Nach Angaben des Entwicklungsprogramms der UN könnten anhaltende Dürre, die COVID-19-Pandemie und politische Unruhen die Armutsquote in Afghanistan bis Mitte 2022 auf 97 Prozent ansteigen lassen.
Von Per Olssen (Rättvisepartiet Socialisterna, ISA in Sweden)
In der Nacht zum 30. August verließen die letzten amerikanischen Soldat*innen und andere ausländische Truppen Afghanistan. Auf den Abzug, der das Ende des längsten Krieges, den die USA in Afghanistan geführt haben, bildete, folgte unmittelbar die Übernahme des Flughafens von Kabul durch die Taliban.
Nach 20 Jahren Krieg unter Führung der USA sind die Taliban wieder an der Macht in Afghanistan. Eine ohnehin schon erschreckende Situation droht sich zu einer Katastrophe epischen Ausmaßes zu entwickeln.
„In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde eine noch nie dagewesene Zahl von Zivilist*innen getötet und verletzt, und mindestens 560.000 Menschen wurden vertrieben, darunter fast 120.000, die auf der Flucht vor dem Vormarsch der Taliban nach Kabul flohen. Diese Zahlen stellen die schlimmste Periode in dem seit einigen Jahren tödlichsten Konflikt der Welt dar. Die Zahl der Vertriebenen in Afghanistan war in den letzten sieben Monaten doppelt so hoch wie der monatliche Durchschnitt der letzten fünf Jahre, und es wird erwartet, dass die Zahlen noch steigen werden, da die Buchhaltung der Hilfsorganisationen mit dem Ausmaß der Krise nicht Schritt halten kann. Etwa 80 Prozent der Menschen, die seit Ende Mai vor der Gewalt geflohen sind, waren Frauen und Kinder“.
International Crisis Group : Afghanistan’s Growing Humanitarian Crisis, 2. September 2021
Infolge eines weiteren Dürrejahres sind 40 Prozent der diesjährigen Weizenernte vernichtet worden. Die Hälfte der täglichen Kalorienzufuhr eines durchschnittlichen Menschen in Afghanistan besteht aus Weizen. Dies und die Auswirkungen des Krieges und des drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs haben dazu geführt, dass die Preise jeden Tag steigen. „Save the Children“ in Afghanistan meldet für den vergangenen Monat Preissteigerungen von bis zu 63 % bei Waren wie Mehl, Öl, Bohnen und Gas. Die Preise für Gemüse in Kabul sind in den letzten Wochen um 50 Prozent gestiegen. Die Kraftstoffpreise sind um 75 Prozent gestiegen, Tendenz steigend.
Das UN-Welternährungsprogramm in Afghanistan warnt:
„Die Situation, die sich derzeit abspielt, ist absolut entsetzlich und könnte sich zu einer humanitären Katastrophe auswachsen.“
Bereits jetzt ist jede*r dritte Afghan*in von akuter Nahrungsmittelknappheit betroffen. In der kommenden Woche werden Millionen von Afghan*innen vom Hungertod bedroht sein, da die Lebensmittel und andere lebensrettende Hilfsgüter bald ausgehen werden.
Nach dem Rückzug des US-Imperialismus bereiten sich eine Reihe benachbarter imperialistischer Mächte darauf vor, in Afghanistan Fuß zu fassen und die Herrschaft der Taliban anzuerkennen. Als Geste gegenüber den Imperialist*innen und um den Eindruck zu erwecken, dass das von den Taliban ausgerufene neue Islamische Emirat Afghanistan sich von dem der Jahre 1996-2001 unterscheidet, ist es möglich, dass die neue afghanische Regierung die Form einer „breiteren“ Regierung annimmt, obwohl die ersten Ankündigungen dem zu widersprechen scheinen.
Aber wie auch immer die Minister*innenposten verteilt werden und trotz allen Geredes über eine „Teilung der Macht“ wird Afghanistan von den reaktionären, unterdrückerischen Taliban und ihrer Schreckensherrschaft regiert werden.
Nur der Kampf und die unabhängige Organisation der afghanischen Massen können das Land befreien und den Frieden sichern.
In diesem Jahr waren mehr als eine halbe Million Menschen in Afghanistan gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen, was bedeutet, dass mehr als 3,5 Millionen Menschen, fast ein Zehntel der Bevölkerung, innerhalb des Landes vertrieben wurden.
In einem Abkommen mit fast 100 Ländern, darunter Schweden, haben die Taliban versprochen, dass ausländische und afghanische Bürger*innen mit „ordnungsgemäßen Papieren“ das Land auch nach Ende der Evakuierung Ende August verlassen können.
Doch was ist dieses Versprechen wert, und wie viele haben die „ordnungsgemäßen Papiere“ oder werden es wagen bzw. die Möglichkeit haben, sie zu beschaffen?
Außerdem sind die meisten Fluchtwege geschlossen, die Taliban haben die Kontrolle über die Grenzposten übernommen und lassen Afghan*innen auf der Flucht nicht passieren, wenn sie keine Reisedokumente („korrekte Papiere“) haben, was nur auf wenige zutrifft.
Gleichzeitig schließen die Nachbarländer ihre Grenzen zu Afghanistan. Am 31. August hat Usbekistan seine Grenze zu Afghanistan vollständig geschlossen. Der Iran und Pakistan, in die die meisten der vielen Millionen Afghan*innen, die zuvor aus dem Land fliehen mussten, geflohen sind und die im Laufe der Jahre Hunderttausende von Afghan*innen zwangsweise abgeschoben haben, drohen nun damit, auch die neu angekommenen afghanischen Geflüchteten wieder zurückzuschicken. Nach Angaben des iranischen Innenministers Hossein Ghassemi werden die Abschiebungen beginnen, „sobald es die Situation erlaubt.“
„Pakistan, das bereits schätzungsweise 3 Millionen afghanische Geflüchtete beherbergt [zehnmal mehr als Europa – Anmerkung der Redaktion], hat sich zunächst geweigert, weiteren Geflüchteten die Einreise zu erlauben und arbeitet an der Fertigstellung eines Zauns entlang seiner porösen Grenze zu Afghanistan, obwohl einige Tore inzwischen wieder für Afghan*innen geöffnet wurden. Der Iran, der mehr als 2 Millionen afghanische Geflüchtete beherbergt, hat behelfsmäßige Lager eingerichtet, drängt aber auf eine schnellstmögliche Rückführung. Sogar während des jüngsten Höhepunkts des Krieges haben die beiden Länder eine große Zahl von Afghan*innen in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Allein im Jahr 2020 wurden mehr als eine Million afghanische Migrant*innen zurückgeführt oder abgeschoben, vor allem aus dem Iran und Pakistan, aber auch aus weiter entfernten Ländern, darunter aus dem Westen. Auch die zentralasiatischen Länder haben sich in den letzten Wochen geweigert, afghanische Geflüchtete auch nur vorübergehend aufzunehmen.“
Afghanistan‘s Growing Humanitarian Crisis, 2. September
Während die Lage in Afghanistan immer verzweifelter wird, baut die EU neue Mauern gegen afghanische Geflüchtete auf.
Das Ziel der EU und der schwedischen Regierung ist es, dass die fliehenden Afghan*innen in der Region bleiben sollen. Wie Human Rights Watch kommentiert:
„Die Politiker*innen der Europäischen Union scheinen auf eine ungeheuerliche PR-Kampagne aus zu sein, um den Afghanen (und den europäischen Wähler*innen) zu sagen, dass diejenigen, die aus Afghanistan fliehen, nicht einmal daran denken sollten, in Europa einen sicheren Hafen zu finden“.
Das Treffen der EU-Innenminister*innen am 31. August vermittelte die Botschaft, dass die Afghan*innen in der Region bleiben sollten: „Die Abschlusserklärung des Treffens könnte nicht unverblümter sein: „Anreize zur illegalen Migration sollten vermieden werden.“ Die Wortwahl ist wohlüberlegt, denn es ist von „illegaler Migration“, „unerlaubter Einreise“ und Sicherheitsbedenken die Rede, nicht aber von der legitimen Ausübung des Rechts, Asyl zu beantragen. Zu den wenigen konkreten Maßnahmen, die erwähnt werden, gehören „gezielte Informationskampagnen“, um Geflüchtete von dem Versuch abzuhalten, Europa zu erreichen. In der Erklärung werden die Verpflichtungen zum internationalen Schutz von Menschen, die verfolgt werden und deren Rechte in ähnlicher Weise ernsthaft bedroht sind, nicht anerkannt.
Human Rights Watch erklärt:
„Einzelne EU-Staaten lassen ihrer feindseligen Rhetorik bereits schädliche Taten folgen. Polen hat eine Gruppe von 32 Afghan*innen an der Grenze zu Belarus festgehalten und ihnen die Einreise verweigert, um Asyl zu beantragen. Kroatien drängt die Afghan*innen zurück nach Bosnien. Griechenland hat den Bau einer 40 Kilometer langen Mauer an seiner Grenze zur Türkei abgeschlossen.“
Der Ausbau der Festung Europa könnte dazu führen, dass die Taliban als Grenzschutz für die EU dienen werden, so wie die EU mehrere Milizen in Libyen und die Schnelle Eingreiftruppe von Hemeti finanziert hat, die skrupellose paramilitärische Gruppe, die jetzt den Sudan regiert.
Die Antwort auf diese Eskalation der unmenschlichen Flüchtlingspolitik muss ein Kampf für das Bleiberecht der afghanischen Geflüchteten sein, indem man denjenigen, die es brauchen, ein Bleiberecht gewährt.
Wir fordern:
- Ein dauerhaftes Ende der Abschiebungen nach Afghanistan.
- Bleiberecht für alle, die auf eine Entscheidung warten, deren Anträge abgelehnt wurden, und für Menschen ohne Papiere!
- Nein zu befristeten Aufenthaltsgenehmigungen und Grenzkontrollen – Ja zu dauerhaften Aufenthaltsgenehmigungen (auch für diejenigen, die derzeit eine befristete Genehmigung haben) und Familienzusammenführung.
- Reißt die Mauern der Festung Europa ein – reißt die unmenschliche Flüchtlingspolitik der EU nieder.
- Gemeinsamer Kampf gegen Rassismus, gegen die Verwendung von Geflüchteten als Sündenbock und die Vertiefung der Spaltung der Arbeiter*innenklasse. Arbeitsplätze, Wohnraum und Sozialversicherung für alle – lasst die großen Unternehmen, Banken und Reichen zahlen.
- Unterstützung für den Aufbau einer afghanischen Massenbewegung und einer Verteidigungskraft, die die arbeitenden Massen und Armen in einem Kampf zum Sturz des Taliban-Regimes und zur Befreiung des Landes von jeglicher Unterdrückung, Gewalt und Terror vereinen kann.
- Für ein demokratisches und sozialistisches Afghanistan in einer freiwilligen demokratischen und sozialistischen Föderation zusammen mit den Nachbarländern.
- Globaler Kampf gegen die Ausplünderung und die Kriege des Imperialismus – für eine sozialistische Welt des Friedens und der Freiheit.
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