Eine Welle der Empörung rollt durch Medien und Politik. Nicht über 200 Tote in Gaza innerhalb weniger Tage, sondern über Demonstrationen mit einigen Tausend Teilnehmer*innen. BILD trommelt „Unser Land ist in Gefahr!“ und Politiker*innen von CDU, FDP, SPD und Grünen formulieren es kaum weniger hysterisch. Wir erleben eine konzentrierte Kampagne von Regierung, Staat und etablierten Parteien, um sämtliche Proteste gegen die Politik des israelischen Staates und in Solidarität mit den Palästinenser*innen mit dem Stempel „Antisemitismus“ zu versehen und zu delegitimieren.
von Claus Ludwig, Köln
Erstes Ziel dieser Kampagne ist es, von dem sich entwickelnden Horror im Nahen Osten und der Verantwortung der israelischen Regierung abzulenken. Die Menschen in Gaza haben keinen Schutz und können nicht fliehen. Gleichzeitig ziehen Schlägertrupps jüdischer Rechtsextremer durch Städte in Israel und greifen Araber*innen an. In Jaffa wurden zwei Kinder durch einen Brandsatz schwer verletzt, der in das Haus ihrer Familie geworfen wurden. Menschen in ganz Israel sind von den Raketen bedroht, die aus Gaza abgefeuert werden.
Zweites Ziel ist es, die Proteste in Solidarität mit den Palästinenser*innen und gegen Israels Bombenkrieg zu delegitimieren. Die Organisator*innen der Demonstrationen können sich klar von jeglicher Feindschaft gegen Jüd*innen distanzieren, sie können die internationale Solidarität beschwören. Auf den Demonstrationen haben sich linke Palästinenser*innen und Jüd*innen, Deutsche, Türk*innen und Kurd*innen gegen die dort auch anwesenden reaktionären, islamistischen Kräfte positioniert, die Demos selbst sind ein politisches Kampffeld. Doch am Ende wird den gesamten Demonstrationen und allen Teilnehmer*innen vorgeworfen, ihre Distanzierung wäre nicht deutlich genug, der Protest antisemitisch. Es geht bei diesem Diskurs nicht darum, wie eine Demonstration konkret verläuft. Den hier lebenden Palästinenser*innen wird das Recht zum Protest grundlegend abgesprochen.
Vordergründig geht es gegen „die Hamas“ oder gegen „islamischen Antisemitismus“. Gemeint ist auch die Linke. Deutsche, türkische, kurdische Linke sollen davon abgeschreckt werden, die Demonstrationen zu unterstützen. Politiker*innen fordern ein Verbotsverfahren gegen die linke PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas). Auch jüdische Gegner*innen der Regierung Netanjahu wie die Jewish Antifa Berlin oder die Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost sollen isoliert und delegitimiert werden. Sie passen nicht in die Erzählung, dass Kritik an Israel automatisch antisemitisch sei. Es ist atemberaubend zynisch, dass Politiker*innen aus dem Land der Täter*innen definieren wollen, welche Meinung ein „guter“ oder „richtiger“ Jude haben solle.
Alles antisemitisch?
Die zentrale Methode der Kampagne ist die Gleichsetzung der Jüd*innen mit der Regierungspolitik Israels. Damit wird jede Kritik an der Regierung zu „Antisemitismus“. Nicht nur wirkliche antisemitische Vorfälle – Steine gegen Synagogen, Sprechchöre „Scheiß-Juden“ – werden als solche bezeichnet. Es ist angeblich antisemitisch, „Kindermörder Israel!“ zu rufen, obwohl dies in Bezug auf das Vorgehen der israelischen Armee schlicht den Tatsachen entspricht – in den ersten Tagen der Bombenangriffe auf Gaza starben 58 Minderjährige. Es soll antisemitisch sein, die Fahne Israels zu verbrennen, obwohl es sich um das Symbol eines kriegführenden Staates handelt. Es soll antisemitisch sein, den Boykott von Waren und Dienstleistungen aus Israel zu fordern, obwohl dieser Staat gegen sämtliche rechtliche und humanitäre Regeln verstößt.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Als Marxist*innen schlagen wir vor, „Hoch die internationale Solidarität“ zu rufen und nicht „Kindermörder Israel“. Wir halten es weder für eine gute Idee, Nationalfahnen zu schwenken noch diese zu verbrennen. Wir tragen die rote Fahne und betonen die Gemeinsamkeiten der Arbeiter*innenklasse unterschiedlicher Länder. Wir halten den Boykott von Waren aus Israel nicht für eine geeignete Strategie, die Besatzung zu thematisieren. Aber all das ist nicht antisemitisch, das sind Aspekte eines Kampfes gegen Krieg und Besatzung, die man mehr oder weniger sinnvoll finden kann.
Die Linke und die Arbeiter*innenbewegung müssen diese Gleichsetzung zurückweisen und das Recht von Palästinenser*innen und linken Jüdinnen und Juden weltweit verteidigen, wütend zu sein, den Staat Israels zu beschimpfen und bei Vergleichen auch über das Ziel hinaus zu schießen. Es sind ihre Freundinnen und Freunde, ihre Familien, arabisch und jüdisch, die unter der Lage im Nahen Osten leiden, unter Bomben, Ängsten und permanenter Mobilmachung.
Allerdings machen führende Vertreter der LINKEN und der Gewerkschaften das Gegenteil, von dem, was sie tun müssten. Der LINKE-Fraktionschef Dietmar Bartsch und der DGB-Vorsitzende Reiner Hofmann sprachen am 20. Mai auf einer Kundgebung „Solidarität mit Israel“ zusammen mit allen bürgerlichen Parteien, während noch Bomben auf Gaza fielen, während Polizei und Armee in Ostjerusalem, Westjordanland und Israel selbst gegen Demonstrationen vorgingen. Bartsch tat dies unter Missachtung des Programms der LINKEN, welches sich gegen Israels Besatzungspolitik wendet. Der DGB hat überhaupt kein Programm zum Nahen Osten, Reiner Hofmann hatte sich selbst ermächtigt, mitten in dieser Eskalation „Solidarität” mit einem Staat zu fordern, dessen Armee Wohnviertel bombardiert. Bartsch und Hofmann treten damit die Solidarität mit den armen und arbeitenden Menschen in der Region mit den Füßen. „Solidarität” hätte der Generalstreik am 18. Mai gebraucht, Solidarität brauchen die Proteste in Deutschland, Solidarität braucht Israels Linke im Kampf gegen Krieg und Besatzung.
(Teilweise gewünschte) Nebenwirkungen
Rechte Medien nutzen die Situation, um den Rassismus hierzulande anzuheizen. BILD fantasiert über die Demonstrationen mit einigen Tausend Teilnehmer*innen bundesweit: „… diejenigen, die Israel und jüdisches Leben bei uns ausgelöscht sehen wollen, beherrschen die Straße, wann immer sie es wollen“ und bezeichnet die Demonstrationen als „arabisch-muslimisch geprägter, antisemitischer Mob“.
Diese Worte dienen als Brandbeschleuniger von Angriffen gegen Moscheen und islamische Einrichtungen. Die Politiker*innen aller etablierten Parteien sind – bewusst oder unbewusst – Kompliz*innen bei dieser Eskalation rassistischer Hetze, wenn sie Kritik am Handeln des israelischen Staates mit Antisemitismus gleichsetzen.
BILD und andere Medien konstruieren einen Zusammenhang von Antisemitismus und der Zuwanderung aus arabischen Ländern seit 2015. Auch einige „Linke“ oder Ex-Linke übernehmen dies. Tatsache ist, dass nach Angaben der Polizei antisemitische Straftaten zu über 95% deutschen Rechten zugeordnet werden können, stabil seit mehreren Jahren. Einen Anstieg nicht rechts motivierter Straftaten gibt es nicht. Der Anstieg 2020 ist laut Polizei auf rechte Verschwörungsmystiker*innen im Rahmen der Corona-Demos zurückzuführen.
Die Relativierung der Nazi-Verbrechen und der aktuellen Gefahr durch den Antisemitismus durch Nazis ist eine weitere Nebenwirkung dieser Debatte. Wenn schon die Kritik an Israels Bombenkrieg, wenn jede Aktivität von Palästinenser*innen unter dem Verdacht des Antisemitismus steht, dann fallen die wahren Antisemit*innen nicht auf. Das Entwerten, Verwischen und Verwirren des Begriffs schafft eine Grauzone, in der Rechtsextreme agieren können. Dazu kommt: Rassist*innen und Faschist*innen nehmen es nicht so genau mit Hass auf Muslim*innen oder Jüd*innen. Sie lesen BILD und regen sich über „die Araber*innen“ auf, was sie nicht daran hindert, glühend antisemitisch zu sein.
2019 hat der Nazi-Terrorist Stefan B. versucht, in der Synagoge von Halle einen Massenmord zu begehen, scheiterte an der Tür und tötete zwei Menschen. Das ist das Gesicht des Antisemitismus in Deutschland, der ideologischen Grundlage des schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, einer durch und durch europäischen Ideologie.
Die Linke muss handeln
Auch viele Linke fühlen sich hilflos. Doch es ist nicht so schwer, Israels Bombenkrieg und die rechte Regierung Netanjahu abzulehnen, ohne Hamas und ihre reaktionären Ideen und Methoden zu unterstützen. Israels Linke macht das. Millionen Menschen auf Demonstrationen weltweit machen es. Es ist nicht schwer, für demokratische Rechte für alle einzutreten und Rassismus in jeder Form abzulehnen.
Es wäre möglich, auf Demonstrationen gegen den Krieg die reaktionären islamistischen Kräfte zu marginalisieren und allen Parolen, die sich gegen Jüd*innen richten, mit internationalistischen Losungen entgegenzutreten, wenn die Linke in Deutschland sich dazu durchringen könnte, diese Demonstrationen zu unterstützen anstatt sich vom Sperrfeuer der etablierten Parteien und Medien lähmen zu lassen.
LINKE, Gewerkschaften und antifaschistische Initiativen sollten mobilisieren und gemeinsam mit palästinensischen Initiativen, linken jüdischen Gruppierungen, Migrantifa, Black Lives Matter und anderen auf die Straße gehen. Wir werden unterschiedlicher Meinung über Details sein, sollten uns aber auf einige Forderungen einigen können:
- Nein zum Krieg
- Nein zu Besatzung und Unterdrückung, demokratische Rechte für die Palästinenser*innen
- Gegen alle Formen von Rassismus und Diskriminierung, gegen Antisemitismus und Islamhass
Die Kampagne zur Umdeutung und Verwirrung des „Antisemitismus“-Begriffes ist auch ein Angriff auf die gesamte Linke. Diesen können wir nur durch Solidarität zurückschlagen.
Gegen jeden Antisemitismus
Es gab bei Protesten gegen Israels Vorgehen antisemitische Parolen und Aktionen. In Gelsenkirchen wurde „Scheiß Juden” gerufen, Synagogen wurden beschädigt. Die Verbrechen der rechten Regierung Netanjahu rechtfertigen keinen einzigen verbalen oder physischen Angriff auf jüdische Menschen oder Einrichtungen. Oft kommen solche Parolen von Anhänger*innen der türkischen Regierungspartei AKP oder von türkischen Faschist*innen, die den Nahost-Konflikt für ihre eigenen Interessen ausnutzen.
Um gegen Antisemitismus zu sein, muss man keine Haltung zum Staat Israel haben. Man müsste nicht einmal von dessen Existenz wissen. Es reicht, die Diskriminierung von Menschen aufgrund von Religion, Herkunft, Aussehen oder Sprache abzulehnen.
Wenn eine jüdische Gemeinde die israelische Regierung bei ihren Angriffen auf Gaza unterstützt, kritisieren wir das politisch. Doch das darf die Linke und die Arbeiter*innenbewegung nicht davon abhalten, die Gemeinde und ihre Mitglieder gegen antisemitische Übergriffe oder Beleidigungen zu schützen und zu verteidigen. Wir sind solidarisch mit jüdischen Menschen und Institutionen, wenn diese wegen ihres Jüdischseins angegriffen werden.
Die Linke und die Arbeiter*innenbewegung dürfen es nicht den bürgerlichen Parteien und Regierungen überlassen, sich als Bollwerk gegen den Antisemitismus zu präsentieren. Diese Kräfte verharmlosen den Antisemitismus, weil sie ihn von seinem Kern – dem rassistischen Hass gegen Menschen jüdischer Herkunft – trennen und die Situation nutzen wollen, um Unterstützung für den Staat Israel und dessen Besatzungspolitik und Kriegsführung zu generieren. Das schadet dem Kampf gegen den Antisemitismus, es schadet den hier lebenden jüdischen und arabischen Menschen.
Facebook-Post der SAV vom 14.Mai