Afghanistan: US-Imperialismus gedemütigt

Die Afghan*innen, die verzweifelt versuchen Kabul zu verlassen und aus großer Höhe aus einem Militärflugzeug fallen sind zum neuen Symbol der afghanischen Tragödie geworden. Tausende Andere warten ohne Wasser und Essen umzingelt von Taliban-Posten auf einen Platz in einem ausländischen Transportflugzeug.

Von Dima Yansky, Köln

Die menschliche Tragödie, die in Afghanistan stattfindet, ist gleichzeitig die größte Niederlage des amerikanischen, britischen und deutschen Imperialismus seit dem Vietnamkrieg. Der CDU-Kanzlerkandidat Laschet bezeichnet die Situation in Afghanistan als das „größte Debakel, das die Nato seit ihrer Gründung erleidet“. Die Grünen – die zusammen mit der SPD die Teilnahme der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan im Jahr 2001 leidenschaftlich verteidigt haben – vergießen Krokodilstränen über die afghanischen Unterstützer*innen der NATO-Truppen, die sich in akuter Lebensgefahr befinden.

Diese Panik der bürgerlichen Politiker*innen reflektiert nicht nur die konkrete Niederlage in Afghanistan, sondern auch die globale Machtverschiebung in der Region. Das neue kapitalistische China wird versuchen, Afghanistan in seinem globalen Projekt „Neue Seidenstraße“ einzuschließen, genauso wie es schon zuvor mit Pakistan gemacht wurde.

Der afghanische Staat und die afghanische Armee brachen innerhalb von elf Tagen zusammen. Nur noch rund 10.000 Soldat*innen unter der Führung des Vizepräsidenten Abdullah Salehleisten Widerstand im Pandschschir-Tal im Norden des Landes. Die Reste der Armee haben ohne Widerstand kapituliert, einige Tausende sind mit Panzern, Hubschraubern und Flugzeugen nach Usbekistan und Tadschikistan geflüchtet oder hoffen auf einen Abtransport über den Flughafen von Kabul.

Die 350.000 Mann starke Armee und Polizei, der Staatsapparat und die Parteien sind wie eine Fata Morgana spurlos verschwunden. Der Präsident Ghani floh in der besten Tradition gestürzter Diktatoren in einem Flugzeug voller Geld. Amerikanische Botschaftsanghörige verbrennen geheime Papiere und Dokumente. Das US-Militär, das noch vor kurzem im Zentrum Zentralasiens mit 100.000 Mann und Zehntausenden privaten Söldner Macht auf ganz Asien ausstrahlte, kontrolliert heute nur noch einige wenige Gebiete in Kabul. Was ist passiert und warum passierte es so schnell?

Eine unpopuläre Regierung

Die letzte Regierung war wie alle afghanischen Regierungen der letzten 20 Jahre faktisch eine koloniale Administration. Ghani und Karzai machten genau wie Hunderte Staatsbeamte ihre Karriere in den USA und Europa und waren eng mit der US-amerikanischen herrschenden Klasse verbunden. Die Regierung war auf amerikanische Hilfe angewiesen – allein das Militär wurde mit 83 Milliarden Dollar finanziert. Afghanistan gehörte im Rating von Transparency International zu den korruptesten Ländern weltweit mit dem Platz 165 von 180.

Trotz rosiger Berichte über die Frauenbildung und demokratischen Institutionen können nur 38% aller afghanischen Frauen im Teenageralter lesen und schreiben. Die Tradition von kindlichen Sexsklaven, Bachibaza (= Tanzjungen), blühte unter der Regierungen Karsai und Ghani wieder auf. Es gelang sogar den Taliban, die selbst Kinder missbraucht hatten, Sympathien bei Bäuer*innen zu bekommen, weil sie gegen die sexuelle Versklavung der Jungs auftraten, während die Regierung und die amerikanischen Besatzungstruppen das faktisch tolerierten.

In den letzten 20 Jahren wurde Afghanistan nicht nur zum größten Heroinproduzenten der Welt mit stolzen 90% der Herstellung, sondern auch zum wichtigen Absatzmarkt. Zwischen ein und fünf Millionen Afghanen sollen inzwischen opiatabhängig sein. Armut und Perspektivlosigkeit treiben afghanische Bäuer*innen zum Schlafmohnanbau und die Jugend zum Drogenkonsum. Die archaische afghanische Landwirtschaftsproduktion hat in der Konkurrenz gegen die Lebensmittelexporte aus reicheren Ländern keine Chance. Das Land produziert keine Waren mit hohem Mehrwert und versinkt immer mehr in eine chancenlose wirtschaftliche Stagnation.

Ineffektive Landwirtschaft und ein veraltetes Landbesitzsystem führten dazu, dass Millionen junge Bauern und Bäuerinnen die Dörfer verlassen und sich auf die Suche nach Arbeit in den großen Städten begeben. Millionen Afghan*innen suchten ihr Glück im Ausland, vor allem in Iran. Das halbkoloniale afghanische wirtschaftliche System mit Korruption, Arbeitslosigkeit und amerikanischen Besatzungstruppen war nicht in der Lage, die elementare Bedürfnisse der afghanischen Bevölkerung zu befriedigen.

Die Lage wurde durch die ständigen Militäroperationen der amerikanischen Truppen und ihrer Alliierten, sowie Drohnenangriffe und absolute Unsicherheit der Bevölkerung erschwert, die tagsüber von der Regierung und nachts durch die Taliban regiert wurde.

Das afghanische Volk begegnete der Regierung und den herrschenden Eliten mit Verachtung und Misstrauen. Bei der letzten Präsidentenwahl 2019 haben weniger als zwei Millionen Afghan*innen teilgenommen, 2014 waren es noch acht Millionen. Das potemkinsche Dorf der halbkolonialen Administration war in den letzten Monaten vor der Machtübernahme durch die Taliban nur in wenigen Provinzhauptstädten präsent. Die Taliban kontrollierten vor allem die paschtunischen Regionen. Aber auch der von ethnischen Usbek*innen und Tadschik*innen dominierte Norden des Landes leistete, anders als in den 1990er Jahren, keinen Widerstand gegen die islamistische Miliz. Niemand wollte für eine korrupte Elite und ausländische Besatzertruppen kämpfen.

Besatzungskosten

Im Jahr 2001 eroberten die amerikanischen Truppen Afghanistan zusammen mit der tadschikisch – usbekischen Nordallianz unter dem Vorwand der Verfolgung von EA-Qaida und Osama Bin Laden. Formell ging es um den Kampf gegen den Terror. Der zweitwichtigste genannte Grund war der Kampf für Demokratie und gegen das reaktionäre Taliban-Regime. In der Realität ging es jedoch um die Machtumstrukturierung Zentralasiens und eine Konkurrenz mit den wachsenden Giganten Indien und China, aber auch mit dem Iran und Russland,um das sowjetische Erbe. Zentralasien verfügt über riesige Öl- und Gasvorräte im Kaspischen Meer, zudem besitzt Afghanistan seltene Erden, Uran und andere Ressourcen. US-amerikanische neokonservative Eliten nutzten die einmalige Möglichkeit, mit neuen Armeestützpunkten militärischen Druck auf den Iran, Pakistan, China und Russland auszuüben. The „American Century“ – das amerikanische Jahrhundert war das Projekt des von Fraktionen des US-Kapitals und des Staatsapparates , mit dem Ziel, die Dominanz der US-amerikanischen herrschenden Klasse über die ganze Welt mit militärischen Mitteln zu sichern und jegliche Widerstandsversuche mithilfe der Armee auszuschalten.

Dennoch hat die Geschichte bereits mehrmals gezeigt, dass es für eine überlegene Militärmächt einfach ist, in ein Land einzumarschieren, aber weitaus komplizierter, das Land zu kontrollieren. Der schnelle Sieg verwandelte sich in einem endlosen Guerillakrieg gegen paschtunischen Stammesmilizen in den Berggebieten des Landes. Mehr als 3.500 NATO- und Alliierte Soldaten fielen dem Krieg zum Opfer, davon 2.438 US Soldat*innen. Jedoch bilden diese Zahlen nur ein Teil der Menschenverluste der westlichen Koalition ab. Nach unterschiedlichen Schätzungen verloren in Afghanistan fast 4.000 US-Söldner aus privaten Militärunternehmen ihr Leben. Wie viele internationale Söldner mit ihrem Leben für das Abenteuer bezahlen mussten lässt sich nur erahnen.

Dazu kamen fast 70000 afghanischen Regierungssoldatinnen. Faktisch kontrollierten die westlichen Truppen und die Regierungstruppen nur die größten Provinzstädte. Die mangelhafte Kontrolle über Straßen, Berggebiete und Grenze zu Pakistan machte sogar die halbkoloniale Entwicklung des Landes kaum noch möglich. Die zwei einzig erfolgreichen Wirtschaftszweige Afghanistans waren Heroinproduktion und der illegale Handel mit Lasuritsteinen.

Der zwei Billionen Dollar teure Krieg in Afghanistan erforderte riesige Ressourcen, die sogar für das Pentagon und Washington kaum noch tragbar waren, während es gleichzeitig eine neue Flotte gegen China sowie Militär gegen Russland in Europa aufzubauen galt. Auch die deutsche Regierung versenkte je nach Schätzung zwischen 12 und 40 Milliarden Euro im Sand, die zukünftigen Kosten für die Behandlung der verletzten und traumatisierten Kriegsveteran*innen und afghanischen Flüchtlinge komme noch dazu.

Schon vor zehn Jahren realisierte der damalige Vizepräsident Joe Biden die Ausweglosigkeit der Lage. Er äußerte sich vor dem Afghanistan-Beauftragten Richard Holbrooke in Bezug auf die Notwendigkeit des Truppenabzugs wie folgt: „Scheiß drauf. Wir müssen uns keine Sorgen darüber machen. Wir haben es in Vietnam gemacht und Nixon und Kissinger sind damit durchgekommen“. Kein Wort fiel über Mädchenschulen.

In den 1980er Jahren existierte in Afghanistan bereits ein flächendeckendes Schulsystem für Jungen und Mädchen unter der pro-sowjetischen Regierung von Mohammed Nadschibullah. Direkt nach dem Abzug der sowjetischen Truppen unterstützen die westlichen diplomatischen Missionen die Bemühungen der islamistischen Mudschahedin, Nadschibullah zu stüren. Diese mit amerikanischen und chinesischen Waffen, die von den USA, Großbritannien und Saudi-Arabien finanziert waren. Lehrer*innen wurden mit amerikanischen Kugeln erschossen und Schulen wurde mit amerikanischen Granaten gesprengt. Genau dasselbe passierte in mehreren Ländern der Welt wie in Mosambik oder Nicaragua, wo die von den USA unterstützten Schergen Schulen und Krankenhäuser zerstörten.

Haben sich die Taliban geändert?

Die Taliban bestehen aus reaktionären Stammesmilizen der Paschtunen – der größten ethnischen Gruppe Afghanistans. Sie sind allerdings keineentwurzelten religiösen Fanatiker*innen wie ISIS im Irak und Syrien, sondern sind in der archaischen bäuerlichen Gesellschaft verankert. Die meisten Kämpfer der Taliban sind junge Paschtunen, oft landlose Bauern, die in Flüchtlingsheimen in Pakistan oder armen Bergdörfern in Afghanistan aufwuchsen und manchmal eine islamische Grundschule besuchen konnten. Sie kennen nichts anderes als Krieg und Verfolgung, Ihre ideologische Orientierung ist die lokale Auslegung des Islam. Die Führung dieser Armee liegt in den Händen von Stammesführern, Dorfgeistlichen und lokalen Landbesitzern.

Für urbane Afghan*innen sind die Taliban der Inbegriff der Rückständigkeit und Unterdrückung. Viele Afghan*innen in den Städten sehen die korrupte Teildemokratie wie unter Ghani als kleineres Übel im Vergleich mit der Scharia. Schon in den ersten Tagen nach dem Sieg der Taliban gingen in mehreren Städten Menschen trotz Todesgefahr auf Demonstrationen gegen die Taliban, unter anderem in Jalalabad nahe der Grenze zu Pakistan.

Es gibt Hinweise dafür, dass die Taliban sich im Vergleich zu ihrer Herrschaft 1996 bis 2001 mäßigen könnten. Taliban-Sprecher haben erklärt, man würde die Rechte der Frauen respektieren, natürlich nur im Rahmen einer extremen Auslegung des Korans. Nicht zuletzt China hat ein Interesse an einer stabileren Regierung, mit der man Geschäfte machen kann.

Doch das ist alles andere als sicher. Wenn der Widerstand in den Städten zunimmt, können die Taliban ihre Zurückhaltung aufgeben und zu ihren Methoden des Terrors gegen breitere Bevölkerungsteile zurückkehren. Schon in den ersten Tagen gab es Meldungen über Todeslisten und erste Morde an Oppositionellen.

Dazu kommt, dass auch ein bescheidener wirtschaftlicher Aufschwung alles andere als sicher ist. Für rund 12 Millionen Afghan*innen könnte wegen der Dürren die Lebensmittelversorgung kritisch werden. Die dritte Covid-Welle fegt gerade durch das Land. Es ist unklar, ob die Taliban einig bleiben und wie sich die Warlords verhalten.

Es sind zudem neue oppositionelle Kräfte entstanden. Die Frauen, die in den letzten Jahren zumindest an der Freiheit geschnuppert haben und sich der weltweiten feministischen Welle bewusst sind, werden sich nicht so einfach so lange wie in den späten 1990er Jahren unterdrücken lassen. Auch die junge Generation in den Städten kann sich – nachdem der erste Schock über den Siegeszug der Taliban überwunden ist – aktivieren.

Wichtig für die Befreiung Afghanistans ist die Entwicklung in den Nachbarländern mit einer stärkeren Arbeiter*innenklasse, vor allem im Iran. Auch wenn sich die Reaktionäre jetzt ideologisch bestärkt fühlen, werden sie nicht in der Lage sein, die soziale Entwicklung in der Region zu konservieren. Die Widersprüche zwischen den iranischen Arbeiter*innen und dem Mullah-Kapitalismus, den landlosen afghanischen Bäuer*innen und den Grundbesitzern, zwischen paschtunischen Nationalisten und Tadschiken werden unausweichlich die Entwicklung beschleunigen und die archaischen Herrschaftsstrukturen erschüttern.

Sozialistisches Programm

Als Sozialist*innen unterstützen wir ohne Wenn und Aber das Selbstbestimmungsrecht der Menschen in Afghanistan. NATO-Truppen, pakistanische Geheimdienste, ausländische religiöse Fanatiker und Söldner*innen aller Couleur müssen raus! Solange die Söldnerstiefel auf afghanischem Boden stehen, können Gruppen wie die Taliban und ISIS sich als Verteidiger des Landes darstellen. Alle Ressourcen, Naturschätze und Ländereien des Landes sollen in die öffentliche Hand übergeben werden und allen Afghan*innen dienen.

Auch die imperialistischen Großmächte China und Russland sowie regionale Raubtiere wie Pakistan sollen Afghanistan in Ruhe lassen. Das Land und ihre Schätze gehören ausschließlich den Afghan*innen selbst.

Alle die das Elend von Afghanistan verlassen wollen, brauchen sichere Fluchtkorridore. Dafür haben wir arbeitslose Piloten und Flugzeugpiloten und eine Flugflotte, die durch die COVID-19 Pandemie im Lockdown waren. Aber fast 40 Millionen Afghan*innen werden nicht in alle Flugzeuge der Welt passen. Eine Soforthilfebrücke nach Afghanistan muss sofort organisiert werden – die afghanische Bevölkerung braucht täglich Tausende Tonnen Lebensmittel und Medikamente. Selbstverständlich kann diese Aufgabe nicht privaten profitgierigen Fluggesellschaften überlassen werden – die Luftbrücke muss öffentlich unter der demokratischeren Kontrolle der Beschäftigten geführt werden.

Paschtun*innen, Tadschik*innen, Hazara und die anderen ethnischen Gruppen sollten gemeinsame Strukturen bilden, eine unabhängige Selbstorganisation der Arbeiter*innenklasse, der Frauen, der Bäuer*innen und der Armen aufbauen. Dabei ist die regionale Koordination mit pakistanischen und iranischen Arbeiter*innen unerlässlich. Es gab und gibt auch linke Strömungen in der afghanischen Gesellschaft. Es ist eine Aufgabe der internationalen Linken, die schwachen Sprossen der afghanischen Linken zu unterstützen.

Planwirtschaft und Demokratie statt Feudalismus und Chaoswirtschaft. Für eine globale Bewegung gegen Krieg, Unterdrückung und Kapitalismus.