Die Niederlage der CDU markiert das Ende der “Volksparteien”. Die Parteienlandschaft wird instabiler, Koalitionen aus mehr als zwei Parteien die Normalität. Die SPD siegt, aber dominiert nicht. Die Grünen erzielen ihr bisher bestes Ergebnis, bleiben aber hinter den Erwartungen zurück. Die AfD verliert leicht, stabilisiert aber ihre Hochburgen in Sachsen und Thüringen. Für die LINKE wirft das katastrophale Abschneiden die Frage auf, wie es weitergeht.
Von Claus Ludwig, Köln
Nach Jahren der Erniedrigung hat die SPD mit 25,7% einen Erfolg erzielt – mit dem drittschlechtesten Ergebnis seit 1949. Ausgerechnet Olaf Scholz, verwickelt in die Finanzskandale um Cum-Ex und Wirecard, Befürworter der “Schwarzen Null” und menschgewordene Langeweile, wirkte als Zugpferd im Schneckenrennen um die Kanzlerschaft.
Im Unterschied zu den Grünen setzte die Sozialdemokratie darauf, die Person Scholz mit Inhalten zu verknüpfen. Auf auffälligen und einprägsamen Plakaten verkündete die SPD “12 Euro Mindestlohn”, “Sichere Arbeit und Klimaschutz”, “Kanzler für bezahlbares Wohnen”, “Kanzler für sichere Renten”. Die Dreistigkeit der SPD ist atemberaubend. 19 der letzten 23 Jahre war sie an der Regierung und hat nichts davon umgesetzt, sondern das Gegenteil getan. Sie hat Renten gesenkt, einen der größten Niedriglohnsektoren Europas geschaffen, die Privatisierung von Wohnungen und den Aufstieg der Immobilienkonzerne zugelassen und mit der Einführung des Fallpauschalen-Systems (DRG) 2003 die Unterfinanzierung der Kliniken zementiert. Auf ihren Plakaten stehen Lügen – aber sie hat es immerhin geschafft, diese eindeutig zu formulieren.
Entscheidend war jedoch die CDU. Bei den Wahlen 2017 und 2013 wurde die Entfremdung von der GroKo, die Unzufriedenheit über die wachsende soziale Ungerechtigkeit auf das Konto der SPD gebucht, die relative Stabilität des Landes hingegen auf das der Merkel-CDU. In der Pandemie änderte sich das. Der SPD wurden die staatlichen Hilfsmaßnahmen zugerechnet, bei der Union standen das wiederholte Versagen von Gesundheitsminister Spahn, die Krise der Kliniken, Pflegeheime und Schulen sowie die Korruption im Vordergrund.
Nach einem Wahlsieg wird eine Partei für Menschen interessant, die dort ihre politische Karriere befördern wollen. Daher könnte das langfristige Schrumpfen der SPD kurzfristig unterbrochen werden. Doch eine Wiederbelegung der SPD im Sinne einer mit der Arbeiter*innenbewegung verbundenen Partei steht nicht an.
CDU: Noch nicht vernichtet, aber …
Armin Laschet verkörpert mit seinen Lachern, Aussetzern und Nicht-Antworten die Krise der Union und hat zu Recht bei vielen Empörung und Abscheu hervorgerufen. Doch er ist genauso wenig für die Niederlage verantwortlich wie es Steinbrück oder Schulz, falls jemand sich noch an die erinnert, bei der SPD waren. Die Krise der Union hat tiefere Ursachen. Die Entfremdung von allen etablierten Parteien ist gewachsen, auch und gerade von der CDU.
Während Corona wurde die Union als die machthungrige, korrupte und von den Interessen “der Wirtschaft” bestimmte Kraft wahrgenommen, die sie schon immer war. Konzerne wurden großzügig mit Milliarden Euros überhäuft – und zahlten wie Daimler weiter Dividenden an Aktionär*innen; Menschen in Kultur und Gastronomie mussten um ihre Existenz bangen, Eltern und Kids waren enorm unter Druck. Die Bereicherung korrupter CDU-Abgeordneter durch Geschäfte mit Masken und die völlige Hilflosigkeit während der Fluten an Ahr, Erft und in der Eifel waren das Sahnehäubchen auf der Torte der politischen Verwahrlosung.
Die Union wird zunehmend zu einer Partei der älteren Menschen, der Kleinstädte und Dörfer. Bei den Ü70 erreichte die CDU/CSU 38%, bei den U25 nur 10%, bei den U35 14%. Die gesellschaftliche Stimmung hat sich in wichtigen Fragen nach links entwickelt, bezüglich der Gleichberechtigung von Frauen, der Rechte von LGBTIQ+, auch bei der Frage von Umverteilung, Klima und Steuergerechtigkeit. In der jüngeren Generation sind antirassistische Stimmungen stärker. Gleichzeitig hat sich eine Minderheit nach rechts polarisiert, Wähler*innen sind zur AfD abgewandert.
Die Union ist seit Jahrzehnten die verlässlichste Partei des deutschen Kapitals. Ihre Wahlunterstützung beruhte auf der Darstellung als “Volkspartei”, in der die Interessen von Kapitalist*innen, Kleinbürger*innen, Arbeiter*innen und der bäuerlichen Bevölkerung angeblich miteinander versöhnt werden. Das geriet zunehmend mit der Realität in Widerspruch.
Mit der Klatsche vom 26. September ist die Merkelsche Phase der Friede-Freude-Eierkuchen-Union vorbei. Innere Spannungen und Auseinandersetzungen nehmen zu. Das brutal-neoliberale Lager um Friedrich Merz hat in der Partei mehr Anhänger*innen als bei den Wähler*innen und wird schärfere Maßnahmen im Interessen der Konzerne einfordern. Der Flügel um die rechtspopulistische “Werteunion”, wird eine nationalistische Offensive starten und den Boden für eine Zusammenarbeit mit der AfD bereiten wollen, dies vor allem in den ostdeutschen Bundesländer voran treiben. Taktisch am flexibelsten scheint die CSU um Markus Söder, die in der Lage ist, mit den Grünen über eine Modernisierung des Kapitalismus zu sprechen und gleichzeitig die rechte Karte der Feindschaft gegen Migrant*innen zu spielen.
Die hegemoniale Phase der Union, die Zeiten, in denen diese weit vor anderen Parteien liegt, deutlich über 30 oder sogar über 40% erzielt, sind vorbei. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Zentrifugalkräfte in den nächsten Jahren so stark werden, dass die Partei auseinander bricht und neue bürgerliche Formationen entstehen.
Klassenfrage Wahlenthaltung
Viele Menschen haben bei Gesprächen auf der Straße gesagt, dass die Union endlich mal abgewählt werden muss. Es gab allerdings keine Wechselstimmung in Form einer greifbaren Alternative wie 1998, als SPD und Grüne die Kohl-Ära beendeten. Sämtliche Modelle von Koalitionen werden von mehr Wähler*innen für “eher schlecht” als “eher gut” befunden. Laut einer ZDF-Umfrage eine Woche vor der Wahl unterstützen 37% die “Ampel” (SPD-Grüne-FDP), 34% die GroKo unter SPD-, 30% unter CDU-Führung, 30% “Jamaika” (CDU-Grüne-FDP) und 27% R2G (SPD-Grüne-LINKE).
Die Wahlbeteiligung stieg gegenüber 2017 nur leicht von 76,2 auf 76,6%. 2017 erreichten die “Sonstigen” 5,0%, 2021 8,7% der Stimmen. Durch diese 4 Millionen “Sonstigen” und rund 14 Millionen Nichtwähler*innen sind 29,5% der 62,1 Millionen Wahlberechtigten nicht im Bundestag vertreten, dazu kommen rund 8 Millionen Menschen ohne deutschen Pass im Wahlalter, denen die Teilnahme verwehrt wird. Der Bundestag repräsentiert damit 62% der Bevölkerung über 18 Jahre. Eine Regierungskoalition, zum Beispiel eine “Ampel” aus SPD, Grünen und FDP hätte die Stimmen von 37% der Wahlberechtigten und 32% der Über-18jährigen (inklusive Nichtdeutsche) zur Grundlage.
Sowohl die Ausgrenzung von Nichtdeutschen als auch die Wahlenthaltung sind Klassenfragen. Unter Produktions- und Service-Arbeiter*innen sind die Nichtwähler*innen die stärkste “Partei”. In diesen Bereichen ist auch der Anteil der Ausländer*innen höher.
“Ein erheblicher Teil der an der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion beteiligten Angehörigen der ‘arbeitenden Klassen’ darf sich an der Wahl nicht beteiligen. Zusammen mit der hohen Wahlenthaltung unter dem ‘deutschen Teil’ der arbeitenden Klassen führt dies dazu, dass ein großer Teil der Lebensrealität in den Produktions- und Dienstleistungsberufen im politischen System nur sehr schwer Gehör findet.”, so Horst Kahrs in seiner Wahlanalyse für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Grüne entpolitisiert
Die Grünen schneiden mit 14,8% im Vergleich zu den Erwartungen Anfang 2021 eher schwach ab. Ähnlich wie bei der CDU gibt es eine personalisierte Debatte, “Baerbock kann nicht Kanzlerin”, so der Tenor des von den anderen Parteien und vielen Medien geführten Diskurses, der zu einem Teil auf sexistischen Stereotypen beruhte. Doch nicht die Kandidatin der Grünen ist das Problem, sondern die Aufgabe des grünen Klimaschutzprogramms im vorauseilenden Koalitionsgehorsam und die von ihnen selbst betriebene Entpolitisierung. Die Personalisierung, das war absehbar, würde den anderen Parteien nutzen, in diesem Fall der SPD. Die Stärke der Grünen bei Wahlen basiert auf der Unterstützung ihrer programmatischen Ansätze. Diese haben sie im Wahlkampf in den Hintergrund geschoben.
Schon das Wahlprogramm der Grünen reichte nicht aus für einen wirksamen Klimaschutz. Eine Umgestaltung der Produktion und Eingriffe in die Macht der Konzerne sind darin nicht vorgesehen. Mit dem Anfang August vorgelegten “Klimaschutz-Sofortprogramm für die nächste Bundesregierung” gingen sie noch einen Schritt weiter, es sieht kaum staatliche Eingriffe oder öffentliche Investitionen vor, sondern ist reduziert auf Steuerung von ökologischen Maßnahmen durch Preise und Subventionierung von Unternehmen, eine längst gescheiterte Methode.
Die wenigsten werden die Programme gelesen haben, aber der gesamte Wahlkampf der Grünen war gebremst und bestand aus dem Versuch, gute Laune zu verbreiten. Die pastellige Plakatkampagne in blassgrün, mit lauen, unkonkreten Slogans und ohne jede Auffälligkeit war Ausdruck der bewussten politischen Zurückhaltung und Anpassung dieser Partei. Plakate wie “Am Klimaziel führt kein Weg vorbei. Bereit, weil ihr es seid.” sind eine fast schon satirische Verharmlosung. Am Klimaziel führen offensichtlich sehr viele Wege vorbei, die von RWE, den Autokonzernen, der Union, der SPD…
Die größte Sorge der Menschen ist laut Umfragen das Klima. Als wahlentscheidend wurde jedoch die soziale Frage häufiger genannt. Die Grünen werden als Partei wahrgenommen, die sich nicht für die Prekären, Erwerbslosen und Armen interessiert. Sie haben keine Antworten auf die Sorgen vor höheren Energiepreisen. Da sie gleichzeitig die Dringlichkeit der Klimakrise selber kleingeredet und diese Illusion befördert haben, diese ließe sich über Steuern, Preise und Koalieren mit den Kohle- und Autoparteien lösen, sind sie zwischen den Stühlen gelandet.
Modernität als Tarnung
Die FDP profitiert als bürgerliche Option immer von der Krise der Union, so auch dieses Mal. Gleichzeitig konnte sie sich als gemäßigte Opposition zu den Corona-Maßnahmen darstellen und bei jüngeren Wähler*innen mit ihrer angeblichen Modernität und Affinität zur Digitalisierung punkten, mit denen sie ihr hartes neoliberales Programm der Steuersenkungen für Reiche und Konzerne tarnt. Christian Lindner täuschte in TV-Runden vor, die Klimafrage ernst zu nehmen und behauptete wahrheitswidrig, “der Markt” und die von den privaten Konzernen zu entwickelnden Technologien könnten das Problem lösen. Damit knüpfte er an den Ängsten vieler an, Maßnahmen gegen den Klimawandel könnten sie selbst drastisch betreffen. Dass er diese Erzählung verbreiten konnte, liegt aber vor allem daran, dass die Grünen nicht dagegen hielten, auch für sie richtet “der Markt” es, allerdings mit mehr Regulation.
Die deutlich nach rechts entwickelte AfD verliert bundesweit leicht, festigt allerdings ihre Hochburgen. Während sie vor allem in den Großstädten zum Teil schlecht abschneidet – in Berlin fast halbiert – wird sie in Thüringen und Sachsen stärkste Partei, in Thüringen unter Führung des Faschisten Höcke. Dieses Festsetzen der AfD als angebliche Anti-Establishment-Kraft ist eine Warnung für die Linke und die Arbeiter*innenbewegung, es wird rassistische Spaltung und rechte Gewalt befördern.
Eine Reihe von “Sonstigen” erzielt substanzielle Ergebnisse um 1%. Die “Freien Wähler” holen 2,4%, bleiben aber auf Schwerpunkte im ländlichen Raum beschränkt, vor allem in Bayern. Tierschutzpartei und Die Partei holen 1,5 bzw 1%, überwiegend von jungen Leuten. Die liberalen und “modernen” EU-Fans von Volt bleiben mit 0,4% unter den Erwartungen. “Die Basis” hat sich erwartungsgemäß mit rund 630.000 Stimmen und 1,4% als die Partei der impfskeptischen oder esoterischen “Querdenker*innen” etabliert, die nicht die AfD wählen wollten.
Kommende Konflikte
Die Grünen, die wahrscheinlich zukünftig mitregieren werden, sagen – durchaus berechtigt – diese Legislaturperiode wäre entscheidend dafür, ob wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel ergriffen werden. Angesichts der zur Auswahl stehenden Koalitionsoptionen ist klar, dass dies nicht geschehen wird. Auch die volle Umsetzung des Grünen-Programms wäre nicht ausreichend. SPD oder CDU sowie die FDP werden zusätzlich bremsen.
Damit liegt der Ball bei der Klimabewegung. Fridays for Future hat bisher an die Politik appelliert. Die Klimabewegung muss strategisch diskutieren, wie sie von Appellen und davon, nur symbolisch “Sand im Getriebe” zu sein, dazu übergeht, Kämpfe zu führen, die Druck entfalten und Maßnahmen erzwingen. Entscheidend ist dabei die Verknüpfung mit der Arbeiter*innenbewegung und der Klassenfrage.
Die Klimakrise wird seitens der Regierung allerdings dafür herhalten, steigende Energiepreise und Abgaben zu rechtfertigen oder als Begründung für Entlassungen und Betriebsschließungen dienen. Die Maßnahmen der kommenden Regierung werden nicht zu Lasten der Hauptverursacher der Emissionen – der Konzerne – gehen, sondern den Lohnabhängigen aufgebürdet. Die Pläne für eine höhere Besteuerung der Besitzenden, die sich in den Wahlprogrammen von SPD und Grünen finden, werden nicht umgesetzt.
Im Schatten der Pandemie geraten zudem die Rechte der Lohnabhängigen unter Beschuss. Der Wegfall der Lohnfortzahlung für Ungeimpfte in Quarantäne trägt nicht zum Infektionsschutz bei, sondern ist der Einstieg in den Ausstieg auf der Lohnfortzahlung. Die Abfrage der Impfstatus der Beschäftigten – offiziell in einigen Bereichen, faktisch in anderen – durch die Unternehmen höhlt den Schutz der Gesundheitsdaten aus.
Die fundamentalen Probleme des Kapitalismus, der derzeit eine Atempause in seiner Krise macht, stellen die Herrschenden vor große Probleme. Die Besitzenden und Konzerne haben eine lange Liste von Wünschen, welche die Regierung abarbeiten soll und die zu Konflikten mit den Arbeiter*innen führen würden. Gleichzeitig ist die Regierung schwach. Sie wird voraussichtlich aus drei Parteien bestehen – außer, alle Verhandlungen scheitern und am Ende steht die GroKo unter SPD-Führung – und hat dadurch mehrere potenzielle Bruchstellen.
Nicht nur für die CDU ist die Phase des Merkelschen Aussitzens vorbei. Diese Bundestagswahl markiert den Beginn einer neuen Phase politischer Unsicherheit. Die Linke im Allgemeinen und DIE LINKE im Besonderen muss die Lehren aus dem wunderbar erfolgreichen Berliner Abstimmung zur Enteignung der Wohnungskonzerne ziehen und diskutieren, an welchen Punkten sie ähnlich erfolgreich sein kann. Die Streiks bei den Kliniken ebenfalls in Berlin verweisen auf die Entschlossenheit, mit der die Arbeiter*innenbewegung in die kommenden Auseinandersetzungen gehen sollte.
LINKE in der Krise
Die LINKE rutscht unter die Fünfprozenthürde und zieht nur durch drei Direktmandate in Berlin und Leipzig mit 39 Abgeordneten in den Bundestag ein. Hätte sie ein Mandat weniger geholt, würden nur Gregor Gysi und Gesine Lötzsch einsam dort sitzen, ein Remake des PDS-Debakels von 2002. Die meisten Prozentpunkte verliert die Partei in ihren ehemaligen Hochburgen in Ostdeutschland, wo sie hinter die AfD rutscht und in Brandenburg sogar hinter die Grünen. Aber sie wird fast flächendeckend rasiert, verliert in den meisten Bundesländern rund 50% der Wähler*innen.
Die LINKE hatte ein gutes Wahlprogramm beschlossen, mit Vorschlägen gegen den Klimawandel, die weitaus wirksamer wären als die der Grünen. Doch die Wahlkampfstrategie versteckte dieses Programm geradezu. Als kleinster gemeinsamer Nenner zwischen den Lagern in der Partei wurde die “soziale Frage” in den Vordergrund gestellt, aber auf eine Weise, welche sich nicht allzu stark von der SPD unterschied.
Als mit dem Näherrücken der Wahl die rot-rot-grüne Fata Morgana am Horizont erschien, betonte die Parteispitze, mitregieren zu wollen und erklärte weitere Grundsätze der Partei zur Verhandlungsmasse oder für obsolet. Kurz vor der Wahl landeten Fraktionschef Bartsch und die Co-Vorsitzende Hennig-Wellsow dabei, schon das Einfrieren der Rüstungsausgaben auf dem Stand von 2018 – nachdem diese zuvor jahrelang gestiegen waren – zum Ziel zu erklären. Damit wurden zwar nicht direkt Wähler*innen verprellt, aber der Anpassungskurs führt dazu, dass die Menschen lieber gleich das sozialdemokratische Original wählen – und sei es nur ”taktisch”. Wozu die LINKE wählen, deren Regierungsbeteiligung unsicher ist und deren Forderung ein Mindestlohn von 13 Euro ist, während die SPD, die mit großer Wahrscheinlichkeit was zu sagen haben wird, 12 Euro fordert?
Beim Wahl-O-Mat merken Menschen häufig, dass sie überraschend viel Übereinstimmung mit der LINKEN haben. Viele Forderungen der LINKEN sind populär. Wahlforscher*innen weisen darauf hin, dass bei der LINKEN der Unterschied zwischen realen Stimmen und dem Potenzial am größten ist, sie schöpfte weniger als ein Viertel ihres Potenzial von bis zu 20% aus, die AfD hingegen mit ihren 10,3% nahezu zwei Drittel. Besonders deutlich wurde das in Berlin, wo eine große Mehrheit von 57% für das Volksbegehren zur Enteignung der Wohnungskonzerne stimmte, aber nur 14,1% mit der LINKEN die einzige Partei wählten, die diese Forderung klar unterstützt.
Die taktische Lage direkt vor der Wahl drückte die LINKE schließlich unter die 5%-Hürde. Die Zuspitzung auf das Duell Scholz gegen Laschet führte zu einer Mobilisierung für die SPD, darunter auch bisherige LINKE-Wähler*innen. Die LINKE hat nach vorläufigen Schätzungen 640.000 Stimmen an die SPD verloren, plus weitere 480.000 an die Grünen. Gerade in dieser Situation hätte die Partei, um ihr Potenzial auszuschöpfen, als grundlegende soziale Opposition gegen alle prokapitalistischen Parteien auftreten müssen, deren Wert es ist, im Bundestag ein Stachel gegen jede Regierung zu sein. Das Schielen auf das Mitregieren war strategisch falsch, denn die Partei hätte in der Regierung weniger von ihrem Programm umsetzen können als in der Opposition. Auch aus kurzfristig-taktischer Sicht erwies war es fatal.
Schon zu Beginn der Pandemie hatten Partei und Fraktion, angeführt vom Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch, den Schulterschluss mit den Herrschenden gesucht. Der Versuch, parallel zur schwindenden Unterstützung für die Regierung umzuschwenken, wurde trotz guter Forderungen im Einzelnen – zum Beispiel zum Gesundheitswesen – von vielen nicht registriert.
Der Wagenknecht-Faktor
Zu dieser Anpassung der Parteispitze an die Etablierten kamen die Heckenschützen-Aktionen von Sahra Wagenknecht und ihrer Unterstützer*innen. Wagenknecht agierte gegen die eigene Partei. Der von ihr selbst “linkskonservativ” genannte Kurs ist bestenfalls ein Rückgriff auf die Sozialdemokratie der 1960er Jahre, im schlimmsten Fall ermutigt er Menschen mit rassistischen Vorurteilen, diese für “normal” zu halten. Wagenknecht und ihre Unterstützer*innen trennen die “soziale Frage” – von Klassenkampf reden sie nicht – vom Kampf gegen verschiedenen Formen gegen Diskriminierung und konstruieren einen Widerspruch dazwischen, als ob nicht auch und gerade prekäre Arbeiter*innen rassistischer oder sexistischer Unterdrückung unterworfen sind.
Die Wahl entzauberte die Legende, dass Wagenknecht bei Wahlen ein “Zugpferd” sei. Sie war Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen und dort auf vielen – relativ gut besuchten – Kundgebungen. Die Verluste der NRW-LINKEN waren jedoch leicht überdurchschnittlich, sie fiel von 7,5 auf 3,7% und verlor mit 370.000 Stimmen die Hälfte der Wähler*innen.
Die Wahl wurde nicht hauptsächlich wegen Wagenknecht verloren. Richtig ist aber trotzdem, dass viele DIE LINKE wegen Wagenknecht nicht gewählt haben werden, andere, weil es Widerstand gegen sie in der Partei gibt. Schwerwiegender ist, dass ihr Agieren die Partei beschädigt und antirassistische, feministische und Klima-Aktivist*innen abgestoßen und aktive Parteimitglieder demoralisiert hat.
“Reformer*innen” gestärkt
Wir hatten die LINKE als “zwei Parteien in einer” analysiert, mit einem kämpferischen antikapitalistischen Teil und den “Reformer*innen”, die darauf schielen, sich als parlamentarische Ergänzungspartei für SPD und Grüne zu etablieren. Mit der Entwicklung von Wagenknechts “Linkskonservativen” müssen wir von einer grob dreigeteilten Partei sprechen, die neben einem eher antikapitalistischen und bewegungsorientierten Pol zwei reformistische Flügel vereint, die teils konkurrieren, teils kooperieren.
Die LINKE wurde durch die bisherigen Erfolge zusammengehalten. Der Verlust von Mandaten und die wenig rosigen Aussichten für die kommenden Wahlen werden die Partei Zerreißproben mit ungewissem Ausgang unterwerfen, mit der Möglichkeit der Resignation von Mitgliedern und Abspaltungen. Zudem ist die Bundestagsfraktion im Spektrum der Partei rechter als die vorherige. Die große Mehrheit gehört zu den Unterstützer*innen Wagenknechts oder den “Reformer*innen”. Letztere werden das etwas bessere Abschneiden in Berlin, wo die LINKE mitregiert, als Auftrag interpretieren, die Regierungsperspektive noch stärker zu betonen. Während der Zustrom junger Mitglieder in den Großstädten in den vergangenen Jahre dazu führte, dass die östlichen Landesverbände an Einfluss verloren, sind diese durch die Abhängigkeit der Partei von den drei Direktmandaten wieder gestärkt.
Eine Aufgabe des linken Flügels ist es, den schleichenden Rückzug frustrierter Aktiver zu verhindern und Perspektiven zu entwickeln, wie die Partei verändert werden kann. In einzelnen Stadtbezirken in Berlin – vor allem in Neukölln – erzielte die LINKE hervorragende Ergebnisse mit einem klar antikapitalistischen Wahlkampf, basierend auf langjähriger Verankerung im Stadtteil. An der Basis ist die Partei überall jünger und eher kämpferischer geworden. Eine andere Partei ist also möglich.
Allerdings sollten Aktivist*innen den Blick nicht zu sehr nach innen richten und ihre Zeit damit verbringen, auf internen Parteisitzungen um Mehrheiten zu ringen. Die Partei-Aktivist*innen werden in den Bewegungen gebraucht, für die Durchsetzung des Mietenvolksbegehren in Berlin, für die Stärkung des antikapitalistischen Pols in der Klimabewegung, für den Kampf um die Verkehrswende, für die Auseinandersetzungen im Gesundheitswesen und die Abwehrkämpfe gegen Angriffe auf Rechte und Einkommen der Lohnabhängigen. Das Ringen um eine klar oppositionelle, antikapitalistische LINKE muss eng verbunden werden mit der Stärkung und politischen Weiterentwicklung dieser Bewegungen.