Provokationen durch Polizei und Rechtsextreme haben zu einer gefährlichen Eskalation mit vielen Toten und Verletzten geführt, gleichzeitig gibt Netanjahu grünes Licht für weitere Polizeigewalt.
Ein Interview mit Yasha Marmer (Socialist Struggle, ISA in Israel und Palästina), erschienen am 12. Mai 2021 auf der Website der ISA.
ISA: Wie würdest du die aktuelle Situation beschreiben?
YM: Das Ganze begann ursprünglich, als Palästinenser*innen versuchten, sich gegen Siedler*innen zu wehren, die versuchten, sie aus ihren Häusern im Stadtteil Sheikh Jarrah zu vertreiben, eskalierte aber, als die israelischen Streitkräfte versuchten, Palästinenser*innen daran zu hindern, sich während des Ramadan zu versammeln. Die Proteste haben viele fortschrittliche Elemente, sie begannen als eine populäre Bewegung von Jugendlichen gegen die Unterdrückung und haben einige Elemente mit früheren Protesten gemeinsam.
Sie haben sich zu einem breiten Aufstand entwickelt zu einem Zeitpunkt, an dem es eine ernsthafte Regierungskrise gibt, die Corona-Krise (obwohl Israel eine hohe Impfrate angibt, wurden die palästinensischen Massen weitgehend ignoriert) und eine ernsthafte Besorgnis im gesamten Nahen Osten, da die Regierungen, die ihre Beziehungen zu Israel „normalisiert“ haben, mit den Auswirkungen im eigenen Land konfrontiert sind. Es ist auffällig, dass die Regierungen von Marokko und Sudan, die sich Ende letzten Jahres angeschlossen haben, bisher geschwiegen haben. Am Freitag gab es eine Massendemonstration in der jordanischen Hauptstadt Amman und an anderen Orten in Solidarität mit den palästinensischen Demonstrant*innen.
Zugleich sollten wir die reaktionären Aspekte der Situation nicht ignorieren. Die Situation hat sich qualitativ verändert, als die Hamas begann, Raketen auf Israel zu feuern.
Die Zahl der Toten in Gaza steigt rapide an. Es sind bereits 48, darunter 14 Kinder. Es gibt Hunderte von Verwundeten. Augenzeugen in Gaza berichten, dass israelische Kampfflugzeuge Wohnhäuser angegriffen haben, und es wurde jetzt berichtet, dass ein Hochhaus brennend eingestürzt ist. Als die Angriffe der israelischen Armee weitergingen, antwortete die Hamas gestern mit dem Abschuss von Hunderten von Raketen auf den Süden Israels, wobei zwei israelische Frauen getötet wurden. Das bedeutet, dass wir jetzt in eine länger andauernde militärische Eskalation eintreten, die nicht innerhalb der nächsten zwei oder drei Tage enden wird. Die israelische Armee hat die Mobilisierung von weiteren 5000 Soldat*innen angekündigt. Diese wären nicht für eine sofortige Bodeninvasion, sondern für verschiedene Unterstützungsaufgaben. Das ist ein sehr beunruhigendes Zeichen.
Aber was wichtig zu verstehen ist, ist, dass sich das Gleichgewicht zwischen den progressiven und reaktionären Elementen ständig verändert.
ISA: Wie konnte die Situation so eskalieren?
Es ist der Monat Ramadan. Die Polizei wollte offensichtlich nicht, dass sich die Jugendlichen vor dem Damaskustor in der Altstadt versammeln, welches normalerweise ein Ort für nächtliche Feiern ist, wenn Muslime ihr tägliches Fasten brechen. Die Jugendlichen stellten sich der Polizei mit Demonstrationen entgegen, und es kam sogar zu Zusammenstößen, bis die Entscheidung außer Kraft gesetzt wurde. Dies war ein Sieg mit einigen Parallelen zu dem, was 2017 geschah. Aber es hat nicht gereicht, um die Situation zu beruhigen.
In Ostjerusalem selbst hatten wir in den letzten Tagen und über Nacht Hunderte von Verletzten, es gab Demonstrationen und weitere Zusammenstöße, nicht nur in der Stadt selbst, sondern an verschiedenen Kontrollpunkten sowie in Ramallah in den besetzten Gebieten. Auch innerhalb Israels kam es zu Demonstrationen, hauptsächlich von Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft. Im Laufe des Tages haben die Demonstrationen an Größe zugenommen, was positiv ist, denn das israelische Regime fürchtet sie eindeutig. Aber parallel dazu gab es auch Angriffe auf Polizeifahrzeuge in Israel und, wie vielleicht berichtet wurde, auf religiöse Gebäude. Tatsächlich stand die religiöse Einrichtung in Verbindung mit den rechtsextremen Siedlern. Das war zwar nicht einfach wahllose nationalistische Gewalt gegen Israelis, aber könnte sich in wenigen Tagen dazu entwickeln.
Andererseits entwickelt sich ein Streik der palästinensischen Student*innen. Auch das ist ein neues Merkmal in der Situation.
Es ist wichtig zu verstehen, wie das alles zustande kam. In Ostjerusalem hatte es während des Ramadan Demonstrationen auf den Straßen und in den Moscheen während der Gebete von Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft gegeben. Viele kamen aus anderen Gegenden nach Jerusalem – die meisten nicht mehr als zwei Autostunden entfernt. Ein nützliches Video von Middle East Eye über den Angriff auf die Al-Aqsa-Moschee kann hier gesehen werden.
Bis jetzt war die Teilnahme aus politischen Gründen begrenzt. In Jerusalem leben nicht nur Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft, sondern auch arabische Palästinenser*innen, die sich eher als Araber*innen oder Beduinen sehen, und das hat den Kampf gespalten. Aber mit der neuen Generation, die in den Kampf eingreift, wird diese Trennung überwunden. Es ist ein allmählicher, aber sehr wichtiger Prozess.
Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Trump die Bühne verlässt. Von Biden wird Netanjahu offensichtlich nicht die gleiche Art von Rückendeckung für alle seine provokativen Schritte erhalten. Wir reden hier nicht nur über Angriffe auf Palästinenser*innen, wie sie 2017 stattfanden oder den Normalisierungsprozess, da ist auch die Entscheidung von 2018, Jerusalem zur ausschließlich israelischen Hauptstadt zu machen, die Ausweitung der Siedlungen oder das brutale Vorgehen gegen die Demonstrant*innen im Sommer 2018 an der Grenze zu Gaza. Trumps Unterstützung für solche Aktionen ist nicht mehr da.
Außerdem ist die Netanjahu-Regierung nach der Wahl so schwach wie seit über zehn Jahren nicht mehr, während die palästinensische Autonomiebehörde nach der Verschiebung der Wahl geschwächt ist. Das ist wichtig, denn es gibt große Wut auf die palästinensische Autonomiebehörde, die behauptete, dies sei notwendig, weil die israelischen Behörden keine Wahlen in Ost-Jerusalem zulassen würden. Viele Palästinenser*innen entgegnen, dass die Behörde nichts getan habe, um zum Beispiel die Wahl so zu organisieren wie das Unabhängigkeitsreferendum, das es in Katalonien gab. Sie könnten, so argumentieren die Jugendlichen, Wahlurnen in Schulen oder, in Jerusalem, in religiösen Gebäuden aufstellen, um die Abstimmung zu schützen. Aber die palästinensischen Behörden haben nichts dergleichen getan.
Es gibt offensichtlich Wut, aber auch eine Stärkung der Jugend, die die palästinensische Autonomiebehörde nur als einen weiteren Kontrollmechanismus der Besatzung sieht. In Jerusalem ist das weniger der Fall, da sie nicht präsent sein dürfen, aber im Westjordanland, besonders in den Gebieten, in denen die israelische Armee die Städte umstellt, ist es innerhalb dieser Städte die palästinensische Polizei, die hart durchgreift. Aber durch die Verschiebung der Wahl hat die PA viel an Autorität eingebüßt. Auch das ist ein wichtiges Merkmal, das sich parallel zu den anderen Prozessen entwickelt.
ISA: Wie ist das Bewusstsein der aktuell Beteiligten?
YM: Das ist die Vorgeschichte dazu, wie die Bewegung ihren ersten Sieg errungen hat, als die Einschränkungen, die vor zwei Wochen für die Versammlung der Jugendlichen am Tor eingeführt wurden, aufgehoben wurden. Der Widerstand verlagerte sich dann in das Viertel Sheikh Jarrah, das zum neuen Zentrum des Widerstandes wurde. Die Siedler dort sind mit staatlicher Unterstützung sehr gut organisiert, wenn es darum geht, palästinensische Familien aus ihren Häusern zu vertreiben. Der Kampf findet dort schon seit vielen Jahren statt, obwohl die Demonstrationen bis vor kurzem sehr klein waren – jeweils mit 20-50 Leuten, die Hälfte davon linke jüdische Aktivist*innen, die aus Solidarität gekommen sind. Aber jetzt, in der letzten Woche oder so, hat sich das Bild völlig verändert mit der militanten Jugend aus Ost-Jerusalem, aber auch mit Jugendlichen aus anderen Gegenden, die dazukommen.
Ich habe mir viel Mühe gegeben, die Bewegung, die sich entwickelt hat, zu beschreiben.
Offensichtlich sind wir jetzt in den letzten 24 Stunden mit einer militärischen Eskalation konfrontiert. Aber die Dinge entwickeln sich parallel weiter. Aufgrund des Bewusstseins der Jugend in Ostjerusalem wurden die Raketen, die von der Hamas abgefeuert wurden, zunächst nicht so sehr als Schaden, sondern als Ermutigung für die Bewegung gesehen. Natürlich sind die Folgen des Handelns der Hamas nicht hilfreich. Sie stacheln die israelische Reaktion an und schaffen einen Vorwand für verstärkte Militäraktionen. Aber sie werden die Demonstrationen nicht in nächster Zeit beenden.
ISA: Was ist die Antwort von Sozialist*innen in einer so komplizierten Situation?
YM: Die israelische Gesellschaft wird jetzt anders sein. Wenn ich das sage, kehre ich zu dem Punkt zurück, an dem ich angefangen habe, indem ich die reaktionären und die progressiven Züge der Situation gegeneinander abwäge. Das bedeutet, dass es verschiedene Zielgruppen gibt, die angesprochen werden müssen. Zum Beispiel wollen linke Israelis, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, wissen, wie man die Eskalation stoppen kann. Das ist ein Ansatzpunkt für Diskussionen.
Palästinenser*innen fragen nicht so sehr, wie man die militärische Eskalation stoppen kann, sondern wie man den Kampf eskalieren kann, wie wir weitere Siege erreichen, wie wir von dem, was wir bisher erreicht haben, weiter vorankommen. Ein Aufruf zu einem abstrakten Frieden oder gar zu einem vereinten Kampf zwischen Israelis und Palästinenser*innen wird in dieser Situation nicht funktionieren. Das heißt natürlich nicht, dass wir nicht die Notwendigkeit erklären sollten, dass jede Seite an die andere appelliert, dass die Arbeiter*innenorganisationen und sozialen Bewegungen in Israel Solidarität mit dem sich vor Ort entwickelnden palästinensischen Kampf aufbauen sollten.
Aber die Hauptsorge der palästinensischen Jugend ist nicht, wie man in dieser Phase an die Israelis appellieren kann, sondern sie wollen am Ende des Tages den Kampf gegen die Reaktion verstärken. Das bedeutet natürlich, dass unser Appell an die einfachen Arbeiter*innen und Jugendlichen in Israel in dieser Situation dazu führt, dass wir gegen den Strom schwimmen.
Obwohl wir einige der nationalistischen Slogans, die manchmal von der palästinensischen Jugend verwendet werden, nicht unterstützen, müssen wir verstehen, woher sie kommen. Sie werden oft von der extremen Rechten und von der Polizei aufgegriffen, um die Demos anzugreifen, und wir stehen in Solidarität mit der Jugend gegen die rechtsextremen Angriffe. Das erfordert geschickte und sensible Slogans.
Wir sind dabei, die Situation zu analysieren. Unsere Artikel können auf unserer Website nachgelesen werden. Wir haben auch ein Sieben-Punkte-Programm entwickelt, sowohl auf Arabisch als auch auf Hebräisch. Über Nacht wurde ein Video produziert, das unseren Ansatz erklärt.
ISA: Danke, Yasha. Wir wünschen dir und deinen Genoss*innen eine sichere und erfolgreiche Intervention und rufen alle ISA-Befürworter*innen weltweit dazu auf, euren Kampf zu unterstützen.
Forderungen von Socialist Struggle
- Stoppt den Krieg! Schluss mit dem Raketenbeschuss und den militärischen Angriffen auf Gaza und der Belagerung. Schluss mit der polizeilichen und militärischen Repression gegen Proteste. Keine weiteren willkürlichen Verhaftungen! Mobilisiert zu Demonstrationen gegen die militärischen Angriffe und die Besatzung.
- Wir stehen an der Seite der Bewohner*innen von Sheikh Jarrah, im Kampf gegen die barbarische Übernahme ihrer Häuser durch messianistische Siedler*innen und die rechte Regierung, die versucht, die unter der Besatzung des israelischen Kapitalismus lebenden Palästinenser*innen aus Ost-Jerusalem zu vertreiben.
- Kein weiteres Eindringens des israelischen Militärs in die Al-Aqsa-Moschee – Schluss mit nationalistischen Provokationen und Angriffen auf Betende, mit denen ein Religionskrieg gefördert wird. Ein Ende der Kriminalisierung palästinensischen Wohnungsbaus in Ost-Jerusalem, stoppt den Abriss von Häusern, beendet die Besatzung und die Siedlungen.
- Es gibt keinen Frieden ohne einen Kampf gegen die Besatzung, gegen Armut und Ungleichheit, gegen korrupte Eliten und für die Gesundheit, den Lebensunterhalt und das Wohlergehen aller. Ja zu Demonstrationen von Palästinenser*innen und Israelis, nein zu Angriffen auf Zivilist*innen.
- Nur Frieden und Gleichheit werden Sicherheit für Alle bringen – Schluss mit allen Angriffen und Kollektivstrafen gegen zwei Millionen Bewohner*innen des Gazastreifens. Solidarität mit den Menschen aus beiden nationalen Gemeinschaften, die wahllosem Raketenbeschuss ausgesetzt sind.
- Für ein Ende der Besatzung, keine weitere Leugnung des Rechts auf Selbstbestimmung und der nationalen Unterdrückung der Palästinenser*innen zu beenden. Für ein unabhängiges, sozialistisches Palästina, mit einer Hauptstadt Ost-Jerusalem, für einen sozialistischen Wandel in Israel und der gesamten Region.
Foto: Mitglieder von Socialist Struggle bei einer Antikriegskungebung am 11.5.21 in Tel Aviv