Als wir am 20. Juli nach einem langen Demonstrationstag von den Aktionen rund um das Tagungszentrum des G8-Gipfels im Palazzo Ducale zu unserem Camp zurück kehrten, hörten wir die schreckliche Nachricht: Auf der Piazza Alimonda hatte die Polizei einen Demonstranten erschossen. Carlo Giuliani, 23 Jahre.
Von Claus Ludwig, Köln
Ein Polizist hatte ihn aus einem Jeep in den Kopf geschossen als Carlo einen Feuerlöscher in Richtung des Polizeifahrzeuges werfen wollte. Sie hatten keinen Warnschuss abgefeuert.
Carlos Tod war kein Zufall. Die rechte Regierung Berlusconi hatte eine Explosion der Gewalt vorbereitet. Über Stunden war der Demonstrationszug der 10.000 in weiße Maleranzüge gekleideten „Tutti Bianchi“ attackiert worden, mit Tränengas und Schlagstöcken. In der ganzen Stadt prügelten Kommandos der Polizei auf Demonstrierende ein. Vermummte Provokateure der Polizei und faschistischer Gruppen zerstörten Autos und Schaufenster, zettelten Schlägereien mit Demonstrierenden an.
300.000 gegen G8
Aus ganz Europa waren Busse in die norditalienische Hafenstadt gekommen. In Italien verband sich die Kritik an den G8 mit dem Widerstand gegen Berlusconi. 300.000 Menschen demonstrierten in dieser größten Mobilisierung der Antiglobalisierungsbewegung. Zehntausende riefen „Genova libera“ (freies Genua), von den Balkonen wehten rote Fahnen. Berlusconi hatte die Bevölkerung aufgerufen, keine Wäsche auf Leinen über die Straße zu hängen, um ordentlich zu wirken. Nie wieder habe ich so viel Wäsche gesehen.
Die großartige Welle der Solidarität sollte mit maximaler Gewalt durch Einheiten der Carabinieri und der berüchtigten Garda di Finanza gebrochen werden. Die Repression lief schon bei der Anreise, deutsche und schweizerische Polizist*innen halfen. Der von Attac organisierte Buskonvoi brauchte 26 Stunden von Nordrhein-Westfalen bis an die ligurische Küste. Die Busse wurden auf Autobahnraststätten und Grenzen aufgehalten, durchsucht, schikaniert. Einzelnen Teilnehmer*innen wurde mit fadenscheinigen Gründen die Fahrt nach Italien verboten. Das Einreiseverbot betraf 850 Menschen europaweit. Ein weibliches Mitglied der SAV wurde aus dem Bus geholt und stand mitten in der Nacht alleine an der Grenze, nachdem sie von Polizist*innen verhört und sexistisch beleidigt worden war. Die deutschen Behörden hatten ihren Namen an die italienische Polizei übermittelt. Sie stand noch nie vor Gericht, es reichte, dass sie eine Aktivistin war.
Nacht der Gewalt
Am Tag nach dem Mord an Carlo fand die zentrale Demonstration statt. Von Beginn an wurden wir mit Tränengas beschossen, die ganze Innenstadt war in Gaswolken gehüllt. Die Demo wurde von der Polizei zersplittert. Wir liefen 25 Kilometer, meist, um der gröbsten Polizeigewalt zu entkommen.
Am Samstag Abend stiegen wir in die Busse nach Deutschland und erfuhren nach einer kurzen Nacht, dass die Gewaltexzesse fortgesetzt wurden. Die Polizei hatte die Diaz-Schule überfallen, in der Demonstrierende schliefen, in der direkten Nähe der Zelte, in denen wir die Nacht zuvor verbracht hatten. Die Genoss*innen, die dort geblieben waren, hörten die Hubschrauber über sich knattern. 73 der im Schlaf Überfallenen wurden verletzt, viele davon schwer. Einige wurden in die Bolzaneto-Kaserne der Staatspolizei gebracht. Dort gab es Folterungen, wie später selbst der Polizeichef bestätigte. Festgenommenen wurde der Kontakt zu Anwälten verwehrt. In der gleichen Nacht wurde das Medienzentrum des Genoa Social Forums angegriffen, welches die Proteste organisiert hatte.
Der Vizeminister Fini von der postfaschistischen Alleanza Nazionale sagte, die Demonstrierenden hätten „bekommen, was sie verdienen“. Amnesty International sprach von der „größten Außerkraftsetzung von demokratischen Rechten in einem westlichen Land nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs“. Später wurden Dutzende Polizisten zu Haftstrafen von bis zu fünf Jahren verurteilt, unter anderem wegen des Angriffs auf die Diaz-Schule. 500 Menschen wurden insgesamt festgenommen, 350 verletzt, es gab Hirnblutungen und Kieferbrüche.
Die Tage von Genua waren für die Demonstrierenden Stress, viele hatten Angst, wurden verletzt. Doch das überwiegende Gefühl war die ungeheure Solidarität angesichts der Brutalität sowie das Gefühl, international gegen den Kapitalismus zu kämpfen.
Carlo Giuliani – unvergessen.