den Kampf gegen Gewalt an Frauen bewusst aufnehmen!
Ein effektiver Kampf gegen Gewalt an Frauen darf nicht dabei stehenbleiben, Übergriffe öffentlich zu machen, härtere Sanktionen oder Strafen gegen Täter*innen zu fordern oder dazu aufzurufen, individuell das eigene Verhalten zu reflektieren, sondern muss viel weiter gehen.
Es muss darum gehen, die Empörung über einzelne Fälle zu einem allgemeinen Kampf für grundlegende Veränderungen zu machen. Ohne sie kann das individuelle Verhalten nicht nachhaltig verändert werden. Das bedeutet: Politische Kämpfe gegen rape culture, sexistische Werbung, für Aufklärungs- und Sexualkundeunterricht an Schulen, für eine Ächtung von Sexisten und Vergewaltigern müssen damit einhergehen, den bürgerlichen Staat und damit das herrschende Justizsystem an sich abzulehnen.
Soziale Verbesserungen, wie der Ausbau von Frauenhäusern und anderer Schutzeinrichtungen, bezahlbarer Wohnraum für alle, kostenlose und flächendeckende Kinderbetreuung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, höhere Löhne, eine ausreichende Finanzierung des Gesundheits- und Sozialbereichs sind zentral im Kampf gegen Gewalt an Frauen. Gewalt gegen Frauen ist also auch eine Klassenfrage: Frauen aus ärmeren Schichten und der Arbeiter*innenklasse fehlen häufig die finanziellen Mittel, Gewalt auszuweichen.
Sexismus bekämpfen, Kapitalismus abschaffen
Sexistische Unterdrückung umfasst mehr als individuelles Verhalten – sie ist systematisch. Der Kampf gegen Sexismus und Frauenunterdrückung ist deshalb in erster Linie ein politischer Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse. Wenn wir davon ausgehen, dass Frauenunterdrückung und damit auch Sexismus untrennbar mit dem kapitalistischen System und der Klassengesellschaft verbunden sind, muss die Abschaffung von beidem das Ziel sein.
Kämpfe gegen Diskriminierung, Sexismus und Kapitalismus können nicht erfolgreich geführt und schon gar nicht gewonnen werden, wenn die Arbeiter*innenklasse entlang unterschiedlicher Unterdrückungslinien (Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Herkunft, Religion) gespalten ist. Diese Spaltung zu überwinden ist daher eine zentrale Aufgabe. „Bewusstseinsarbeit“ ist dafür notwendig aber unzureichend. Die Erfahrung zeigt, dass vor allem im gemeinsamen Kampf, in Streiks, Protesten und Kampagnen, nicht nur, aber auch gegen Sexismus, Vorurteile abgebaut werden. Es gibt keine unüberwindbaren Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Die Arbeiter*innenklasse ist in der Lage, Spaltungen zu überwinden und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, in der nicht der Profit der herrschenden Klasse Dreh- und Angelpunkt der menschlichen Verhältnisse und der gesellschaftlichen Strukturen ist, sondern die Bedürfnisse und Fähigkeiten aller.
Die Massenbewegungen 2019 in nahezu allen Teilen der Welt, die sich heute zum Teil fortsetzen, waren zu einem großen Teil geprägt von einem weiblichen, jugendlichen und proletarischen Charakter. Frauen sind – aufgrund ihrer spezifischen Unterdrückung – oft die entschlossensten Kämpferinnen revolutionärer Bewegungen. Der Kampf gegen Sexismus und Frauenunterdrückung ist daher so eng wie noch nie damit verbunden, eine schlagkräftige Arbeiter*innenbewegung aufzubauen, die in der Lage ist, das verrottete kapitalistische System mit all seinen verkrusteten Strukturen und Ideologien abzuschaffen und damit auf die Basis für die Unterdrückung der Frau endlich zu überwinden.