9/11

Ende und Beginn einer neuen Welt-(un)ordnung

Vor 20 Jahren wurde die Welt erschüttert: Islamistische Terroristen der Organisation Al-Qaida , mehrheitlich saudi-arabischer Herkunft, entführten vier voll besetzte Passagierflugzeuge und steuerten drei davon in die Schaltzentralen des US-Imperiums: Das World Trade Center, Zentrum des internationalen Finanz- und Handelskapitals, und das Pentagon, Sitz des US-Amerikanischen Kriegsministeriums.

Von Sebastian Rave, Bremen

Die Terrorakte vom 11. September waren barbarisch. Es war eine neue, durch und durch rückschrittliche Form des Terrorismus, nicht nur vom religiösen Inhalt, sondern auch der Form nach. 3000 Menschen starben, die meisten einfache Büroangestellte, Arbeiter*innen oder Feuerwehrleute. Die Anschläge waren allerdings nur so barbarisch wie die Verhältnisse, die sie verursachten: Eine Weltordnung, in der jeden Tag tausende Menschen an vermeidbaren Krankheiten, wegen fehlender oder schlechter Wohnungen, Nahrung oder Wasser sterben, ohne dass es je eine Nachricht wert ist. Viele, besonders in den neokolonialen Ländern, freuten sich am 11. September heimlich, dass es mit den USA die vermeintlich uneingeschränkten Herren der „neuen Weltordnung“ so empfindlich getroffen hatte.

Auf den Tag genau elf Jahre vor dem Anschlag sprach George Bush senior von einer „neuen Weltordnung“, „eine neuen Ära – freier von der Bedrohung durch Terror, stärker im Streben nach Gerechtigkeit und sicherer in der Suche nach Frieden“. Der Sieg des Kapitalismus verschärfte die Ausbeutung, und formte so den sozialen Nährboden für den Terror.

Verschwörung?

Viele Verschwörungstheorien ranken sich um den 11. September. Ob die US-Geheimdienste komplett versagt und nichts von den Vorbereitungen mitbekommen haben oder die Terroristen zunächst haben machen lassen, um dann möglicherweise vom Ausmaß ihrer Anschläge überrascht zu werden, wird möglicherweise nie ganz klar werden. Die Wahrheit liegt verborgen unter der offiziellen Version, welche die Stärkung der Geheimdienste und zusätzliche repressive Gesetze legitimieren sollte und unzähligen abstrusen Verschwörungsmythen, die zum Beispiel behaupten es hätte gar keine Flugzeuge gegeben, die Türme wären von innen gesprengt worden – vom CIA, den Illuminaten oder wem auch immer.

Es braucht aber keine Verschwörung für den Terror. Die Herrschenden sind gar nicht so allmächtig wie viele glauben und haben in Wirklichkeit nur wenig Kontrolle über die Konsequenzen ihrer Entscheidungen und der Radikalisierung als Folge ihrer Weltunordnung.

US-Imperialismus nutzt die Chance

Die unmittelbare Folge der Anschläge war die Stärkung des US-Imperialismus. Die sogenannte „zivilisierte Welt“, gegen die laut dem damaligem Bundeskanzler Gerhard Schröder der Anschlag gerichtet war, stellte sich hinter die USA. Der „Krieg gegen den Terror“ wurde ausgerufen. Nach innen wurde durch den „Patriot Act“ Bürgerrechte massiv eingeschränkt. FBI, CIA und NSA bekamen weitreichende Befugnisse. Der UN-Sicherheitsrat sprach den USA das „Recht auf Selbstverteidigung“ zu. Das erste Mal in der Geschichte wurde der NATO-Bündnisfall erklärt, und damit alle NATO-Mitglieder zum gemeinsamen militärischen Vorgehen verpflichtet – zeitlich unbegrenzt.

Die herrschende Klasse der USA nutzte diese Gelegenheit, um das „Vietnam-Syndrom“ zu überwinden. Auf die Invasion Afghanistans 2001 folgte 2003 der Angriff auf den Irak, allerdings nur noch mit einer „Koalition der Willigen“, nachdem viele Schlüsselstaaten ihre Unterstützung für ein weiteres militärisches Abenteuer verweigerten.

Die Pläne für eine Erneuerung und Zementierung der US-Amerikanischen Hegemonie lagen schon vor 9/11 in der Schublade, entwickelt von rechten Thinktanks wie das „Project for a New American Century“. Für die Rechtfertigung der Angriffe auf Afghanistan und Irak wurden teilweise wörtlich deren Thesen übernommen. Die Regierung Bush konstruierte die „Achse des Bösen“ und begründete mit von den Geheimdiensten generierten Lügen die Militäroperationen. Es gab weder eine Zusammenarbeit des Regimes von Saddam Hussein im Irak mit islamistischen Terroristen noch hatte der Irak Massenvernichtungswaffen entwickelt. Heute ist das allen klar, 2003 dienten diese Lügen als die zentrale Begründung für den Angriff.

Vom Sieg zur Niederlage

Die Kriege gegen Afghanistan und Irak wurden militärisch im Handumdrehen gewonnen. Die irakische Armee leistete nur wenige Wochen Widerstand gegen die überlegene Feuerkraft der britischen und der US-Armee, die 300.000 Soldat*innen für die Invasion des Landes mobilisiert hatten.

Doch der Krieg nach dem Krieg wurde zum Desaster für die westlichen Besatzungsmächte – sowohl in Afghanistan als auch im Irak. Ab Mitte der 2000er entwickelte sich in beiden Ländern massiver Widerstand. Im Irak kämpften diverse schiitische und sunnitische Milizen gegen die Besatzung und konnten teilweise ganze Städte wie Falludscha unter ihre Kontrolle bringen.

Die Besatzungsmacht reagierte mit äußerster Gewalt. Das Foltergefängnis von Abu-Ghuraib, die Entführungen ins Gefangenenlager Guantanamo, die nächtlichen Razzien und Inhaftierungen, die Drohnenangriffe auf Hochzeitsgesellschaften in Afghanistan – die USA demonstrierten mit aller Brutalität ihre Hilflosigkeit. Bis zum Ende der formellen Besatzung des Iraks 2011 starben zwischen 115.000 und 600.000 Zivilist*innen, rund 5000 US-Soldat*innen wurden getötet.

Der Irak ist bis heute nahezu unregierbar, zerrissen entlang ethnischer und religiöser Linien. 2014 konnte der sogenannte „Islamische Staat“ das Chaos nutzen und seine Schreckensherrschaft in Teilen des Landes errichten. In den ersten zehn Jahren kosteten die Operationen „Enduring Freedom“ und „Iraqi Freedom“ stolze drei Billionen Dollar – ein Fünftel des jährlichen BIP der USA.

Der US-Imperialismus hatte mit 9/11 eine scheinbar einmalige Chance bekommen, zu alter Stärke zurück zu finden. Nach 20 Jahren ist das Scheitern offensichtlich. Die Flucht aus Afghanistan markiert eine neue Qualität im Niedergang des US-Imperialismus.

War der Terror erfolgreich?

Der spektakuläre Anschlag mit tausenden Toten und die schließliche Demütigung des US-Imperialismus in den Vergeltungskriegen wirft die Frage auf, ob Al-Qaida erfolgreich war. Das islamistische Netzwerk wurde berühmt und berüchtigt, rekrutierte Tausende neue Anhänger*innen, führte weitere Anschläge in Europa durch und baute in den Bürgerkriegen in Syrien, Somalia oder Mali neue Milizen auf. Der rechte politische Islam wurde zu einer festen Größe.

Die Welle des antimuslimischen Rassismus, welche bis heute anhält und das Wachstum von Rechtspopulist*innen und Faschist*innen in den westlichen Ländern begünstigt hat, hat zu einer Entfremdung von in Europa und den USA lebenden Menschen muslimischen Glaubens geführt. Davon profitierten rechte islamistische Gruppen wie Al-Qaida, denen die Entfremdung neue Rekrut*innen zutreibt. Der „Kampf der Kulturen“ entwickelte sich ein Stück weit von einer rechten Phantasie zu einer bitteren Realität.

Falls die Terrorist*innen ein Fanal für einen massenhaften Aufstand gegen die westliche Dominanz setzen wollten, sind sie gescheitert. Muslimische neokoloniale Länder sind heute nicht weniger wirtschaftlich abhängig, die Unterdrückung von Menschen muslimischen Glaubens wurde sogar verschärft. Die politische Spaltung und Polarisierung in den muslimischen Ländern ist stark gewachsen, von einer “Einheit der Gläubigen” kann keine Rede sein.

Armut, Ungleichheit und Unterdrückung führen dazu, dass Menschen sich radikalisieren. Auch der Terror von Al-Qaida ist ein Ausdruck davon. Der spektakulärste Terror wird aber die tatsächlichen Ursachen dieser Probleme nie beseitigen können – genauso wenig wie der “Krieg gegen den Terror” diesen besiegen kann. Ohne die Umwälzung der ökonomischen Grundlagen der Ungleichheit, ohne die Überwindung des Kapitalismus durch eine revolutionäre Massenbewegung, wird die Spirale aus Unterdrückung und Gewalt nicht durchbrochen werden können.

Titelkollage aus Bildern von: Robert J. Fisch, CC BY SA 2.0 / U.S. Air Force