Systemwechsel braucht Systembruch

Rezension “System Change – Plädoyer für einen linken Green New Deal” von Bernd Riexinger

Mit seinem Plädoyer für einen linken grünen Gesellschaftsvertrag knüpft der Co-Vorsitzende der LINKEN Bernd Riexinger an den „New Deal“ des US-Präsidenten Roosevelt an, der als Antwort auf die kapitalistische Krise der 1930er Jahre und unter dem Druck von Klassenkämpfen ein umfassendes Programm für Infrastrukturinvestitionen und soziale Sicherungssystemen auflegte. Den „Green New Deal“ von europäischen Grünen und US-amerikanischen linken Demokrat*innen erweitert er um das Attribut „links“, womit er einen sozial-ökologischen Systemwechsel meint, die Verbindung von Klimaschutz mit guten Arbeits- und Lebensbedingungen.

von Angela Bankert, Mitglied im Kreisvorstand DIE LINKE.Köln

Riexinger skizziert die multiplen Krisenerscheinungen des Kapitalismus – also Wirtschaftskrise, Klimakrise, soziale Ungleichheit, die Verwüstungen des Neoliberalismus, Krise der Herrschaftsformen, autoritäre Tendenzen, Aufrüstung sowie wachsende innerimperialistische Spannungen – und stellt fest, dass die herrschende Klasse selbst  im Rahmen des Systems nach Auswegen sucht. Die Pläne der Grünen betrachtet er dabei als untauglichen Versuch einer grünen Modernisierung der kapitalistischen Marktwirtschaft.

Investitionsprogramm

Riexinger schlägt einen massiven Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge in Bereichen wie Pflege, Kitas und Schulen, Gesundheit, Wohnen vor. Dabei geht es ihm auch um die Aufwertung der systemrelevanten Berufe, um tariflich und sozial regulierte Arbeit, um Arbeitszeitverkürzung auf eine „kurze Vollzeit“ von 30 Stunden. Nicht eine Rückkehr zum alten Sozialstaat der 1970er Jahre schwebt ihm vor, sondern ein bedarfsorientierter öffentlicher Dienst, der demokratischer Verwaltung seitens der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften, aber auch durch NutzerInnen und Umweltverbänden unterliegt.

Dies zusammengenommen würde Millionen neuer Jobs zu guten Arbeitsbedingungen bringen, die dann auch attraktiv für junge Einsteiger*innen oder Berufswechsler*innen aus Altindustrien wären, so dass die notwendige „Konversion klimaschädlicher Industrien mit Beschäftigungs- und Einkommensgarantien“ einhergehen könnte.

Riexinger buchstabiert diese Pläne in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Wohnen, Verkehr, Gesundheitswesen, Bildung sehr anschaulich und faktenreich aus. Zum Beispiel stellt er einen Fünfjahresplan zur Mobilitätswende vor, der eine durchkalkulierte Vision künftiger Mobilität beschreibt, vom Ausbau des ÖPNV mit Nulltarif und autofreien Innenstädten über eine „kollektive Mobilitätsinfrastruktur“ in Kleinstädten mit Car-Sharing, Schnellradwegen, Rufbussen, Leih- und Share-Systemen in öffentlicher oder genossenschaftlicher Hand bis hin zum Ausbau der Bahn bei Halbierung der Fahrpreise.

Zur Finanzierung der sozial-ökologischen Umbauprojekte verweist Riexinger auf die Umlenkung milliardenschwerer Subventionen in den aktuellen Corona-Finanzpaketen, die zeigen, was geht, und auf eine Vermögensabgabe für Superreiche.

Demokratische Wirtschaftsregulierung

Ein Kernelement des sozial-ökologischen Umbaus der Wirtschaft soll ein Transformations- und Konversionsfonds mit einem entsprechenden Rat sein. Regionale Wirtschaftsräte sollen mitentscheiden über die Verwendung der Gelder, die wiederum mit Arbeitsplatzgarantien, guten Arbeitsbedingungen und Eigentumsanteilen entweder für den Staat oder für Belegschaften verknüpft sein sollen. Die Räte sollen sich drittelparitätisch zusammensetzen: ein Drittel aus Vertretungen von Politik, Parlamenten und Wissenschaft, ein Drittel aus IHK und Handwerkskammern und ein Drittel aus einer neuen „sozial-ökologischen Kammer“ mit Vertretungen aus Gewerkschaften, Betriebsräten sowie Umweltverbänden.

Die Eigentumsstruktur der DAX-Konzerne möchte Riexinger dreiteilen: „mindestens 21% öffentliches Eigentum, 30% Belegschaftseigentum, 49% private Aktionäre“ (S. 62). Die Geschäftspolitik der Unternehmen müsse neu ausgerichtet werden, weg vom Profit, hin zu gesellschaftlichen Bedürfnissen.

Damit wird es allerdings bei dieser Konstruktion nichts werden. Denn wo Aktien, Dividenden, Privateigentümer, IHKs usw. bleiben, da bleiben private Kapitalakkumulation und marktwirtschaftliche Mechanismen des Kapitalismus ebenso weiter bestehen wie beim Belegschaftseigentum. Das Zurückdrängen des Kapitals auf unter 50% bräuchte eine derart starke Massenbewegung, dass man dann auch gleich um’s Ganze kämpfen kann. Riexinger weist selbst mehrfach auf Klassenwiderstände hin: „Die Konzerne wollen hohe Renditen auf Kosten der Beschäftigten und der Gesellschaft erhalten, sie blockieren Klimaschutz und zukunftsfähige Transformationsprozesse.“ Um dann aber doch wieder auf Transformationsprozesse unter Beteiligung eben dieser Konzerne und Kapitaleigner zu setzen.

Und warum? Weil, so Riexinger, eine „zentralstaatliche Planwirtschaft von oben“ gescheitert sei. Sehr wahr. Aber man fragt sich: Wie wäre es denn mal mit demokratischer Planwirtschaft von unten – auf dezentraler, regionaler und zentraler Ebene?

Rolle des Staates

Die Suche nach einem vermeintlichen Mittelweg findet sich auch in der Analyse des Staates wieder. Riexinger argumentiert, wohl in der Tradition des Politikwissenschaftlers Nicos Poulantzas, der Staat sei weder ein reines Instrument in den Händen des Kapitals, noch sei er neutral, sondern in ihm „verdichteten sich Kräfteverhältnisse“. Der Staat greife nicht nur Kapitalinteressen auf, sondern sofern die Gegenkräfte gut genug organisiert seien, könnten auch sie sich in staatlichem Handeln niederschlagen und führten zur Absicherung von Errungenschaften. 

Diese Fehleinschätzung hat die Arbeiter*innenbewegung mehrfach in die Irre geführt. Der Kern des bürgerlichen Staates ist und bleibt der Schutz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse. Es hat zwar immer wieder zeitweilige Zugeständnisse an kämpfende Massenbewegungen gegeben. Bei Fortbestand privater Kapitalherrschaft waren sie jedoch meist nicht von Dauer und änderten nichts am Charakter des Staates. Staat und Konzerne werden auch nicht durch eine dauerhaft mobilisierte Arbeiter*innenbewegung gezähmt und kontrollierbar gemacht, die Eigentumsverhältnisse müssen umgeworfen, neue staatliche Strukturen geschaffen werden.

Das Buch lohnt die Lektüre wegen der vielen anschaulichen Projekte zur gesellschaftlichen Umgestaltung. Allein schon der Versuch, ökonomische und ökologische Umwälzungen mit sozialen Standards, Klassenpolitik und Selbstorganisation zu verbinden, ist vor allem in der innerparteilichen Debatte der LINKEN ein wertvoller Beitrag, weil vielfach immer noch die „soziale Frage“ und stellvertretende „Fürsprache für Arme“ gegen Umweltschutz und Klimabewegung ausgespielt wird. Leider drückt sich Bernd Riexinger um die entscheidenden strategischen Fragen. Vielmehr werden „Einstiegsprojekte“ in eine soziale und ökologische Regulierung des Kapitalismus beschrieben, die Gegenmacht stärken und implizit eine sozialistischen Perspektive eröffnen sollen. Diese wird jedoch ebenso wenig beschrieben wie die Notwendigkeit eines Bruchs mit der Logik der Kapitalakkumulation. Systemwechsel ist aber ohne Systembruch nicht zu haben.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie sich Linke alle möglichen Strategien ausdenken, nur um revolutionäre Brüche zu vermeiden. Oft weil sie diese für utopisch halten. Die Geschichte hält leider allzu viele Beispiele bereit, wie revolutionäre Bewegungen zunächst von linken Reformer*innen gar nicht erst erwartet wurden, dann doch stattfanden und erfolgreich ein Regime oder eine Regierung stürzten sowie Teilerfolge erzielten, nur um dann mehr oder weniger grausam wieder zurückgedrängt zu werden, sofern kein entscheidender Bruch mit Kapitalverhältnissen und staatlichen Strukturen stattfand.