Am 10.4. stellte die LINKE NRW ihre Landesliste zur Bundestagswahl auf. Dabei wurde Sahra Wagenknecht mit 61% der Stimmen auf Platz 1 gewählt, auch ihre Unterstützer*innen konnten sich bei den Wahlen für weitere Listenplätze durchsetzen. Von Linken in NRW und Genoss*innen aus anderen Landesverbänden kommen empörte, enttäuschte und resignierte Reaktionen. Einige kündigten an, aus der Partei auszutreten – wir meinen, dass es jetzt erst recht notwendig ist, in der Partei den Kampf für ein sozialistisches Programm und ein entschiedenes Eintreten gegen alle Formen von Unterdrückung zu führen.
Bild: Dirk Vorderstraße (CC BY 3.0)
Der Landesverband Nordrhein-Westfalen war früher für sozialistische Positionen bekannt. Fans von Regierungsbeteiligungen in der Partei und einem „realpolitischen“ Kurs klagten immer wieder über das „Tollhaus NRW“, wo die Antikapitalistische Linke (AKL) die stärkste Parteiströmung war, zahlreiche Landesvorstandsmitglieder und Abgeordnete stellte. Zu keinem Zeitpunkt wurde aber eine Liste zu Wahlen aufgestellt, bei der nicht auch Kandidat*innen anderer Strömungen auf aussichtsreiche Plätze gewählt wurden. In den letzten Jahren hat sich das geändert, 2020 gewann die Sahra Wagenknecht nahestehende „Sozialistische Linke“ (SL) die Mehrheit im Landesvorstand. Wagenknecht, die traditionell in einem Düsseldorfer Wahlkreis und über die Landesliste NRW für den Bundestag kandidiert, obwohl sie selbst nicht im Bundesland wohnt oder im Landesverband aktiv ist, wurde zur zentralen Identifikationsfigur für die Mehrheit der NRW-Linken.
Zugpferd wohin?
Viele Mitglieder, die konsequent linke Positionen etwa zur Friedensfrage oder gegen Regierungsbeteiligungen vertraten, hielten Wagenknecht während des Prozesses ihrer Abwendung vom Marxismus die Treue. Schon seit zehn Jahren verklärt sie den bundesdeutschen Kapitalismus der 50er bis 70er zur „sozialen Marktwirtschaft“, die das Gegenteil des „Raubtierkapitalismus“ sei und wiederhergestellt werden müsste. Später brach sie dann auch mit weiteren linken Kerninhalten, von klarem Antirassismus und der Solidarität mit Geflüchteten bis hin zum Kampf gegen LGBTQ-Feindlichkeit, den sie in ihrem neuen Buch zur Sache „immer skurrilerer Minderheiten“ erklärt. Für viele ihrer Unterstützer*innen in NRW war das kein Grund, sich von ihr abzuwenden. Sie halten Wagenknechts Aussagen entweder für inhaltlich richtig oder glauben, dass die LINKE ohne ihr „bekanntestes Zugpferd“ nicht gewählt werden würde. Ein Zugpferd war Wagenknecht in den letzten Jahren tatsächlich – für die Entwicklung des Landesverbands NRW weg von linken, sozialistischen Positionen.
Gegenstimmen sichtbar gemacht
Zur Verteidigung dieser Positionen trat bei der Listenaufstellung die Kölner Gewerkschafterin und SAV- und AKL-Aktive Angela Bankert gegen Wagenknecht, die zuvor vom Landesvorstand dafür nominiert worden war, auf Platz 1 an. In ihrer Vorstellungsrede betonte sie die Aufgabe der Linksfraktion, parlamentarischer Arm der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften zu sein. Sie zeigte den Zusammenhang zwischen sozialer und ökologischer Frage auf und stellte klar: „Der Kampf gegen Rassismus und Sexismus ist […] kein „Lifestyle-Gedöns“, sondern notwendiger Teil des Klassenkampfs.“ Eine weitere Gegenkandidatin nutzte ihre Redezeit, um anhand von Zitaten aus Wagenknechts neuem Buch das Ausmaß von deren Rechtsentwicklung darzustellen.
Sahra Wagenknecht selbst wies Vorwürfe in Bezug auf ihre Haltung gegenüber Migrant*innen mit Verweis auf ihren eigenen iranischen Vater von sich – ein erstaunlicher Anklang an die von ihr sonst abgelehnte Identitätspolitik – und behauptete im Übrigen, sie sei falsch zitiert worden, sie wolle die Partei einen und in einen gemeinsamen Wahlkampf führen. Letzteres ist ein ambitioniertes Ziel für die Autorin eines Buchs, in dem zum Beispiel Bernd Riexinger als ehemaliger Vorsitzender „einer deutschen linken Partei, dessen Name heute zu Recht vergessen ist“ bezeichnet wird.
Die Mehrheit der Delegierten ließ sich von solchen Widersprüchen nicht stören, 61% wählten Wagenknecht. Angela Bankert bekam 28% der Stimmen, angesichts des Zustands des Landesverbands ein gutes Ergebnis. Ihre Kandidatur war ein wichtiges Zeichen, dass die kritische Parteibasis in NRW Wagenknechts “linkskonservative” Positionen nicht unwidersprochen akzeptiert. Auch in den weiteren Wahlgängen für aussichtsreiche Listenplätze setzten sich Wagenknecht-Unterstützer*innen mit relativ klaren Mehrheiten um die 60% durch, nur Alexander S. Neu musste in die Stichwahl, die er dann aber ebenfalls gewann. Auf den ersten acht Listenplätzen wurden sechs Sahra Wagenknecht nahestehende Kandidat*innen gewählt. Kandidat*innen des linken Flügels wie die Dortmunder Antifaschistin Iris Bernert-Leushacke wurden nicht gewählt. Abgeordnete wie Ulla Jelpke und Niema Movassat, die nicht wieder zur Wahl antraten, wurden nicht adäquat ersetzt.
Wie weiter?
In sozialen Netzwerken häuften sich am Samstag Ankündigungen von Aktiven aus der Linken und sozialen Bewegungen aus NRW und darüber hinaus, keinen Wahlkampf mehr zu machen, aus der Partei auszutreten, doch nicht in sie einzutreten oder sie nicht mehr zu wählen. Die Wiederwahl Wagenknechts hat der LINKEN eindeutig geschadet. Es wäre aber falsch, Die LINKE insgesamt oder in NRW jetzt als „Wagenknechtpartei“ abzuschreiben und aufzugeben. Einerseits gibt es schon seit ihrer Gründung Aspekte der LINKEN, die ihren Zielen und denen linker sozialer Bewegungen widersprechen – zum Beispiel die Regierungsbeteiligungen auf Landesebene, wo mit Billigung eines linken Ministerpräsidenten abgeschoben oder von einer linken Gesundheitssenatorin, die eine klare Haltung gegen Personalabbau in Krankenhäusern vermissen lässt.
Andererseits gibt es auch schon immer viele Mitglieder, die dagegen angehen, die vor Ort in sozialen Bewegungen für bessere Gesundheitsversorgung und gegen Rassismus, für Klimaschutz und gegen LGBTQ-Feindlichkeit aktiv sind, sich parteiintern in linken Strömungen wie der AKL zusammenschließen und für ein klares sozialistisches Programm der Einheit der Arbeiter*innenklasse und der Solidarität mit allen Unterdrückten kämpfen, für eine Partei die mit Karl Marx konsequent dafür eintritt, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.
Es sei daran erinnert, dass bei den im Februar stattgefundenen Wahlen zum Parteivorstand gerade erst viele Mitglieder des bewegungsorientierten Flügels in den Vorstand gewählt wurden und kein*e Kandidat*in, die Wagenknecht nahesteht, gewählt wurde (dafür aber viele Reformer*innen, die die Partei auf Bundesebene fit für Rot-Rot-Grün machen wollen).
Und sogar die Tatsache, dass der Landesverband NRW sich innerhalb weniger Jahre vom kämpferischsten linken Landesverband zur Hausmacht Sahra Wagenknechts gewandelt hat kann Hoffnung machen, denn so eine schnelle politische Entwicklung kann auch wieder rückgängig gemacht werden, solange sie nicht dazu führt, dass Mitglieder, die sich ihr entgegenstellen, in Scharen die Partei verlassen.