Skurrile Minderheiten – vereinigt euch!

Die sogenannte Identitätspolitik wird immer mehr zur Gretchenfrage innerhalb der politischen Linken. Manche halten den Kampf unterdrückter Gruppen für eine kleinbürgerliche Randerscheinung und betonen die zentrale Rolle von sozialen Fragen, die andere Seite ruft dazu auf Privilegien zu hinterfragen und sehen gar Formen von Unterdrückung, die unabhängig vom Kapitalismus existieren könnten.

Der IDAHOBIT, der „International Day Against Homophobia, Biphobia, Interphobia and Transphobia“ am 17. Mai ist ein guter Anlass, beide Positionen genauer unter die Lupe zu nehmen. 

von Christoph Emmerich, Siegburg

Living in a material world

Marx und Engels haben erkannt, dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Seit es Klassengesellschaften gibt, steht an der Spitze jeder Gesellschaft eine Minderheit, die herrschende Klasse, die darum kämpft, ihre Position, die es ihr ermöglicht, die Mehrheit der Menschen auszubeuten, mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten. Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung erzeugt Widersprüche und führt zu Widerstand in der unterdrückten Klasse. 

Diese Klassenkämpfe laufen allerdings nicht gradlinig nach Schema F ab, sondern unterliegen eigenen Dynamiken, abhängig von den gegebenen Umständen. Als Beispiel sei hier das Erhitzen von Wasser genannt. In dem man dem System von Molekülen Energie in Form von Wärme zugibt, beginnen die Moleküle sich zu bewegen und gehen neue Bindungen untereinander ein. Die modellhafte Vorstellung aus der Schulphysik ist dabei stark vereinfachend. So sind manche Moleküle nicht dem gleichen Quantum an Wärmeenergie ausgesetzt und deshalb die Bindungen schwächer. Der dabei äußerlich sichtbare Prozess des kochenden Wasser und des Verdampfens ist dabei nichts anderes als das was Marx und Engels als das Umschlagen von Quantität (hier die Menge an Energie) in eine neue Qualität (Wechsel des Aggregatzustandes von flüssig zu gasförmig) bezeichnen.

Übertragen auf die politische und systemische Ebene der Klassengesellschaft bedeutet dies, dass wir es mit einem Gesamtsystem von ineinander verschachtelten Prozessen zu tun haben, die wiederum neue Widersprüche erzeugen. Zwar ist es möglich, die Menschen aufgrund ihrer ökonomischen Stellung im Produktionsprozess den verschiedenen Klassen zuzuordnen. Ob sie sich aber als Klasse an sich oder für sich verstehen, ist von einem Potpourri aus weiteren Prozessen abhängig. Individuelle und kollektive Erfahrungen im Produktionsprozess, Organisierung in Parteien und Gewerkschaften und die Beteiligung an Arbeits- und Verteilungskämpfen spielen dabei eine wichtige Rolle. Aber auch Erfahrungen mit z.B. rassistischer und geschlechtsspezifischer Benachteiligung, nationaler Unterdrückung und Kolonialismus, sowie überlieferte traditionelle und religiöse Vorstellungen und Vorurteile haben Einfluss auf das Bewusstsein. 

Eine Klassenherrschaft, also die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit, kann nie ausschließlich auf die Stellung im Produktionsprozess gestützt werden. Sie ist darauf angewiesen, die ausgebeutete Mehrheit in Uneinigkeit zu halten und so daran zu hindern, die gemeinsamen Klasseninteressen durchzusetzen.  Dazu macht sie sich alte und neue Unterdrückungsverhältnisse zunutze. Das meinte Malcolm X, als er sagte: „Es gibt keinen Kapitalismus ohne Rassismus“. 

Politisierungsprozesse

Es verwundert daher kaum, dass Politisierungsprozesse keineswegs immer durch ökonomische Fragen ausgelöst werden und geradeaus verlaufen, sondern von Widersprüchen durchzogen sind. Dies ist natürlich auch vor dem Hintergrund der neoliberalen Form des Kapitalismus zu verstehen, der auf der Ebene der Produktionsverhältnisse zu einer Vereinzelung des Individuums geführt hat, die nicht nur zu der ökonomischen Entfremdung vom erwirtschafteten Produkt sondern auch zu einer gesellschaftlichen Entfremdung des*der einzelnen Arbeiter*in geführt hat, die den Blick auf gemeinsame Interessen verstellt. In diesem Geflecht aus Widersprüchen ist es offensichtlich, dass die einsilbige Reduzierung auf „Brot- und Butterfragen“ mitnichten den gesellschaftlichen Impact nach sich zieht, für den Revolutionär*innen kämpfen.

Dabei wirken Kämpfe vergangener Tage immer noch in unsere heutige Zeit nach. Ein Beispiel ist der Umgang mit Homosexualität. Sie ist in Deutschland bei Vielen gesellschaftlich akzeptiert, dennoch dauerte es bis zum Jahr 2017, bis die Ehe für Alle auch gesetzlich fixiert wurde.

Der Grund hierfür liegt darin, dass in der Klassengesellschaft nicht nur die Produktion, sondern auch die Reproduktion ökonomisiert wird. Mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft wurde die Ehe zwischen Mann und Frau zu einem privaten Vertrag zwischen zwei Personen, mit dem die Vererbung von Privatbesitz und die Reproduktion der Arbeitskraft des Mannes durch die private Hausarbeit der Frau geregelt wurde.

Die homosexuelle Beziehung konnte diese Funktion nicht erfüllen. Sie war nicht geeignet, um die Reproduktion zu sichern und hatte auch keine Möglichkeit Erb*innen hervorzubringen. Diese ökonomische Grundlage stellte natürlich ein Einfallstor für die Bourgeoisie dar, um einen Spaltpilz in die Arbeiter*innenbewegung hineinzutragen. Die Begleitmusik hierfür stellte die Kirche bereit, die von ihren Kanzeln einen regelrechten Kreuzzug gegen homosexuelle Beziehungen startete. Für die Institution Kirche hatte dieser Move auch den Vorteil, dass sie ihren realen Herrschaftsverlust infolge der bürgerlichen Revolutionen nun durch einen moralischen ersetzen konnte und sich damit im Bewusstsein der Menschen weiter verankern konnte. Diese moralische Unterstützung war natürlich im Überbau des Bewusstseins auch anschlussfähig, um die Herrschaft des heterosexuellen Mannes zu rechtfertigten. Denn nun war in dieser inneren Logik auch folgerichtig, dass die als die männlich wahrgenommenen Attribute wie Härte oder Aggressivität mit der Herrschaft über die Frau* einhergehen, um nicht als „homosexuell“ zu gelten. Gleichzeitig band auch die „gottgegebene“ Ordnung Frauen an die heterosexuelle Ehegemeinschaft. Beide Tendenzen haben auch heute noch Nachwirkungen, die ein Outing erschweren.

Gefühle richten sich nicht nach bürgerlichem Recht 

Dass die sexuellen Präferenzen fließend sind, ist keine neue Erkenntnis. Schon der Sexualforscher Alfred C. Kinsey legte in seinen Kinsey-Reports 1948 und 1953 dar, dass es Übergänge zwischen verschiedenen Formen der Sexualität gibt. Diese legte er in seiner Kinsey-Skala dar, wonach es zwischen den Extrempunkten der ausschließlichen Homo- bzw. Heterosexualität auch gestufte Übergänge gibt. Legt man jetzt noch eine mathematische Häufigkeitsverteilung über diese Skala, so ergibt sich ein klares Bild: Mindestens 50% der Bevölkerung sind entweder homo- und/oder bisexuell. Damit ist klar: die Minderheit existiert nur in sozialpolitischen Zwängen, nicht aber in der Realität.

Von der unterdrückten Mehrheit zum gemeinsamen Kampf

In Teilen der politischen Linken gibt es die irrige Vorstellung, es sei möglich die Besitzer*innen von Konzernen sowie staatliche Institutionen mit der Kraft des Argumentes davon zu überzeugen, dass wir doch „alle nur Menschen“ seien, die sich „einfach lieben“ könnten. Sie freuen sich auch, wenn an katholischen Kirchen die Regenbogenfahnen wehen und katholische Priester nun auch neben Tieren, Waffen und Flugzeugen homosexuelle Paare segnen. So wertschätzend für den einzelnen Menschen dieser Akt auch sein mag, ändert es nichts daran, dass der Kapitalismus immer wieder darauf setzen wird, Männer und Frauen*, Schwule und Heteros, Migrant*innen und Einheimische und Cis- gegen Transpersonen auszuspielen, wenn seine Macht bedroht ist. Es ändert nichts daran, dass die Konzerne am Gender-Pay-Gap verdienen. Und denen, die am anderen Ende der Welt für wenige Dollar unter sklavenähnlichen Bedingungen Kleidung produzieren, kann unabhängig davon, ob sie LGBTQ+ oder cis- und hetero sind, ohnehin egal sein, ob im Schaufenster einer Klamottenfiliale in Europa eine Regenbogenfahne hängt. 

Die Frage, ob „Butter- und Brotfragen“ wichtiger sind als der Kampf gegen die Unterdrückung „skurriler Minderheiten“, stellte sich so nicht. Wir können die kapitalistischen Verhältnisse nur überwinden, wenn die Arbeiter*innenklasse sich einig ist und nicht spalten lässt. 

Deshalb ist entscheidend, dass wir gemeinsam gegen alle Formen der Unterdrückung kämpfen, die uns vielfältig entgegenschlägt. Dabei sollten wir uns von dem einfachen Gedanken leiten lassen, dass ein*e heterosexuelle*r Arbeiter*in in der Logistikbranche mehr mit einem*r homosexuelle*n Kellner*in in der Gastronomie gemeinsam hat, als mit einem*r homosexuelle*n Kapitalist*in. Kurzum: Wenn wir eine Klasse für sich werden wollen, müssen wir als Revolutionär*innen den Kampf der LGBTIQ*-Community mit einem sozialistischen Programm verbinden.

In diesem Sinne: Skurrile Minderheiten, vereinigt euch!

Foto: Socialist Party (Irland)