Die Figur Nawalny sorgt für Verwirrung bei deutschen Linken. Seine Teilnahme an nationalistischen Demonstrationen und seine rassistischen Äußerungen gegenüber Migrant*innen vor einigen Jahren überschatten die Bewegung in Russland. Doch diese Bewegung ist wichtig und unterstützenswert – trotz dieser zwielichtigen Figur.
von Dima Yanski, Köln
Das Putin-Regime reagierte mit Repressalien und bürokratischer Willkür auf zwei Wellen von Protesten im ganzen Land. Insgesamt 11.000 Menschen wurden in Gewahrsam genommen. Die Polizeiwachen in Moskau waren nach den Protesten so voll, dass die Verhafteten im Abschiebezentrum in der Nähe der Hauptstadt untergebracht wurden. Für die einfache Teilnahme an den Demonstrationen bekamen etwa 800 Aktivist*innen mehrere Wochen Arrest.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen 90 Personen wegen „schweren Kriminalfällen“, was eine längere Haft bedeuten könnte. Tausende Aktivistinnen, unter anderem Mitglieder der Sozialistischen Alternative, erhielten Geldstrafen von bis zu 2000 Euro. Unidirektor*innen drohten Studierenden mit Exmatrikulation.
Saidanvar Sulajmonow, Sanitäter einer Moskauer Covid-Klinik, verlor seine Arbeit acht Stunden, nachdem er ein Solidaritätsbild auf der Plattform Telegram gepostet hatte. Die Englischlehrerin Natalja Jolgina aus Sewastopol wurde entlassen, weil sie einen wütenden Kommentar über die niedrigen Löhne der Lehrer*innen unter einem Post vom Oberbürgermeister verfasst hat. Saidanvar (22) und Natalja (25) wurden durch die Videos von Nawalny politisiert und nahmen zusammen mit 200.000 Protestierenden das erste Mal an politischen Demonstrationen teil. Die Anzahl von politischen „Anfängern“ bei den Festgenommenen lag bei 49 %. Natalja und Saidanvar symbolisieren die allmähliche Veränderung des Bewusstseins von Millionen junger Arbeiter*innen, die politisch erwachen.
Die Bewegung zentriert sich wie die ganze aktuelle politische Diskussion in Russland um die Figur Alexey Nawalnys. Nawalny ist ein bürgerlicher Politiker, der seit Jahren gegen Putin kämpft. In seinen Videos nahm der populäre Blogger etablierte Politiker*innen, Beamten*innen, Superreiche und Putin persönlich unter Beschuss. Dabei kritisierte er zwar die herrschenden Verhältnisse, Korruption und der unerträgliche Reichtum der Oligarchen, blieb jedoch in seiner Kritik auf dem Boden des Kapitalismus.
Geschickter Populist
Der Populismus von Nawalny hat eine enorme Bandbreite von rechts nach links. Er begann seine politische Karriere in der liberalen Partei Yabloko, setzte sie aber später als sogenannter „nationaldemokratischer“ Politiker fort, hetzte gegen Migrant*innen und verbündete sich mit Faschisten. Dabei orientierte er sich an den sogenannten „Farbenrevolutionen“ in der Ukraine und Georgien, bei denen nationalistische Parteien an der Spitze von Massenbewegungen standen. Nawalny und seine Anhänger erwartete das gleiche Szenario in Russland.
Die riesige, jedoch atomisierte Arbeiter*innenklasse Russlands hat wenig Traditionen des Klassenkampfes und keine verankerte Gewerkschaftsstruktur. Die Schutzmechanismen, welche die arbeitende Klasse in Westeuropa über Jahrzehnte aufgebaut hat, wurden in Russland durch den Stalinismus zerstört. Die heutige „Kommunistische Partei“ vertritt eine nationalistische Agenda und präsentiert sich als loyal zum Putin-Regime. Linke Organisationen sind zwar präsent, erreichen jedoch aufgrund ihrer zahlenmäßigen Schwäche wenig für die meisten Arbeiter*innen. Die Restauration des Kapitalismus mit blutigen ethnischen Konflikten und der Zerfall des Sozialsystems führten zur ideologischen Fragmentierung der Arbeiter*innenklasse. Das half der herrschenden Klasse, die versuchte, die sozialen Spannungen durch patriotische Propaganda zu mildern und die Wut der Massen nationalistisch zu kanalisieren.
Diese Verwirrung spiegelte sich bei Protesten gegen die Herrschaft Putins im Jahr 2012 wider. Hier nahmen gleichzeitig Rechte, Liberale und Linke teil. Im Vergleich zur ukrainischen Maidan-Bewegung 2014 hatten russische Linke im Jahr 2012 jedoch eine stärkere Stellung in der Bewegung, zeigten Initiative und konnten den Rechten trotz des Opportunismus der Protestkoordinatoren die Stirn bieten. Auch bei den aktuellen Protesten waren diverse linke Organisationen, trotz kritischer Haltung gegenüber der Figur Nawalny, bei den Demonstrationen sehr präsent.
Seit dem Jahr 2012 ging Nawalny allmählich auf Distanz zu rechten politischen Strömungen und gründete später die Partei „Russland der Zukunft“ als Versuch, bürgerlichen Liberalismus mit teilweise linkspopulistischen Forderungen zu vereinbaren. Nawalny kooperierte aktiv mit einigen linken Organisationen (z.B. der „Linken Front“) und lud Linke in den Koordinationsrat der Opposition ein. Im Jahr 2019 unterstützte er die „Kommunistische Partei“ bei den Moskauer Stadtratswahlen.
Bizarrer Reichtum
In seinen Videostreams kritisierte er auch Putins neoliberalen Vorgänger, Boris Jelzin. Nawalny erklärte, dass Putin trotz seiner angeblichen Volksnähe und Distanzierung vom Wiederaufbau des Kapitalismus in den 1990er Jahren ein aktiver Teilnehmer der Privatisierung war, und damit seine Familie zu reichsten Clan Russlands machte. Nawalny stellt nie die ganze Privatisierung in Frage, forderte aber „Kompensationszahlungen“ der Milliardäre und die Erhöhung von Mindestlohn und Renten.
Der Reichtum der russischen Kapitalisten ist überwältigend. Das Gesamtvermögen der 99 russischen Milliardäre stieg im Jahr 2020 gegenüber 2019 um 20 % auf 467,6 Milliarden US-Dollar. Allerdings ist die russische Kapitalistenklasse sehr „jung“ und schwach. Im Lande existiert keine kleinbürgerliche Polsterschicht. Es gibt etwa 250.000 Millionäre, in Deutschland sind es im Vergleich 1,5 Millionen. Die russischen Superreichen sind in der Gesellschaft kaum verankert. Es gibt keine Burschenschaften, keine traditionellen Golfclubs und Familiennetze, keine feste Verankerung in Militärapparat und der wissenschaftlichen Elite. Die Superreichen sind isoliert, verachtet und haben den Charakter von fürstlichen Günstlingen am Hof des Kaisers.
Protest junger Arbeiter*innen
Die realen Einkünfte der Masse der Arbeiter*innenklasse und Armen – mindestens 90 % der Gesellschaft – sind seit dem Jahr 2013 um 10 % gefallen. Obwohl ihre Nominallöhne formell steigen, fraßen die Inflation und die Folgen des Währungsabsturzes diese Zuverdienste auf. Im Vergleich zu 2009 sind jedoch die reichsten Russen um 80 % reicher geworden.
Diesen Widerspruch spürt Nawalny, der seine politische Nase in den bitteren russischen Wind hält und immer mehr nach links antäuscht, ohne links zu sein. Wer in Russland Korruption in Frage stellt, stellt den ganzen politischen Apparat in Frage. Wer ungerechte Privatisierung kritisiert, kritisiert automatisch fast die ganze bürgerliche Klasse. Unabhängig von Nawalnys Absichten und denen seiner Unterstützer*innen würde eine Kapitulation des Putin-Regimes die Frage der Vergesellschaftung der privatisierten und faktisch gestohlenen Betriebe auf die Agenda setzen. Die Klassenwidersprüche und das politische Vakuum links von den Parlamentsparteien drücken Nawalny nach links und zwingen ihn, radikal aufzutreten. Ein bürgerlicher Saulus mit nationalistischen Tendenzen und einer populistischen Agenda wird von den Massen vorübergehend zum Protest-Paulus gemacht.
Soziolog*innen haben Tausende Protestierende und Verhaftete befragt. Schüler*innen waren bei Demos kaum präsent (1,7 % aller Teilnehmer*innen). Ein Viertel waren 18-24 Jahre alt, und entsprechen damit dem Alter von Studierenden- und Azubis in Russland. Der Großteil der Teilnehmer*innen (42 %) waren 25-35 Jahre alt. 51 % der Verhafteten waren Hochschulabsolvent*innen (Gesamtzahl Hochschulabsolvent*innen in Russland- 56 %), 36 % haben eine Ausbildung abgeschlossen.
Laut Befragung der Fontanka-Zeitung waren 24,5 % der Festgenommenen Studierende, 7,5 % haben sich als Unternehmer*innen beschrieben, 9,4 % als Arbeitslose, 11,3 % Beschäftigte als des Öffentlichen Dienstes und 47,2 % als Beschäftigte in privaten Betrieben. Die Zahlen zeigen deutlich – der Protest wurde von der jungen Arbeiter*innenklasse getragen, die nicht organisiert auftrat und über kein ausgereiftes Klassenbewusstsein verfügt.
Im Vergleich zu 2012 waren Nationalisten diesmal nicht sichtbar. Nawalny wird inzwischen in der rechten Szene als „Verräter“ gesehen, da er sich in letzten Jahren von nationalistischen Märschen distanziert hat und seine Position zur LGBTQ-Frage „liberalisiert“ hat. Die Faschisten haben schon vor der aktuellen Demonstration angekündigt, bei der Demonstration „die Linken und die Fems rennen zu lassen“. Allerdings wurde der einmalige Versuch in Moskau eine Kaiserflagge auszupacken von Demonstranten ausgepfiffen. Die rechte putinistische Organisation „Für Wahrheit“ erschien, um die Demonstration zu sabotieren. Einzelne Nazis protestierten mit Plakaten „Vergewaltigt Nawalny“.
Alle Parlamentsparteien und Politiker haben sich gegen die Proteste positioniert. Faktisch entstand eine Einheitsfront aller bürgerlichen, rechten und „linkszentristischen“ Parteien gegen die Bewegung. Anders als 2012 gab es keine Parlamentspolitiker und keine prominenten bürgerlichen Figuren bei den Demos.
Merkel, Biden, Macron und Co.
Selbstverständlich treten Merkel und Biden gegen Putin auf, mit der Hoffnung, eine loyale Figur an die Spitze Russlands zu stellen. Die Widersprüche zwischen Russland und der EU bzw. den USA sind jedoch nicht allein politische Widersprüche, sondern basieren auf dem Zusammenstoß wirtschaftlicher Interessen in der Zeit der Wirtschaftskrise. Ob der neue Repräsentant der herrschenden Klasse Putin oder Nawalny heißt, wird nichts an dieser Tatsache ändern. Russland selbst gehört zur Premier League der Imperialisten. Russische Truppen sind im Kaukasus, der Ukraine, Syrien und Zentralafrika stationiert, um die Interessen der russischen Bänker und Industriekapitäne zu sichern. Putin ist ein skrupulöser, imperialistischer Machtpolitiker, der zum Beispiel linke Regierungen in Lateinamerika nur soweit unterstützt, wie es ihm geostrategisch nützt. Das macht ihn aber nicht zum einen linken Antiimperialisten. Bismarck wurde nicht zu Karl Marx, nur weil er sich dem imperialistischen Konkurrenten Napoleon III entgegen stellte.
Kapitulation der Nawalny Teams
Am 4. Februar kündigte Leonid Wolkow in Namen des Nawalnys-Teams das Ende der Proteste an. Die Teams seien zerschlagen, sie würden bis zum Herbst warten und sich dann bei den Parlamentswahlen engagieren. Für die Befreiung Nawalnys würde man auf die EU setzen. Der Vorsitzende der „Kommunistischen Partei“, Sjuganow, sagte nach einem Gespräch mit Putin den angekündigten Protest am 23. Februar ab und drohte allen Teilnehmer*innen an den Demos mit dem Parteiausschluss.
Die beiden politischen Kräfte, die eine politische Mobilisierung durchführen könnten, haben damit die Bewegung verraten. Die feige Entscheidung Wolkows und Sjuganows fußt wahrscheinlich auf der Angst, die Kontrolle über die Protesten zu verlieren, die womöglich die bürgerliche Fahrrinne verlassen könnten.
Das Team um Nawalny will keine Programmdiskussionen und keinen Aufbau demokratischer Strukturen in den Protesten. Alle Entscheidungen werden in Hinterzimmern getroffen und danach den Protestierenden präsentiert. Für sie ist es notwendig, jedes Element einer spontanen Bewegung, jede Beteiligung linker Kräfte und Politiker*innen am Prozess eines eventuellen Machtwechsels im Land zu unterbinden.
Sozialistische Alternative, unsere Schwesterorganisation in Russland, tritt für Befreiung aller politischen Gefangenen, für Massenproteste unter einer demokratischen Führung ein. Wir rufen dazu auf, Streikräte im Betrieb, an der Uni und in den Nachbarschaften zu gründen. Die Erfahrung von den Protesten in Belarus zeigte, dass allein die potenzielle Gefahr einer Streikwelle die Autokraten zu Vorsicht zwingt. Diese Räte könnten der Schritt in die Richtung Gründung einer neuen Partei der Arbeiterklasse und der Aufbau einer kämpferischen Gewerkschaftsbewegung werden.
Die in Nationalismus versunkenen regierungstreuen „linken“ politischen Leichen von „Gerechtes Russland“ und der „Kommunistischen Partei“ sollten im Mülleimer der Geschichte landen. Die neu entstandenen Strukturen können die Bevölkerung mit der Forderung einer wahren Demokratisierung mobilisieren, unter anderen mit dem Vorschlag alle Banken, Finanzreserven, Großkonzerne und Pipelines in öffentliche Hände zu übergeben und demokratisch unter der Kontrolle der Arbeitnehmer*innen zu verwalten. Dafür braucht es eine breite landesweite Räteversammlung aus aller Schichten der Arbeiter*innenklasse und Migrant*innen, die in Russland leben. Alle Schätze des Landes sollten demokratisch unter öffentlicher Kontrolle verwaltet werden, um die Armut, Korruption und Pandemie zu bewältigen.
Die Bewegung ist keineswegs zerschlagen. Keine der Gründe, die zur Massenmobilisierung führten, hat das Regime Putins bewältigen können. Die Zuspitzung der Krise wird der herrschenden Klasse immer weniger Raum für politische Manöver lassen. Kurz- bzw. mittelfristig zeichnet sich ein neues Aufflammen der Proteste ab.
Bild: Evgeny Feldman, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons