Aber weist die zentrale Forderung nach null Neuinfektionen in richtige Richtung? Der von linken Aktivist*innen initiierte Aufruf #ZeroCovid hat in wenigen Tagen große Unterstützung bekommen. Der Aufruf thematisiert, dass Corona kein “Freizeit-Virus” ist, sondern endlich auch Betriebe vorübergehend geschlossen werden müssen. Zudem werden darin ein Ende der Privatisierung im Gesundheitswesen sowie bessere Ausstattung und Bezahlung gefordert. Das hat das Potenzial, die Diskussion in eine andere Richtung zu entwickeln. Der Hauptslogan des Aufrufs, die Neuinfektionen auf Null zu senken, und dafür einen harten Lockdown (wochenlang? monatelang?) in allen Bereichen gleichermaßen durchzusetzen, ist jedoch nicht geeignet, um eine größtmögliche Einheit von Lohnabhängigen, Erwerbslosen, Jugendlichen, kleinen Selbstständigen und Eltern von Kita- oder Schulkindern zu erreichen.
von Claus Ludwig, Köln
Linke und Arbeiter*innenbewegung müssen in die Offensive kommen und Alternativen sowohl zur Regierung als auch zu den “Corona-Skeptiker*innen” bieten. Dafür und um die Pandemie wirksam zu bekämpfen, braucht die Linke Slogans und Aktionsvorschläge, mit denen gemeinsame Klasseninteressen in den Vordergrund gerückt werden.
“Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme” (Karl Marx). Die Diskussion um #ZeroCovid wird helfen, diese Ideen zu entwickeln. Der Aufruf kann trotz Schwächen einen Beitrag dazu leisten, dass die Diskussion über Corona-Maßnahmen von unten, wie zum Beispiel über die Schließung von Betrieben, an Fahrt aufnimmt.
Sind null Neuinfektionen (noch) eine Option?
Die herrschenden Klassen Europas haben am Beginn der Pandemie versagt. Arrogant und selbstgefällig haben sie die Gefahr ignoriert. Die Erfahrungen Südkoreas, Vietnams und Neuseelands wurden nicht ernst genommen. Die Zustände in vielen Kliniken und vor allem Pflegeheimen waren schon vorher katastrophal. #ZeroCovid war zu Beginn der Pandemie eine Option, als die ersten Herde erkannt wurden. Schnelle, umfassende Shutdowns inklusive der Betriebe, sofortige Bereitstellung von Masken und eine umfassende Teststrategie hätten mindestens zu einer starken Eindämmung des Virus geführt. Jetzt haben wir ein überall verbreitetes Coronavirus, mitten im Winter, mit einer neuen mutierten Variante, die sich schnell ausbreitet. Von Nachverfolgung im effektiven Sinn kann keine Rede mehr sein.
Was würde es in dieser Lage bedeuten, alles runter zu fahren bis die Neuinfektionen bei Null sind? Schließt dieser Shutdown auch nächtliche Ausgangssperren, die unsinnige 15 Kilometer-Regel, Spielplätze und Kitas ein? Sollen die Sportplätze dicht bleiben, sollen Kinder nicht mehr als einen Freund ohne Elternteil treffen dürfen, wenn die Neuinfektionen gering, aber nicht bei Null sind? Warum nicht bei 20, 10 oder 5?
Das in einer Pandemie sehr wichtige Urteil von Virolog*innen bildet die Basis der Perspektive #ZeroCovid. Doch sie sind weder Psycholog*innen noch Allgemeinmediziner*innen. Die Kontaktbeschränkungen, aber auch die Schul- und Kita-Schließungen, haben umfassende gesundheitliche, psychosoziale Folgen, diese müssen einbezogen und können nicht durch Virolog*innen beantwortet werden.
Bei den jetzigen Kräfteverhältnissen werden die Einschränkungen von einem repressiven kapitalistischen Staat vorgenommen. Die Senkung auf 0 Infektionen würde, wäre sie überhaupt noch möglich, nur durch eine massive Repression eben dieses Staates und durch eine Abschottung nach Außen durchsetzbar sein.
Eine linke Position erschöpft sich nicht darin, für möglichst viele Schließungen einzutreten und diese sozial abzufedern. Beispiel Schulen: Die Frage ist nicht, ob die Schulen auf oder zu sind. Die realen Konfliktlinien entwickeln sich um die Bedingungen der Schulöffnung. Geht das Chaos weiter wie bisher oder gibt es Luftfilter in jedem Klassenraum, dauerhaft halbe Klassen, täglich Tests für jede*Schüler*in und Lehrkräfte, eine Einstellungsoffensive von Lehrer*innen und weiterem Personal, Anschaffung von Hardware für alle usw.
Regierungspolitik angreifen
Die Autor*innen sagen wenig zu den unsinnigen und extrem belastenden Elementen des Shutdowns wie Ausgangsbeschränkungen, Sperrstunden und der Isolation von Alleinerziehenden und Kindern, außer, dass diese “aktionistisch” seien. Zu den Auswirkungen eines kompletten Shutdowns für die demokratischen Rechte heißt es im Aufruf lediglich:
“Demokratie ohne Gesundheitsschutz ist sinnlos und zynisch. Gesundheitsschutz ohne Demokratie führt in den autoritären Staat. Die Einheit von beidem ist der entscheidende Schlüssel zu einer solidarischen ZeroCovid-Strategie”
Eine Kritik von links an den Maßnahmen der Regierung ist wichtig. Die Kontaktbeschränkungen im Privaten bringen wenig, sollen vor allem Handlungswillen der Regierenden demonstrieren und von kapitalistischen “Weiter so” in den Betrieben ablenken, beschränken Rechte und haben hohe psychosoziale Folgekosten.
Bisher ist es unter Beachtung von Hygiene-Auflagen möglich zu demonstrieren. Wenn man jede Art von Mobilität und Kontakt einschränken würde, wären Demonstrationen auch davon betroffen. Demos und Streiks sind aber die einzigen Mittel der arbeitenden Menschen, um sich gegen die sozialen Folgen der Krise zu wehren. Sie sind notwendig, um sinnvolle Maßnahmen gegen die Pandemie durchzusetzen oder zur Abwehr von Angriffen seitens der Unternehmen, die gerade an Tempo und Schärfe zunehmen.
Die bürgerlichen Politiker*innen diskutieren aktuell über scharfe Ausgangsbeschränkungen, welche wenig zur Eindämmung des Infektionsgeschehens beitragen, aber die Frustration in der Bevölkerung antreiben. Von Kontaktbeschränkungen dieser Art sind Menschen in ärmeren, dicht besiedelten Vierteln stärker betroffen als Mittelschichten mit Garten, Arbeitszimmer und Hobbykeller. Sie werden stärker von der Repression durch Polizei und Ordnungsamt getroffen, die in diesen Vierteln auch stärker präsent sind.
Betriebe schließen – aber wie?
Es ist korrekt, endlich Betriebe lahm zu legen, natürlich bei voller Lohnfortzahlung, und den ÖPNV leer zu bekommen. Allerdings ist das keine einfache Frage. Viele Beschäftigte fürchten Lohnverlust oder sogar, dass der Betrieb dauerhaft eingestellt.
Im Aufruf heißt es: “Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig.”
“Rettungspaket” sollte jedoch definiert werden. Im schlimmsten Fall klingt es weder nach voller Lohnfortzahlung noch nach garantiertem Erhalt der Arbeitsplätze, sondern nach zu spät kommenden und unvollständigen “November”-Hilfen der Regierung. Der Appell an ein “wir”, die auch bei der Arbeit die Kontakte beschränken sollen, klingt, als hätten es die Beschäftigten selbst in der Hand. Die Bedingungen in den Betrieben bestimmen allerdings nicht sie, sondern die Bosse.
Es ist notwendig, die Beschäftigten davon zu überzeugen, dass der Shutdown von Betrieben sinnvoll, möglich und für sie ohne negative Folgen durchgesetzt werden kann. Sonst wächst die Gefahr, dass sich Kapitalist*innen bei ihrer Forderung “Betriebe offenhalten” auf die Beschäftigten stützen und es zu einer Spaltung anhand der Frage kommt, ob man Jobverlust oder Corona für das größere Risiko hält.
Im Aufruf ist ein hilfreicher Punkt dazu enthalten: “Wichtig ist, dass die Beschäftigten die Maßnahmen in den Betrieben selber gestalten und gemeinsam durchsetzen. Mit diesem Aufruf fordern wir auch die Gewerkschaften auf, sich entschlossen für die Gesundheit der Beschäftigten einzusetzen, den Einsatz von Beschäftigten für ihre Gesundheit zu unterstützen und die erforderliche große und gemeinsame Pause zu organisieren. “
Das kann ein guter Ausgangspunkt dafür sein, um Beschäftigte und deren Kämpfe zu organisieren. Ergänzt werden sollten dies durch Forderungen nach 100% Lohnfortzahlung, Offenlegung von Geschäftsbüchern, wenn Unternehmen staatliche Hilfen beantragen und wenn nötig Überführung in öffentliches Eigentum. Darüber hinaus brauchen wir eine Diskussion, welche Betriebe überhaupt notwendig sind und welche nicht. Waffenindustrie, Kohle-Abbau, Werbung und dergleichen, sollten geschlossen bleiben – auch das bei Lohnfortzahlung und der garantierten Schaffung von gleichwertigen Ersatzarbeitsplätzen. Aber dafür braucht es eine antikapitalistische Perspektive, die über das aktuelle System hinaus denkt.
Ausgerechnet Europa
Im Aufruf wird ein europaweiter Shutdown gefordert. Doch wer soll das umsetzen? Soll Europa abgeschottet werden? Es wird, gewiss nicht gewollt, ein Bild gezeichnet, “wir in Europa” hätten gemeinsame Interessen, die vernunftgeleitet, auf wissenschaftlicher Basis, erkannt und durchgesetzt werden können. Unter dem Strich bleibt es beim Appell an die Regierungen und die Institution EU, auch wenn das nicht explizit formuliert wird.
Doch die Art, wie die Pandemie bekämpft oder eben nicht bekämpft wird, ist von gegensätzlichen Klasseninteressen und der Konkurrenz von Nationalstaaten bestimmt. Die Pandemie verwandelt die kapitalistische Konkurrenz in ein bizarres Autorennen. Wer stark auf die Bremse drückt, um die Ausbreitung zu verhindern, verliert Marktanteile. Wer zu langsam bremst, riskiert eine schnelle Ausbreitung und damit einen späteren tieferen Absturz durch Vollbremsung. Jede Regierung, ob in Europa oder dem Rest der Welt, versucht so spät wie möglich zu bremsen, um der Wirtschaft den Rücken frei zu halten. Die Rezession hatte bereits 2019 eingesetzt und verstärkt diesen Effekt.
Im Aufruf ist von einer “europaweiten Vermögensabgabe” die Rede. Diese Abgabe auf der Europaebene zu fordern, entzieht ihr jede Zugkraft. Der Kampf um Umverteilung auf steuerlicher Ebene wird nach wie vor in den Nationalstaaten ausgefochten. Auf der europäischen Ebene existieren weder Mechanismen noch Druckmittel seitens der Arbeiter*innenbewegung, dies durchzusetzen, in den einzelnen Ländern durchaus. Klar wäre es prima, dies auf dem gesamten Kontinent umzusetzen, aber diese Forderung hat keinen konkreten Ansatz.
Die Definition eines gemeinsamen europäischen Interesses ist auch problematisch, weil diese den Rest der Welt ausschließt. Das ist von den Autor*innen nicht beabsichtigt, aber hier scheint aus dem Blick geraten, welcher Kampf sich aktuell um die Impfdosen abspielt. Die entwickelten kapitalistischen Länder haben sich das Gros für 2021 gesichert, “Europa” hat sich durchgesetzt, die Patentrechte der deutschen, US-amerikanischen und französischen Pharma-Unternehmen verhindern die Produktion von Generika zum Beispiel in den leistungsfähigen Fabriken auch im globalen Süden. Somit ist nicht nur “ganz Europa in einer kritischen Situation”, sondern weitere und weitaus ärmere Teile der Welt ebenfalls. Hier ist es notwendig, wie schon im Aufruf zum Teil angedeutet, eine internationale Perspektive zu entwickeln. Forderungen wie die Vergesellschaftung von Impfstoffen und der Überführung der Pharmaindustrie wären dabei ein notwendiger Schritt.
Die Europa-Frage müsste klassenpolitisch konkretisiert werden. Wichtige Ansätze wären eine Vernetzung zum Beispiel des Pflegepersonals gegen die Profit-Ausrichtung des Gesundheitswesens oder der Schüler- und Lehrer*innen gegen vorzeitige Schulöffnungen, zur besseren Schulausstattung und gegen das Durchziehen von Prüfungen.
Soziale Kämpfe in der Pandemie
#ZeroCovid fordert eine grundlegend andere Corona-Politik. Die Perspektive, dass Bewegungen und soziale Kämpfe von unten sich zum Ziel setzen, die gesamte kapitalistische Corona-Politik zu ändern, ist gut. Allerdings wird sich die Infragestellung diese Politik aus konkreten Auseinandersetzungen ergeben, welche die Linke vorantreiben sollte.
Die Frage der Öffnung der Schulen, der Ausstattung, der kleinen Klassen, Zensuren und Prüfungen, “Sitzenbleiben” sind bereits öffentlich debattiert worden. In Großbritannien und Irland haben Lehrer*innen und Schüler*innen gegen Schulöffnungen protestiert. In Saarbrücken, Bremerhaven, Essen und Mönchengladbach gab es einzelne Streiks von Schüler*innen.
Die Katastrophe in den Altenheimen sollte in den Mittelpunkt gerückt werden. Hätte die Regierung dabei nicht komplett versagt, wäre Corona zwar kein harmloses Virus, aber hätte deutlich weniger Tote zur Folge.
Viele Menschen haben durch Kurzarbeit bereits letztes Jahr Einkommen verloren, haben keine Arbeit gefunden oder wurden entlassen. Das wird 2021 eskalieren. Der Widerstand in Form von Protesten, Streiks oder Betriebsbesetzungen unter Pandemie-Bedingungen ist nicht einfach. Hier ist die Linke gefordert, Jobs und Löhne zu verteidigen.
Es gibt einige Ansätze, um mit linken Inhalten gegen die Corona-Politik auf Bundes- und Landesebene kampagnefähig zu werden und gemeinsam in die Offensive zu kommen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- Die Reichen sollen zahlen – Covid-Abgabe und Vermögenssteuer jetzt.
- Lockdown capitalism – Betriebe vorübergehend schließen.
- Kostenlose FFP2-Masken für alle, kostenlose Tests für alle.
- Keine Einschränkung demokratischer Rechte, nein zu unsinnigen Ausgangs- und Kontakt-Beschränkungen (Sperrstunden, 2+1-Regel, 15-km-Regel).
- Impfstoffe u. Pharmaindustrie in öffentliches Eigentum unter demokratische Kontrolle.
- Schulen bleiben so lange geschlossen, bis umfassende Tests, Luftfilter und halbierte Klassen ermöglicht sind, demokratische Entscheidungen von Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern, volle Lohnfortzahlung für Eltern, die Homeschooling unterstützen.
- DRGs abschaffen, mehr Geld für Personal, Kliniken besser ausstatten, Kliniken und Altenpflegeeinrichtungen rekommunalisieren.
- Gegen Nazis und Verschwörungsmystiker*innen.
Konkrete Initiativen, Kämpfe und Kampagnen bieten für Linke die Möglichkeit, nicht nur das Versagen der Bundesregierung und des Marktes, sondern des gesamten kapitalistischen Systems aufzuzeigen und auf der Grundlage für eine Gesellschaft einzutreten, die nach Bedürfnissen und nicht nach höchstmöglichem Profit ausgerichtet ist. Im Rahmen der Diskussion sind in den letzten Monaten passendere Slogans als #ZeroCovid entstanden. Die SAV fordert seit dem Herbst “Lockdown capitalism”. In Köln hat ein antifaschistisches Bündnis unter dem Motto “Corona bekämpfen. Menschen schützen, nicht den Kapitalismus” zu einer Demonstration aufgerufen.
Die Partei die LINKE hat es bisher nicht geschafft, wirksame Initiativen zu entwickeln. Die Gewerkschaften vertreten einzelne gute Forderungen, aber verzichten auf politische Stellungnahmen. Den Initiator*innen von #ZeroCovid gebührt Dank für ihre Initiative. Die Resonanz zeigt, wie überfällig eine Antwort von links mit einer gewissen Breite war. Jetzt gilt es, die Ansätze zu konkretisieren und daraus gemeinsames Handeln zu entwickeln.