Vor einigen Jahren war Sebastian Kurz der Rockstar der europäischen Konservativen. Doch wie bei Frankreichs Präsidenten Macron und Kanadas Premierminister Trudeau war bald klar: Wir haben es mit einem „normalen“ Politiker zu tun.
Von Sonja Grusch, Wien
Nach der Koalition mit der rechtslastigen FPÖ.,die über den „Ibiza-Skandal“ stolperte, ist die von Kurz geführte ÖVP seit Anfang 2020 in einer Koalition mit den Grünen. Das Regierungsübereinkommen wurde als „das Beste aus beiden Welten“ präsentiert und wurde sehr rasch von der Corona-Realität eingeholt. Für einige Monate schien es, als ob Kurz & Co. die Lage gut im Griff hätten. Aber wie auch in anderen Ländern wurde spätestens mit dem Sommer 2020 klar, dass die Regierungspolitik wirtschaftlichen Notwendigkeiten folgt.
Die Bedürfnisse der Tourismuswirtschaft waren offenkundig wichtiger als jene des Pflegepersonals, jene der Großindustrie standen vor denen von Schüler*innen und Lehrer*innen. Es folgte Welle auf Welle, dem Test-Chaos folgte das Schulchaos und dann das Impfchaos. Begleitet wurde das alles von einer Serie von Aufdeckungen über die Machenschaften der türkisen ÖVP und ihrer Mitglieder. Das österreichische Wort „Freunderlwirtschaft“ klingt da doch etwas beschönigend. Im Untersuchungsausschuss im Parlament geben sich ÖVP-Spitzenfunktionär*innen die Türklinke in die Hand.
Schwache Opposition
Die österreichische Regierung ist in einer Krise, aus der es nicht wirklich einen Ausweg gibt. Die Schwäche der Opposition und die magere Auswahl an anderen Koalitionspartnern hält sie am Leben. Die FPÖ hat sich vom Ibiza-Skandal und Verlust der Futtertröge noch nicht erholt. Zustätzlich zieht ihr Hauptthema, die Migrations- und Flüchtlingsfrage, nicht mehr so.
Einerseits hat Kurz selbst das Thema seit Jahren in einem rechtspopulistischen Schwenk bedient (Stichwort „Schließung der Balkanroute“). Seine Frauenministerin z.B. setzt die steigende Gewalt gegen Frauen und die traurige Rekordzahl an Femiziden in direkten Zusammenhang mit Migration. Und Anfang Juni ging die “„ntegrationsministerin“ Raab mit der „Islamkarte“ noch einen rassistischen Schritt weiter.
Doch der FPÖ macht auch zu schaffen, dass durch Corona und die dadurch ausgelöste Wirtschaftskrise soziale Fragen in den Vordergrund gerückt sind. Das Milieu der Corona-Schwurbler*innen war zwar laut auf der Straße, aber zahlenmäßig überschaubar. Ein wichtiger Teil gerade von Arbeiter*innen, die die FPÖ wegen ihrer Rhetorik als „soziale Heimatpartei“ gewählt haben, wollen lieber mehr als weniger Schutz vor Corona. Wie sich die Machtübernahme durch den neuen Parteichef Kickl, den jahrzehntelangen Einheizer der Partei, auswirken wird, ist noch offen. Sicher ist, dass ein gewalttätiges rechtsextremes Milieu durch die Corona-Schwurbler*innen-Demos an Selbstbewusstsein gewonnen hat.
Weniger laut, aber viel größer
In den letzten Monaten sind diese rechten Demonstrationen kleiner und weniger geworden. Auf der anderen Seite gab es weit größere Proteste zu BLM, dem 8. März und die diesjährigen Prides. Dazu kommen zahlreiche kleinere Proteste bis hin zu Streiks von Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen, aber auch gegen Betriebsschließungen wie bei MAN.
Und der aktuelle Aufschwung, so kurz er auch sein wird, weckt Forderungen nach zumindest einem Stück vom Kuchen. All dass sind keine Massenbewegungen. Doch die Probleme, die während der Pandemie an die Oberfläche getreten sind, sind Symptome einer tiefen Krise des internationalen und österreichischen Kapitalismus. Obwohl es an der Oberfläche noch ruhig ausschaut, gibt es zahlreiche Anzeichen für wachsenden Unmut von unten und das Potential für kämpferische Bewegungen rund um zahlreiche Themen.
Gerade weil die Gewerkschaften sich weitgehend zurückhalten, ist davon auszugehen, dass sich Proteste auch an scheinbar willkürlichen Themen entzünden, die das Fass zum Überlaufen bringen. Österreich ist schon lange keine „Insel der Seligen“ mehr und kann und wird große Proteste und Bewegungen sehen. Bewegungen, in denen sich auch das Bewusstsein weiter entwickeln wird und wo die Aktivist*innen die Grenzen des Möglichen im Rahmen der bürgerlichen Demokratie und der kapitalistischen Logik sehen und die Sozialist*innen der SLP (ISA in Österreich) versuchen, mit Vorschlägen für Programm und Kampfmethoden den Unterschied zu machen.
Foto: Dragan Atic, CC-BY 2.0