von Keely Mullen, Socialist Alternative, USA
Zuerst kam die Meldung: „Pro-Trump-Mob bricht in Kapitol ein.“ Dann: „Kongressabgeordnete werden aufgefordert, sich unter ihren Stühlen zu verstecken“, gefolgt von: „Schüsse im Sitzungssaal.“
Die Stürmung des Kapitols schockierte hunderte Millionen Menschen in den USA und auf der ganzen Welt. Das Chaos, das sich im Inneren eines der Grundpfeiler der amerikanischen Macht abspielte, ist in vielerlei Hinsicht eine Verkörperung der vielschichtigen Krisen, die das Land erfasst haben. Stundenlang war das Kapitol von einem Mob besetzt, der von rechtsextremen und faschistischen Teilen angeführt wurde, die entschlossen waren, die Ergebnisse der Novemberwahlen zu kippen.
Kurz nachdem das Kapitol gestürmt worden war, wurden die Mitglieder des Kongresses an einen „sicheren Ort“ gebracht, als die Rechtsextremen die Kammern des Repräsentantenhauses und des Senats stürmten. Die Rechtsextremen wanderten durch die Hallen des Kongresses, stahlen Nancy Pelosi die Post, rissen Gemälde ab. Ein Mann nahm sogar ein ganzes Pult mit und spazierte damit durch die Eingangstür hinaus.
Die völlige Unvorbereitetheit der Capitol Police auf den Angriff auf das Kapitol stand in krassem Gegensatz zu der Art und Weise, wie die Polizei auf Black Lives Matter-Proteste im vergangenen Sommer reagiert hat. Tausende Nationalgardisten wurden während der Proteste am 1. Juni mobilisiert, um „das Kapitol zu schützen“, während in einer Stadt nach der nächsten brutale Methoden angewandt wurden. Die Aktion gestern hingegen wurde, wie inzwischen bekannt ist, von den Rechten in den sozialen Medien schon seit Wochen offen geplant, aber selbst das hat keine Reaktion der Strafverfolgungsbehörden ausgelöst.
In den letzten Wochen und Monaten vor diesem „Aufstand“ hat Trump nicht versucht, seine Ambitionen eines Putsches zu verstecken (denken wir nur an „Proud Boys, haltet euch zurück und haltet euch bereit“). Bis gestern Abend hat er wiederholt erklärt, dass er das Wahlergebnis nicht anerkennen oder akzeptieren wird. Er hat den Weg für die gestrigen Ereignisse während seiner 2020er Wahlkampagne geebnet. Er warnte vor weit verbreitetem Wahlbetrug und falschen Briefwahlstimmen. Und er stellte mehr als deutlich klar, dass alles außer einem Erdrutschsieg für ihn “Wahlbetrug” sein würde.
Nach der Wahl hat Trump – neben der Einreichung von 60 Klagen – versucht, republikanische Beamt*innen in Schlüsselstaaten zur Aufhebung der Ergebnisse zu drängen. Zuletzt hat er in einem – inzwischen geleakten – Anruf versucht, den Staatssekretär von Georgia, Brad Raffensperger, einzuschüchtern, damit dieser 11.000 Stimmen „findet“. Er hat sich an Diskussionen mit Verschwörungsmystiker*innen über die Ausrufung des Kriegsrechts beteiligt. Schließlich hat er versucht, den Vizepräsidenten Mike Pence dazu zu bringen, im Alleingang und während der Bestätigung durch den Kongress die Wahlergebnisse zu kippen.
„Zerstört die GOP!“
Bevor er gestern zum Capitol marschierte, hielt Trump eine „Rettet Amerika“-Kundgebung ab, bei der er “illoyale” Republikaner*innen wie Mike Pence und Mitch McConnell anprangerte, die den Sieg von Joe Biden bestätigen wollten. Trump rief seine Anhänger*innen auf, zum Capitol zu marschieren und „schwache Republikaner*innen“ ins Visier zu nehmen.
Bei einer Pro-Trump-Kundgebung im Dezember in D.C., “um den Wahlbetrug zu stoppen“, rief Nick Fuentes, ein rechtsextremes Aushängeschild und bekennender weißer Rassist: „Wir haben versprochen, dass, wenn die GOP („Grand Old Party“, gemeint sind die Republikaner, Anm. d. Übers.) nicht alles in ihrer Macht stehende tun würde, um Trump im Amt zu halten, wir die GOP zerstören würden.“ Es folgte ein begeisterter Sprechchor aus der Menge: „Zerstört die GOP!“ Trump selbst hat dazu aufgerufen, den republikanischen Gouverneur von Georgia ins Gefängnis zu stecken und Republikaner*innen, die sich ihm widersetzen, als „RINOs“ („Republican in Name Only“ – Leute, die sich nur Republikaner*in nennen; Anm. d. Übers.) zu beleidigen.
Wie wir immer wieder gewarnt haben, sind die Rechten noch da – trotz Trumps Wahlniederlage und der hohen Wahrscheinlichkeit, dass seine Versuche, das Wahlergebnis zu kippen, am Widerstand der Konzerneliten und wichtiger Teile des Staatsapparats scheitern werden. Vielmehr dürften sie unter einer Biden-Regierung und der anhaltenden kapitalistischen Krise sogar noch weiter wachsen.
Die tatsächlichen faschistischen und quasi-faschistischen Gruppen bleiben noch immer relativ klein. Dennoch ist es durchaus möglich, dass wir gerade Zeug*innen der frühen Stadien einer Spaltung in der Republikanischen Partei werden. Und damit Zeugen der Entwicklung einer neuen rechtspopulistischen Partei, die aus Trumps harten Kern besteht.
Die Spaltungslinien in der republikanischen Partei wurden gestern in den Debatten im Kongress deutlich sichtbar. Nachdem die Rechtsextremen wieder aus dem Capitol entfernt worden waren und der Senat wieder zusammen trat, machten die meisten Republikaner*innen, die die „Einwände“ gegen die Wahlergebnisse unterstützen wollten, einen Rückzieher davon.
Die Debatte spiegelte wider, wie erschüttert das Establishment und die herrschende Klasse – die der Senat eher widerspiegelt – durch die gestrigen Ereignisse waren. Besondere Aufmerksamkeit wurde auf den Schaden gelegt, den die Ausschreitungen für das „Ansehen der USA in der Welt“ bedeuten würden (d.h. für die Fähigkeit des Imperialismus, seine „demokratische“ Legitimation zum Schutz seiner Interessen einzusetzen). Die Abstimmungen über die Einwände gegen die Bestätigungen im Senat gingen 96 zu 3 und 93 zu 6 aus. Im Repräsentantenhaus hingegen weigerte sich die Mehrheit der Republikaner*innen (über 120), nachzugeben – selbst angesichts der scharfen Kritik auch von einer Minderheit republikanischer Kongressabgeordneter.
Insgesamt waren die gestrigen Ereignisse eine Niederlage für Trump, da er angesichts des enormen Drucks der herrschenden Klasse gezwungen war, formell einzulenken. Dies war etwas, was er zu Beginn des Tages nicht vorhatte. Es ist natürlich möglich, dass er seinen Kurs in den kommenden Tagen wieder ändert, aber das politische Establishment als Ganzes, einschließlich wichtiger Teile der republikanischen Führung, bereitet sich darauf vor, ihn aus dem Weißen Haus zu vertreiben, sollte er versuchen, nach dem 20. Januar zu bleiben.
Republikanische Meinungsverschiedenheiten waren auch der Hauptgrund dafür, dass republikanische Amtsinhaber*innen ihre Sitze im Senat von Georgia verloren haben. Ein Teil von Trumps Basis weigerte sich, für Loeffler und Purdue zu stimmen, zum Teil wegen des allgemeinen Gefühls unter Trumps Anhänger*innen, dass die Wahl manipuliert werden würde. Der ehemalige Trump-Anwalt Lin Wood sprach bei einer Reihe von MAGA-Kundgebungen und riet den Trump-Anhänger*innen in Georgia davon ab, für Loeffler oder Perdue zu stimmen, weil sie Trump gegenüber nicht loyal genug gewesen seien. Er sagte: „Sie haben eure Stimme nicht verdient. Gebt sie ihnen nicht.“
Nach dem Sturm
Während sich der Staub der gestrigen Ereignisse zu legen beginnt, fragen sich Millionen: Was zum Teufel wird als nächstes kommen?
Das politische Establishment in beiden Parteien redet sich den Mund fusselig über die Notwendigkeit, das Herz des amerikanischen Volkes zurückzuerobern. Sie geben den Wolf im Schafspelz und predigen eine “Rückkehr zur Normalität”. Biden hat „schlichten Anstand“ angemahnt. Er hat auch eine lange Vorgeschichte darin, überparteiliche Kooperationen mit reaktionären Republikaner*innen zu schätzen. Biden könnte McConnells Distanzierung von Trump als ein Signal verstehen, auf diesem Weg weiterzugehen. Viele Menschen durchschauen aber diese leeren Phrasen und fragen sich: „Ok, aber jetzt mal ernsthaft, was nun?“
Inmitten der Angst vor dem Erstarken rechtsextremer Kräfte steht die Linke und die Arbeiter*innenbewegung vor einer dringenden Aufgabe. Die Geschichte lehrt uns, dass die einzige wirkliche Verteidigung, die wir gegen die Bedrohung durch die extreme Rechte haben, die ein Produkt des Verfalls des Kapitalismus ist, eine vereinte, massenhafte, multiethnische Bewegung der Menschen aus der Arbeiter*innenklasse ist. Wir haben das erst vor ein paar Jahren in Boston gesehen, wo nach den Ereignissen von Charlottesville 40.000 gegen die extreme Rechte demonstrierten und diese eine ganze Zeit lang in die Schranken wiesen.
Doch anstatt diese Gelegenheit zu nutzen und zu Massenaktionen aufzurufen, um diesen versuchten Putsch zu stoppen, gehen linke Führer*innen wie Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) in die falsche Richtung. Anstatt einen Aufruf zu Massendemonstrationen herauszugeben oder die Linke und die Arbeiter*innenbewegung auch nur vage dazu aufzufordern, sich zu organisieren, twitterte sie: „Amtsenthebung“. Darauf folgte eine überstürzte Bemühung unter den Squad-Mitgliedern („The Squad“ ist eine Gruppe linker Abgeordneter, Anm. d. Übers.), neue Anklageartikel zu formulieren. Cori Bush, neu gewähltes Squad-Mitglied, brachte eine Resolution ein, um die Kongressabgeordneten auszuschließen, die „diesen inländischen Terroranschlag angestiftet haben.“
Diese Taktiken wären in Ordnung als Beilage zu einer viel größeren Strategie zur Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung, aber das ist nicht das, was diese linken Führer*innen tun. Sie gehen nicht weiter als Establishment-Demokrat*innen wie Chuck Schumer, der das Kabinett auffordert, den 25. Verfassungszusatz anzurufen und Trump aus dem Amt zu entfernen.
AOC und The Squad sollte für Massendemonstrationen und dauerhafte Organisierung gegen die extreme Rechte aufrufen. Sie sollten darauf hinweisen, dass es gerade die neoliberale Agenda ist, die ja von beiden Big-Business-Parteien verfolgt wird, die den Boden für die extreme Rechte geebnet hat. Sie sollten die umfassende Reihe von Reformen hervorheben, die notwendig sind, um diese Polarisierung nach rechts zu durchbrechen, einschließlich 2.000-Dollar-Stimulus-Schecks, Medicare for All, einem Green New Deal und einer Vermögenssteuer für Reiche.
Die weitere Verbreitung rechter Ideen ist sehr gefährlich für arbeitende Menschen, Unterdrückte und die gesamte Linke. Wir brauchen eine entschlossene und mutige Führung auf der Linken, um diese Herausforderung zu bestehen.
Was nun, Demokraten?
Mitten im gestrigen Wahnsinn meldete die AP (amerikanische Presseagentur, Anm. d. Übers.) die beiden Wahlen in Georgia als für die Demokraten gewonnen – was ihnen die Kontrolle über beide Kammern des Kongresses und das Weiße Haus verschafft.
Viele Amerikaner*innen, deren Miete fällig ist und deren Rechnungen sich stapeln, werden froh sein, Mitch McConnel abtreten zu sehen, der die 2.000-Dollar-Stimulus-Schecks blockierte, die sogar Trump unterstützte.
Es wird eine enorme Erleichterung darüber herrschen, dass sowohl Trump als auch Mitch McConnel als unmittelbare Hindernisse bei der Lösung dieser Krise beseitigt worden sind. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der gestrigen Ereignisse. Die Demokraten werden wahrscheinlich gezwungen sein, 2.000-Dollar-Stimulus-Schecks zu verschicken und den Bundesstaaten erhebliche Hilfen zu gewähren. Biden könnte bereit sein, entscheidende Schritte zum Ausbau der Impfstoffinfrastruktur zu unternehmen, wie etwa die Nutzung des Defense Production Act, um die Produktion von Impfausrüstung zu steigern.
Während dies Biden und den Demokraten vielleicht einen vorübergehenden Aufschwung beschert, ist ihr Sieg in Georgia andererseits eine schlechte Nachricht für das Establishment. Es bedeutet, dass sie keine Ausreden und keinen republikanischen Buhmann haben, den sie beschuldigen können, wenn sie sich weigern, Medicare for All, einen Green New Deal, eine Steuer für Reiche und Großunternehmen zu liefern.
Die nächsten zwei Jahre werden wahrscheinlich Millionen Menschen klar machen, dass den Demokraten im Großen und Ganzen nicht zu trauen ist, wenn es darum geht, für die arbeitenden Menschen zu kämpfen. Das wird die Notwendigkeit der politischen Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse von den Demokraten klar auf den Tisch bringen.
Das Establishment wird sich weithin populären progressiven Maßnahmen wie Medicare for All, die der Bourgeoisie ein Gräuel sind, entschieden entgegenstellen. Ohne eine*n Republikaner*in, der*m sie die Schuld geben können, werden sie gezwungen sein, ihre Feindseligkeit gegenüber fortschrittlicher Politik zu zeigen. Wie sich The Squad und Bernie Sanders in den nächsten zwei Jahren dazu verhalten, wird dramatische Folgen für die Linke haben.
Schlagt die Rechte zurück, baut die Linke auf
Es fühlte sich gestern an, als ob ein ganzes Jahrhundert in den Nachrichtenzyklus eines Tages gepresst würde. Es ist durchaus möglich, dass wir in den nächsten zwei Wochen weitere rechtsextreme Demonstrationen sehen werden, die versuchen, eine Machtübergabe zu verhindern, wofür in einer Reihe von Bundesstaaten bereits zu Demonstrationen aufgerufen wurde. Die Stimmung für weitere Proteste unter den Rechtsextremen ist durch Trumps heutiges Einlenken vielleicht gedämpft, aber dennoch gibt es in einer Reihe von Städten Demonstrationen, zu denen aufgerufen wurde und die anscheinend weitergehen werden.
Wir haben kein Vertrauen, dass das Establishment der Demokraten oder der Staat selbst diese Bedrohung beseitigen kann oder wird, und es ist entscheidend, dass die Linke und die Arbeiter*innenbewegung die Führung bei der Organisation von Massendemonstrationen übernimmt, um die extreme Rechte auszuschalten und die multiethnische Arbeiter*innenklasse hinter einem Programm für echten Fortschritt zu vereinen. Wo immer sie versuchen, sich Raum zu verschaffen, müssen wir ihnen mit einer massiven Demonstration der vereinten Arbeiter*innenklasse begegnen. Gewerkschafts- und linke Führer*innen müssen eine große Rolle bei der Verbreitung dieser Botschaft spielen, aber wir müssen auch schnell den Boden für eine unabhängige Partei bereiten, die die Interessen der arbeitenden Menschen und der Unterdrückten vertritt.
Wir müssen mit der bedeutungslosen „Anstands“-Politik des Establishments brechen. Wir müssen uns jetzt organisieren, um die Rechten zu besiegen und für die arbeitenden Menschen entscheidend notwendige Reformen auf dem Weg zur Beendigung des kapitalistischen Systems, das Ungleichheit, Rassismus, Sexismus und Faschismus hervorbringt, zu erkämpfen.