Die Türkei befindet sich in einer sozialen und wirtschaftlichen Krise. Es wird immer enger für das Erdoğan-Regime. Eine Niederlage bei den nächsten Wahlen würde das Ende des Regimes und auch der AKP als Partei bedeuten. Daher werden Pläne geschmiedet, die einen Wahlsieg für AKP und die Koalitionspartnerin MHP sichern sollen. Einer von diesen Plänen ist das Verbotsverfahren gegen die HDP.
Von Nihat Halepli, Sosyalist Alternatif
Am 17. März wurde ein Verbotsverfahren gegen die HDP (Demokratische Partei der Völker), wegen „Unterstützung der PKK“ eingeleitet. Die HDP ist ein Zusammenschluss der kurdischen und Teilen der türkischen Linken mit überwiegender kurdischer Wähler*innenschaft. Das türkische Verfassungsgericht hat die Verbotsklage mittlerweile wegen formalen Mängeln an den Obersten Gerichtshof zurückgegeben. Die Staatsanwaltschaft des Obersten Gerichtshofs wird die Anklageschrift überarbeiten und erneut beim Verfassungsgericht einreichen.
Kontinuität der Unterdrückung
Die HDP und ihre Vorläuferorganisationen waren immer wieder von der staatlichen Unterdrückung der Kurd*innen betroffen. 1989 wurden sieben kurdische Abgeordnete aus der damaligen kemalistischen SHP (Sozialdemokrat*innen, heute CHP) ausgeschlossen, weil diese an einer Konferenz über die kurdische Frage in Paris teilgenommen hatten. Diese gründeten daraufhin eine Partei namens Partei der Arbeit des Volkes (HEP) und somit die erste legale Partei der Kurd*innen nach dem Beginn des bewaffneten Kampfes der PKK 1984. Auch die HEP wurde schnell verboten. 1993 wurde die Demokratische Partei (DEP) gegründet. Ihre Abgeordneten wurden verhaftet, es gab Bombenanschläge auf ihre Büros. Mitglieder wurden getötet, gefoltert und schließlich folgte das Verbot.
Bei jeder Parteigründung wurde eine „Ersatzpartei“ für den Fall eines Verbotes registriert. Diese Parteien wurden immer als rein kurdische Parteien wahrgenommen und ihre Wähler*innenschaft war begrenzt auf die kurdischen Städte und Dörfer. Die HDP ist die achte Partei in dieser Parteienkette. Sie unterscheidet sich von ihren Vorgängern durch das Ziel, eine landesweite linke Partei zu werden.
Eine Partei für die ganze Türkei
Sie wurde vor dem Hintergrund der Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und PKK, des sogenannten „Lösungsprozess“ 2012 gegründet und existierte zuerst nur auf Papier, bis die damalige BDP (Partei der Frieden und Demokratie) sich zu Gunsten des neuen Projekts auflöste. Die Idee war, eine gemeinsame linke Partei aufzubauen, die die kurdischen und türkischen Linken vereint und landesweit legal agiert, für den Fall, dass der bewaffnete Kampf beendet wird.
Die Kommunalwahl 2014 war ein wichtiger Test dafür, ob es der Partei gelingen würde, auch Stimmen im Westen der Türkei zu gewinnen. Vor der Wahl hatte die HDP in den westlichen Provinzen Wahlkampf gemacht, die Wahlkämpfer*innen wurden in mehreren Städten von Rechten körperlich angegriffen. Trotz solcher Schwierigkeiten zeigte die Partei, dass sie auch in den westlichen Provinzen in der Lage ist zu handeln und erzielte 2 % im Westen. Obwohl das kein sensationeller Erfolg war, war es auch kein Misserfolg, sondern ein Schritt in die Richtung, eine landesweite Partei zu werden.
2014 trat der HDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş als Präsidentschaftskandidat an. Demirtaş thematisierte nicht nur demokratische Forderungen der Kurd*innen, sondern auch soziale Probleme. Während des Wahlkampfes besuchte er Soma, eine Provinz im Westen. Dort waren bei einem Minenunglück 301 Arbeiter ums Leben gekommen. Er nahm an den Park-Foren teil, die nach den Gezi-Protesten entstanden. Solche Aktionen waren für die „Vorgänger-Parteien“ noch unmöglich. Demirtaş erzielte bei den Präsidentschaftswahlen ein Ergebnis von 10%. Das Wichtigste an diesem Ergebnis war die Widerlegung des Arguments, dass die türkische Arbeiter*innenklasse nicht für eine kurdische Partei stimmen würde.
Unterstützung trotz Repression
Die HDP ist unter den spezifischen Bedingungen der Türkei entstanden und ist entsprechend mit spezifischen Schwierigkeiten konfrontiert. Es ist sehr leicht für ihre politischen Gegner, sie mit der PKK oder mit „Terror“ in Verbindung zu bringen und zu diffamieren. Die HDP ist zudem ein Top-Down-Projekt, daraus resultieren viele strukturelle Schwächen. Obwohl sie Forderungen im Interesse der Arbeiter*innenklasse stellt, hat sie kein klares Programm geschweige denn eine sozialistisches.
Auf der anderen Seite hat die HDP eine Schlüsselposition in der Arithmetik des politischen Systems der Türkei erkämpft. Sie hat diese kritische Stellung unter anderem deswegen, weil sie an Wahlen als Partei teilgenommen hatte – anders als die vorherigen Parteien, die an Wahlen wegen der 10%-Wahlhürde nicht als Parteien teilgenommen hatten, sondern unabhängige Kandidat*innen stellten. Mit einem sensationellen Ergebnis von über 13 % bei den Parlamentswahlen 2015 war die HDP der entscheidende Faktor für den Verlust der absoluten Mehrheit der AKP, die danach nicht mehr allein regieren konnte.
Trotz großer Repressionen in den letzten sechs Jahren blieb der Stimmenanteil der HDP über 10 % (bis zu sieben Millionen Stimmen) konstant. Keines der beiden bürgerlichen Lager – AKP auf der einen, CHP und IYI-Partei auf der anderen Seite – kann ohne den Stimmenanteil der HDP eine Wahl gewinnen. Das zeigte sich bei den Kommunalwahlen 2019. Die HDP unterstützte, ohne ein formales Bündnis einzugehen, die Kandidat*innen von CHP und IYI-Partei gegen die AKP. So gelang es der Opposition die wichtigsten Metropolen des Landes zu erobern, darunter Istanbul und Ankara. Wenn es um die kurdische Frage geht, unterscheiden sich diese Parteien alle nicht stark voneinander. Eine ist so türkisch-nationalistisch wie die andere. Die besondere Stellung der HDP zwingt sie allerdings, ihren Tonfall gegenüber den Kurd*innen anzupassen.
Das Erdoğan-Regime will verhindern, dass bei der nächsten Wahl erneut eine solche Situation entsteht. Für das Regime geht es um „Leben und Tod“. Die soziale und wirtschaftliche Krise im Land über Jahre vertieft sich. Die Reichen werden immer reicher, die Armen ärmer. Die Inflation, der Arbeitslosigkeit und die Lebenshaltungskosten verschärfen den ohnehin schlechten Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse. Korruption und Vetternwirtschaft stinken zum Himmel. Unzufriedenheit und Wut gegen diese Umstände wachsen. Die Medien und die Justiz stehen vollständig unter der Kontrolle des Regimes. Demokratische Rechte wie Meinungsfreiheit, Protest und Demonstrationsrecht sind praktisch abgeschafft. Repressionen, Demagogie und Lügen sind beinahe die einzigen Instrumente, die das Regime zum Regieren in der Hand hat.
Vor diesem Hintergrund kann es 2022 vorgezogene Wahlen geben. Ein regulärer Wahlsieg von AKP und MHP wäre unwahrscheinlich. Doch Erdoğan ist seit fast zwanzig Jahren an der Macht und hat faktisch eine Diktatur errichtet. Die Idee der bürgerlichen Opposition, das Regime würde die Macht einfach abgeben, ist eine naive Illusion.
Eine Methode zum Machterhalt ist das Aufputschen der harten religiösen Kerns der eigenen Basis, mit provokativen Aktionen wie der Umwidmung der Hagia Sophia zur Moschee und dem Austritt aus der Istanbul-Konvention. Weitere Versuche, durch militärische Aktionen – wie gegen kurdische Stellungen im Nordirak – von den Problemen im Inneren abzulenken, sind wahrscheinlich. Das Regime kann, wenn es eng wird, verschiedene Methoden des Wahlbetrugs nutzen, zum Beispiel die Nicht-Anerkennung von Stimmzetteln.
Sollten diese Optionen nicht den Sieg sichern, ist die offene Anwendung von Gewalt eine Option für das Regime, wobei weder klar ist, wie weit Erdoğan und die AKP gehen werden noch ob sie mit dieser Aktion erfolgreich sein können.
Den sozialistischen Pol aufbauen
Selbst wenn die HDP verboten wäre, gäbe es Wege, an den nächsten Wahlen teilzunehmen, zum Beispiel unter dem Namen einer bestehenden linken Partei. Parallel dazu gibt es Bemühungen, eine breite linke Front um die HDP als Alternative zu beiden bürgerlichen Blöcken zu bilden, mit dem Slogan „demokratisches Bündnis“. Die marxistische Linke, die noch keine bedeutende Kraft darstellt, könnte diese Gelegenheit nutzen und sich an dem Bündnis beteiligten. Sie sollte dort einen sozialistischen Pol bilden. Die kommenden Jahre werden stürmisch. Es gilt, vor und nach dem Fall des Regimes eine eine starke revolutionäre linke Kraft als Alternative zu den bürgerlichen Kräften aufzubauen.
Bild: Mahmut Bozarsan, Public domain, via Wikimedia Commons