Zehn Jahre nach der Unterzeichnung hat sich die Türkei mit einem präsidialen Dekret, das am 20. März nach Mitternacht im Amtsblatt veröffentlicht wurde, aus der Istanbul-Konvention zurückgezogen. Die Türkei hat die Istanbul-Konvention als erstes Land unterzeichnet – eine Konvention, die darauf abzielt, Gewalt durch Männer zu verhindern, Frauen vor Gewalt zu schützen und die Täter zu bestrafen.
von Ecehan Balta, Sosyalist Alternatif (ISA in der Türkei)
2020 wurden in der Türkei 330 Frauen von Männern getötet. Weitere 171 Todesfälle von Frauen werden als verdächtig eingestuft. Nach offiziellen Angaben haben 40% der in der Türkei lebenden Frauen mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. Es besteht kein Zweifel daran, dass die tatsächliche Zahl viel höher ist. Die Wirkung eines Rückzugs aus der Konvention ist schlimmer als eine Nichtunterzeichnung. Männer werden daraus folgern, dass der Staat Gewalt gegen Frauen zulässt.
Der Rückzug der Türkei aus einem internationalen Abkommen per Dekret verstößt sogar gegen die türkische Verfassung, die von der AKP ausgearbeitet wurde. Laut Artikel 90 sollen internationale Konventionen durch ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz angenommen werden, und dies solle auch für den Austritt gelten.
Während die Art des Rückzugs aus der Konvention seit dem 20. März breit diskutiert wird, hat die Frauenbewegung auch mit Aktionen in der ganzen Türkei darauf reagiert. In mindestens zehn Provinzen des Landes gingen Frauen auf die Straße. „Die Istanbul-Konvention ist unsere!“ war einer der lautesten Slogans des Tages.
Es ist anzunehmen, dass die Entscheidung, sich aus der Konvention zurückzuziehen, seitens der Regierung getroffen wurde, um die rechtsextremen islamistischen Kreise in der Türkei zu halten. Zusätzlich konnte damit auch die weit verbreitete rechtsextreme islamistische Ader innerhalb der AKP angesprochen werden. Auch sie feiert seit dem 20. März ihren „Sieg“.
Die Istanbul-Konvention wurde auch vorher nicht ausreichend umgesetzt. Die Frauenbewegung hat in den letzten Jahren immer wieder die Umsetzung der Konvention auf der Straße gefordert. Jetzt lautet die Parole: „Ziehen Sie diese Entscheidung zurück, setzen Sie die Istanbul-Konvention um!“
Dieser Vorstoß ist ein großer Angriff auf die wichtigste Errungenschaft der Frauenbewegung. Jedoch wird er die Frauenbewegung weiter stärken. Sie hat heute wie gestern die Kraft, massenhaft auf die Angriffe der neoliberal-konservativen AKP zu reagieren. Es muss nun ein gemeinsames Dach aufgebaut werden, um diese Kapazitäten weiter zu stärken. Wir als Sosyalist Alternatif werden weiterhin weiterhin unseren Beitrag leisten, zu diesem Dach und dem Kampf auf der Straße.
Bild: Hilmi Hacaloğlu, İstanbul Sözleşmesi’ni Uygulatacağız yazılı pankart, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons