Grenz-Krise in den USA: Auch unter Biden gehen Inhaftierungen, Abschiebungen und Ausbeutung weiter

von Jen Narin (Socialist Alternative, ISA in den USA)

An seinem ersten Tag im Amt unterzeichnete Biden siebzehn Durchführungsverordnungen, darunter eine Handvoll mit Bezug zur Einwanderung. Während viele Aktivist*innen und Bürgerrechtsgruppen diese Initiative und Bidens Behauptungen, dass die Einwanderungsreform oberste Priorität haben würde, zunächst feierten, ist die Fassade inzwischen abgebröckelt.

Die Abschiebungen gehen weiter, Kinder sitzen weiterhin an der Grenze fest, getrennt von ihren Familien. Das meiste, was die Biden-Regierung bisher erreicht hat, ist einfach das Rückgängigmachen einiger der immensen Schäden, die Trump angerichtet hat. Es gibt jedoch Komponenten von Trumps Einwanderungspolitik, die Biden stillschweigend fortgesetzt hat, wie seine Berufung auf Titel 42, einen Abschnitt des Gesetzes zur öffentlichen Sicherheit, der es der US-Regierung erlaubt, Nicht-Staatsbürger*innen die Einreise zu verweigern, wenn es im „Interesse der öffentlichen Sicherheit“ ist. Er hat einige Ausnahmen davon gemacht, aber die Krise an der Südgrenze besteht weiter.

Sofortiges Handeln ist notwendig, um Trumps Vorstöße zurückzudrängen und das Leid der Immigrant*innen an der Grenze und in den USA zu lindern, und doch hat Biden argumentiert, dass zu schnelles Handeln „das Letzte ist, was wir brauchen.“ Bidens Herangehensweise an die Welle mittelamerikanischer Immigrant*innen an der südlichen Grenze ist völlig unzureichend und trägt wenig dazu bei, die schlimmen Bedingungen, die die Menschen dazu veranlassen, aus ihrer Heimat zu fliehen, überhaupt erst zu beseitigen.  

Bidens Ansatz zur Immigration

In seinen ersten Wochen im Amt beendete Biden das Einreiseverbot für Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern, bewahrte und stärkte das Deferred Action for Childhood Arrivals (DACA)-Programm (ein Programm, dass die Situation minderjähriger, illegalisierter Migrant*innen verbessert, Anm. d. Übers.)), beendete den Bau der Grenzmauer und machte Trumps Exekutivanordnung rückgängig, die Sanctuary Cities entmachtet (gemeint sind Städte, die illegalisiere Migrant*innen unterstützen, Anm. d. Übers.).

Bidens Anordnungen stellen Verbesserungen dar, aber wie sie umgesetzt werden sollen ist nur vage formuliert. Zum Beispiel setzt Bidens Anordnung zur Familienzusammenführung eine Arbeitsgruppe ein, die sich mit dem Thema befassen soll, ohne einen bestimmten Zeitplan zu nennen, und es gibt keine Garantie, dass die Familien bleiben dürfen, was bedeutet, dass sie von sofortiger Abschiebung und erneuter Trennung bedroht sein könnten.

Biden hat auch den U.S. Citizenship Act of 2021 als Versuch einer tiefgreifenderen Änderung des US-Einwanderungssystems eingeführt. Dieses Gesetz würde für schätzungsweise 11 Millionen Immigrant*innen ohne Papiere einen Weg zur Staatsbürgerschaft nach acht Jahren bieten, sofern die Antragsteller*innen Hintergrundprüfungen bestehen, ihre Steuern bezahlt haben und bis zum 1. Januar 2021 in den USA angekommen sind. Der Vorschlag sieht auch einen beschleunigten Weg zur Staatsbürgerschaft für Landarbeiter*innen und DACA-Empfänger*innen vor.

Bidens Vorschlag ist Teil eines langfristigen Projekts, das bis in die frühen 2000er Jahre der Einwanderungsreform zurückreicht. Das aktuelle archaische Einwanderungssystem weist viele Menschen an der Grenze ab. Diejenigen, die doch in die USA einreisen, sind extremer Ausbeutung und ständiger Angst vor Abschiebung ausgesetzt. Dies erlaubt es amerikanischen Unternehmen, die Angst vor der Abschiebung auszunutzen, um extrem niedrige Löhne an Arbeiter*innen zu zahlen, die unter unsicheren Bedingungen harte Arbeit verrichten und keine Rechtsmittel haben. Das treibt die Löhne insgesamt nach unten, was von der herrschenden Klasse strategisch genutzt wird, um Immigrant*innen und in den USA geborene Arbeiter*innen gegeneinander auszuspielen.

Trotzdem sind große Teile des amerikanischen Kapitals für eine Einwanderungsreform. Die US-Handelskammer und große Konzerne unterstützen Reformbestrebungen seit Jahren. Es liegt in ihrem Interesse, zu wissen, wer alle undokumentierten Immigrant*innen im Land sind und deren Status zu regularisieren. Gleichzeitig sperrt der extrem lange Weg zur Staatsbürgerschaft mit vielen Hindernissen die Menschen in einen Status zweiter Klasse ohne wirklichen Schutz, was ihre Überausbeutung durch Konzerne ermöglicht.

Bidens Gesetzgebung zielt darauf ab, die Zahl der eingewanderten Arbeiter*innen zu erhöhen, die Interessen des Großkapitals zu beschwichtigen und die Immigrant*innen auf eine achtjährige Reise mit endlosen Hürden zu schicken, um schließlich die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Das alles ist Teil ihres Projekts, die Löhne zu drücken und gleichzeitig die Solidarität der Arbeiter*innenklasse zu untergraben.

Zum Beispiel beseitigt das Gesetz Quoten für Visa pro Land, was speziell indischen Immigrant*innen helfen wird, die den Löwenanteil der Visa-Inhaber*innen in den USA ausmachen und von denen viele einwandern, um für Tech-Unternehmen zu arbeiten. Genau diese Unternehmen, wie Google und Facebook, haben sich für diese Reform eingesetzt, um einen Zustrom hochqualifizierter, ausbeutbarer Arbeiter*innen zu garantieren.

Bidens Vorschlag erinnert stark an das 1990 von Bush unterzeichnete Einwanderungsgesetz. Das Gesetz erhöhte die Obergrenzen für die Einwanderung und führte fünf beschäftigungsbasierte Stufen ein, die dazu dienten, bestimmten strategischen Gruppen von Arbeiter*innen aus Sicht der US-Wirtschaftsinteressen Priorität einzuräumen und Visa zu erteilen. Wie Bidens Vorschlag half dies Technologieunternehmen, Arbeitsvisa für Immigrant*innen zu beschleunigen, die über „außergewöhnliche“ Fähigkeiten verfügten. Indem er einen „Weg zur Staatsbürgerschaft“ anbietet, wird Biden einen Drittklassestatus für Millionen von Menschen schaffen und die in Amerika geborene Arbeiter*innenklasse und Immigrant*innen weiter spalten. Bidens Haltung ist klar: eine Einwanderungsreform zu kapitalistischen Bedingungen.

Einwanderung unter dem US-Kapitalismus

Das waren schon immer die Bedingungen des US-amerikanischen Einwanderungssystems. In den späten 1800er und frühen 1900er Jahren nutzten die USA die großen Wellen von Migrant*innen, die ins Land kamen, überwiegend aus Europa, und verordneten eine Politik der „offenen Tür“. Die Rockefellers und Carnegies suchten verzweifelt nach ausbeutbaren Arbeitskräften für die aufstrebenden Industrien des Landes. Sie nutzten die Immigrant*innen gerne aus, indem sie ihnen weniger zahlten, sie in überfüllte, baufällige Wohnungen zwangen und eine einwandererfeindliche Stimmung schürten, um sie gegen in den USA geborene Arbeiter*innen auszuspielen.

Die USA beendeten ihre Politik der „offenen Tür“, als der Erste Weltkrieg endete und die Zahl der Arbeitslosen und wirtschaftlich Verzweifelten in die Höhe schoss. Der Nativismus in den USA nahm ebenfalls zu, und die herrschende Klasse machte sich dies zunutze, indem sie eine strengere Einwanderungspolitik verordnete und Fremdenfeindlichkeit schürte, um die revolutionäre Linke und die militante Arbeiter*innenbewegung, die zu dieser Zeit wuchs, zu zerschlagen. Dazu gehörte auch die Einführung von Quoten, um bestimmte ethnische Gruppen aus dem Land zu halten.

Eine neue Migrationswelle setzte in den späten 1980er Jahren als Folge der neoliberalen Politik ein, die von Republikanern und Demokraten gleichermaßen vertreten wurde. Diese Politik destabilisierte die lateinamerikanischen Länder wirtschaftlich und zwang Millionen Menschen, Arbeit und bessere Bedingungen in den USA zu suchen. Das 1994 von Bill Clinton unterzeichnete Nordamerikanische Freihandelsabkommen zerstörte den mexikanischen Agrarsektor und war einer der Gründe für den massiven Zustrom von Migrant*innen aus Mexiko in dieser Zeit.

Dadurch entstand neuer Druck, das System zu reformieren und eine größere Kontrolle über die Migrant*innen an der Südgrenze zu ermöglichen. George W. Bush versuchte dies in den frühen 2000er Jahren, wurde aber vom einwanderungsfeindlichen Flügel der Republikanischen Partei blockiert. Dieser Flügel wurde ein sehr wichtiger Teil von Trumps Koalition. Während die langfristigen Auswirkungen des Neoliberalismus Mexiko und Mittelamerika weiterhin heimsuchen, zieht sich die Krise an der Grenze hin, mit unsäglichem Leid unter Migrant*innen und Asylsuchenden durch die Hände des US-Einwanderungssystems.

Das Vermächtnis der Demokraten in Sachen Immigration

Wir müssen die neoliberale Politik beenden, die Menschen dazu zwingt, aus ihrer Heimat zu fliehen, um zu überleben. Dazu gehört auch die kapitalistische Zerstörung, die den Klimawandel vorantreibt, der ein wichtiger Faktor für die Migration aus Guatemala, Honduras und El Salvador ist. Biden hat zwar Lippenbekenntnisse abgegeben und kleine Summen an Hilfe für lateinamerikanische Länder versprochen, aber seine starke Verbundenheit mit Geschäftsinteressen und dem US-Imperialismus bedeutet, dass sich nicht wirklich viel ändern wird.

Die Demokratische Partei hat sich lange für Freihandelsabkommen eingesetzt, die lateinamerikanische Länder verwüstet haben, und hat sich heftig gegen die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und andere Maßnahmen gewehrt, die arme und arbeitende Menschen aus der Armut befreien könnten. Die USA haben linke Politiker*innen von Honduras und Guatemala bis Argentinien und Nicaragua buchstäblich gestürzt, wann immer sie ihre eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen bedroht sahen, und damit die Region massiv destabilisiert.

Wir können nicht darauf vertrauen, dass die Demokraten unter Biden für die Interessen der Migrant*innen kämpfen werden, so wie sie es unter Obama und in den Jahren davor nicht getan haben. In Obamas acht Jahren gab es über drei Millionen Abschiebungen, was ihm den Titel des „Deporter-in-Chief“ einbrachte. Während die Medienberichterstattung über Kinder, die in Käfigen festgehalten werden, unter Trump in die Höhe schnellte, baute Obamas Regierung die Käfige und begann die Praxis. Biden hat diese Tradition mit der Eröffnung einer neuen Haftanstalt fortgesetzt und bereits Hunderte von Migrant*innen abschieben lassen, obwohl die Regierung versprochen hat, dies nicht zu tun.  

Was braucht es, um die Rechte von Migrant*innen zu erringen?

Trumps zahlreiche Angriffe auf Migrant*innen rückgängig zu machen, reicht nicht aus, um die Krise zu lösen, mit der diejenigen konfrontiert sind, die in die USA fliehen und mit Ausbeutung und Armut konfrontiert sind, sobald sie hier sind. Ein achtjähriger Weg zur Staatsbürgerschaft ist zwar ein echter Hoffnungsschimmer für viele Millionen Immigrant*innen und ein echter Fortschritt gegenüber der gegenwärtigen Situation, sperrt die Menschen aber in eine Staatsbürgerschaft zweiter Klasse, während sie durch endlose Reifen springen.

Wir müssen für die sofortige, volle Staatsbürgerschaft für alle im Ausland geborenen Arbeiter*innen kämpfen, die in den USA leben. Wir brauchen ein sofortiges Ende aller Abschiebungen und Inhaftierungen von Migranten. Wir müssen dafür kämpfen, das wegen COVID ausgezahlte Helikoptergeld auf alle Menschen auszuweiten, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Wir müssen ICE-Razzien beenden und die Grenze entmilitarisieren, nicht die Kontrollen verstärken. Wir müssen für ein echtes „Green New Deal“-Jobprogramm kämpfen, das nicht nur einheimischen und immigrierten Arbeiter*innen gleichermaßen Arbeit verschafft, sondern auch damit beginnt, die unabwendbaren Klimakatastrophen anzugehen, die Menschen aus ihrer Heimat vertreiben.

Wir müssen eine vereinigte Bewegung von Migrant*innen und der amerikanischen Arbeiter*innenklasse aufbauen, um gegen die herrschende Klasse und ihre Versuche, uns zu spalten, zu kämpfen. Wir brauchen eine sozialistische Föderation Amerikas, um die imperialistische Ausbeutung zu beenden und für bessere Löhne und bessere Bedingungen für alle zu kämpfen.

Von 2006 bis 2007 kämpfte eine Massenbewegung von Migrant*innen der Arbeiter*innenklasse gegen den Sensenbrenner-Gesetzentwurf, der zu Massenabschiebungen geführt und illegalisierte Immigrant*innen als Schwerverbrecher eingestuft hätte. Diese Bewegung stoppte nicht nur den Gesetzentwurf, sondern verstärkte auch die Solidarität zwischen Arbeiter*innen ohne Papiere und der breiteren amerikanischen Arbeiter*innenklasse. Allerdings gelang es der Bewegung nicht, die Staatsbürgerschaftsrechte für Immigrant*innen zu erlangen, was zu ihrer Hauptforderung wurde.

Migrant*innen wurden schon immer benutzt, um die Löhne zu drücken, und die herrschende Klasse hat immer Rassismus und Fremdenfeindlichkeit geschürt und aufgepeitscht, um ausländische und in den USA geborene Arbeiter*innen gegeneinander auszuspielen. Um echte Verbesserungen im Leben der Immigrant*innen zu erreichen, müssen diese Spaltungen überwunden und für die ein besseres Leben für aller Arbeiter*innen gekämpft werden, die von den Bossen ausgebeutet und niedergeschlagen werden.

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