Am 25. August hat der Bundestag ein zunächst bis September reichendes Mandat für die Bundeswehr zur Evakuierung deutscher „Ortskräfte“ und ausgewählter afghanischer Unterstützer*innen aus dem Land beschlossen. Dazu sollten 600 Soldat*innen eingesetzt werden, darunter auch Fallschirmjäger und das wegen mehrerer Nazi-Skandale berüchtigte Kommando Spezialkräfte (KSK). Wie zu erwarten war, haben Union, SPD, Grüne und FDP einstimmig dafür gestimmt. Neu war, dass auch DIE LINKE nicht wie bisher klar gegen den Auslandseinsatz der Bundeswehr votiert hat. Die Fraktion hat sich mehrheitlich dazu enthalten. Fünf Abgeordnete stimmten dafür, sieben linke MdBs haben mit „Nein“ votiert.
Von Marcus Hesse, Aachen
Die Süddeutsche Zeitung griff die Neinstimmen und Enthaltungen in einem Kommentar an, und machte deutlich, welche Bedeutung die Friedensfrage für die Regierungsbeteiligung hat. Für DIE LINKE hätte es laut SZ keine bessere Gelegenheit gegeben, „ihre außenpolitische Problemflanke abzuräumen. Sie hätte zeigen können, dass mit ihr durchaus Staat zu machen wäre.“
DIE LINKE ist die einzige Partei, die seit ihrer Gründung gegen alle Kriegseinsätze gestimmt hat. Sie war von Anfang an gegen den desaströsen Afghanistaneinsatz. Aus Sicht der bürgerlichen Parteien SPD und Grüne macht sie das auf Bundesebene als Koalitionspartnerin untragbar. Sie verlangen von der LINKEN das Schleifen dieser Positionen, um für eine Rot-Rot-Grüne Koalition überhaupt infrage zu kommen. Darauf darf DIE LINKE sich auf keinen Fall einlassen. Dass der rechte, nach Regierungsbeteiligungen schielende Flügel bereit ist, ein programmatisches Alleinstellungsmerkmal der LINKEN zu vergessen, ist ein Warnsignal.
Scheitern des deutschen Imperialismus
Fast genau zwanzig Jahre war die Bundeswehr in Afghanistan. Die Rot-Grüne Regierung unter Schröder hatte sich 2001 nach den Terroranschlägen vom 11. September unkritisch hinter die USA gestellt, und der Entsendung der Bundeswehr im Rahmen eines NATO-Einsatzes zugestimmt. Deutschlands Rolle nach dem Sturz der Taliban war dabei der Aufbau von Armee und Polizeikräften. Das hat sich allein der deutsche Staat 12,5 Mrd. Euro kosten lassen. Diese Kräfte von Gnaden der Besatzer haben sich als vollkommen korrupt erwiesen. Sie waren es, die den Taliban kurz nach dem Abzug der ausländischen Truppen fast kampflos das Land überließen.
Dass die Taliban die Macht zurückerobern konnten liegt auch daran, dass das „Nation Building“ komplett scheiterte, und Afghanistan eines der ärmsten Länder der Erde blieb. Dazu kam, dass die blutige militärische Besatzung in der afghanischen Bevölkerung verhasst war. Dabei hat auch die Bundeswehr Blut an ihren Händen. Das Massaker von Kundus bleibt bis heute ungesühnt: 2009 wurde ein Tanklaster von Zivilist*innen, darunter viele Frauen und Kinder, angezapft. Der deutsche Befehlshaber befahl die Bombardierung, dutzende Menschen starben. Die Opfer bekamen keine Entschädigung vom deutschen Staat. Der verantwortliche Oberst Klein hingegen wurde sogar zum Generalmajor befördert.
Humanitäre Katastrophe durch die Taliban-Herrschaft
Die „neuen“ Taliban an der Macht machen im großen Stil Jagd auf politisch und gesellschaftlich aktive Frauen und üben Rache an ihren alten Feind*innen. Nationale und religiöse Minderheiten, wie die schiitischen Hazara fürchten ebenfalls verschärfte Unterdrückung. Die dramatischen Bilder von Tausenden, die am Kabuler Flughafen verzweifelt versuchten, ausgeflogen zu werden und sich an startenden Flugzeugen festhielten, bezeugen dies eindrucksvoll. Afghanistan war niemals ein „sicheres Herkunftsland“ – aber seit der Machtergreifung der Taliban wurde alles noch schlimmer. Dies hielt den deutschen Staat aber nicht davon ab, noch eine Woche vor dem Fall Kabuls dorthin abzuschieben. Auch die Regierungen anderer EU-Länder kennen kein Tabu: Österreichs konservativer Innenminister Nehammer (mit dem dort die Grünen koalieren!) will auch nach dem 15.8. weiter abschieben lassen.
Seit dem Sieg der Taliban ist immer wieder von „Ortskräften“ die Rede, die es nun zu evakuieren gelte. Gemeint sind damit primär Deutsche, die für zivile Institutionen arbeiten und Diplomat*innen, aber auch Mitarbeiter*innen von NGOs, deutschen Bildungsinstitutionen, Banken und Handelsgesellschaften. Außerdem geht es um Afghan*innen, die für deutsche staatliche Institutionen, Militär und Polizei gearbeitet haben, und sei es nur als Übersetzer*innen. Da Afghanistan eine durch Jahrzehnte von Krieg und Bürgerkrieg zerstörte Ökonomie ist, ist das eine große Masse von Menschen. Einige dieser Leute haben direkt im repressiven Apparat gearbeitet, viele aber nur aufgrund fehlender Perspektiven. Offenbar machen die Taliban da wenig Unterschiede. Nach dem 15.8. wurde in den Medien viel über deren Schicksal berichtet. Zigtausende, die in zwei Jahrzehnten für deutsche Institutionen gearbeitet haben, fühlen sich vom deutschen Staat verlassen. In der Tat ist dessen Verhalten gegenüber seinen ehemaligen afghanischen Diener*innen zynisch. Einst brauchte der deutsche Staat sie, aber jetzt lässt er sie fallen und allein in einem von den Taliban beherrschten Land, wo sie um ihr Leben fürchten müssen.
Wie hat die LINKE reagiert?
Als einzige Partei, die immer gegen den Einsatz in Afghanistan gestimmt hat und von Anfang an sagte, dass dieser Einsatz weder Frieden noch sozialen Fortschritt für das Land bringen kann, hat DIE LINKE schnell reagiert. Schon in einer ersten Pressekonferenz forderten Janine Wissler und Dietmar Bartsch, Ortskräfte auszufliegen und die Grenzen für alle Afghan*innen auf der Flucht zu öffnen. Sahra Wagenknecht forderte explizit die Rettung von Diplomaten und Ortskräften, sprach aber natürlich nicht von Fluchtmöglichkeiten für andere Afghan*innen.
Die Bundesregierung und bürgerliche Medien machten derweil Stimmung für einen neuen Militäreinsatz – diesmal zur Rettung bedrohter Menschen. Schließlich kam es im Bundestag zur Abstimmung, die beinhaltete, 600 Soldat*innen, darunter Spezialkräfte des KSK zur Rettung von mehreren Tausend ausgewählten Ortskräften einzusetzen. Dabei handelt es sich natürlich nicht um einen humanitären Einsatz, denn es sollen nur Menschen ausgeflogen werden, die dem deutschen Staat und Militär gedient haben. Zehntausende politisch aktive Frauen und politische Aktivist*innen ohne Beziehungen zur ehemaligen deutschen Besatzungsmacht sollen zurückgelassen werden.
Die Linksfraktion hat sich bei der Abstimmung nach der Empfehlung des Parteivorstands mehrheitlich enthalten. Die Begründung des Parteivorstands war, dass alle Ortskräfte und Menschenrechtsaktivist*innen gleichberechtigt mit gerettet werden sollten. Sicherlich stimmt das. Aber mit dieser Aussage schafft sich DIE LINKE ein argumentatives Problem. Dieser Logik nach wäre es geboten, den Einsatz länger und umfangreicher zu gestalten.
Wir glauben, dass es besser gewesen wäre, klar mit „Nein“ zu stimmen, und in der Begründung klar zu machen, dass man für die Aufnahme aller politisch und religiös Verfolgten in Afghanistan ist. Wenn die letzten 20 Jahre eines gezeigt haben, dann ist es das Scheitern des Westens, in Afghanistan bessere Verhältnisse zu schaffen. Auch einige Wochen mehr mit angeblichem Rettungseinsatz hätten daran nichts verändert. Wie auch: Es ging bei dem Einsatz nie um Mädchenschulen, Brunnenbohren und die Verteidigung der Freiheit am Hindukusch, sondern um geostrategische Machtinteressen, Rohstoffzugang, Profitinteressen, und Prestige.
Wie die Rettungsaktion konkret aussieht
Linke haben zurecht gefordert, so viele Menschen wie möglich zu retten. Angesichts der Barbarei der Taliban, die Jagd auf ihre politischen Gegner*innen machen, scheint vielen eine Bundeswehraktion alternativlos. Nicht nur in den etablierten Medien herrscht diese Stimmung vor. Auch viele Menschenrechtsaktivist*innen, Geflüchtete und Angehörige von Menschen in Afghanistan teilen diese Ansicht. Das schafft einen gewissen Druck und macht es schwieriger, bei einem prinzipienfesten „Nein!“ zu einem neuen Mandat für die Bundeswehr zu bleiben. Doch genau das ist das Kalkül der Herrschenden: Mit dem Verweis auf die momentane humanitäre Notlage wird für ein Comeback des deutschen Militarismus am Hindukusch getrommelt. Das ist bei Kriegseinsätzen nicht ungewöhnlich: Auch 1999 beim Kosovokrieg ging es um eine angebliche humanitäre Katastrophe als Türöffner für eine militärische Aktion.
Doch tatsächlich ist die Rolle der Bundeswehr bei der „Evakuierung“ nicht so held*innenhaft. Das militärische Mandat sieht vor, die Sicherung des vollständigen Abzugs mit den Taliban abzusprechen. So wurde der Flugbetrieb in Kabul nicht gegen den Willen der Taliban-Regierung aufrechterhalten, sondern erfolgt im Einvernehmen mit dieser. Unter diesen Umständen hätte man auch zivile Rettungsflüge durchführen können – tatsächlich verhinderte der deutsche Staat solche aber!
Die Bundeswehr selbst spielte auch keine Rolle dabei, den Flughafen abzusichern. Die Masse des Personals zur Absicherung des Flughafens stammt von der US-Armee im Rahmen der NATO. Die KSK-Leute aus Deutschland hatten vorzeitig das Land verlassen. Tatsächlich haben die NATO-Sicherungskräfte am Flughafen dafür gesorgt, Menschen, die das Land verlassen wollen, zu selektieren: Nur Ausgewählte (allen voran Botschaftspersonal und Deutsche) werden ausgeflogen, andere werden gewaltsam an der Flucht gehindert. Dabei kam es sogar zu Toten. Es ist ein Mythos, dass hier eine humanitäre Rettungsaktion für Notleidende stattfindet. Doch die „Rettungsmission“ wird als PR für die angeschlagene Bundeswehr benutzt, die die Imagepflege nach dem Desaster des 20-jährigen Einsatzes am Hindukusch und zahlreichen Naziskandalen in den eigenen Reihen bitter nötig zu haben scheint.
Schon eine Enthaltung ist Herrschenden zu viel
Auch wenn DIE LINKE diesen heuchlerischen Einsatz nicht mehrheitlich ablehnte, wird sie massiv für ihr Abstimmungsverhalten angegriffen. Die selben Parteien, die zwanzig Jahre lang Krieg am Hindukusch geführt haben, Tausende dafür sterben ließen und noch bis vor kurzem Geflüchtete nach Afghanistan abgeschoben haben, attackieren nun DIE LINKE dafür, sich der „Rettung von Menschen“ zu verweigern – welch Heuchelei!
Der CDU-Abgeordnete Johann Wadepfuhl bezeichnete „ideologischen Hass auf die Bundeswehr“ als das Motiv der linken Enthaltung. Lindner von der FDP skandalisierte, dass „mit der LINKEN kein Staat zu machen“ sei. SPD und Grüne sind gleichsam empört. Kein Wunder: Soll doch gerade der strikte Antimilitarismus fallen, wenn Rot-Rot-Grün auf Bundesebene möglich sein soll. Ein Einknicken der Linken bei der Frage der Militäreinsätze ist Bedingung für so eine Koalition. Das wissen auch die „Realos“ und Regierungsbeteiligungsbefürworter*innen in der LINKEN sehr gut. Als Zeichen der Regierungstauglichkeit braucht es eine totale Unterwerfung. Die fünf Abgeordneten, die für den Einsatz gestimmt haben, darunter Matthias Höhn und Klaus Ernst, haben sie geliefert. Aber auch Bartsch wurde bei seinem „Jein“ zum Militäreinsatz nicht müde, die Bundeswehr für ihren Einsatz zu loben.
Befreiung ist nur ohne Imperialisten möglich!
Die Herrschaft der Taliban ist grausam, aber die Menschen in Afghanistan, besonders Frauen, wehren sich. Eine Generation von Menschen, die begrenzte, aber neue Freiheiten erfahren hat, wird sich den Rückfall in die religiöse Unterdrückung nicht gefallen lassen. In einigen afghanischen Städten kam es zu Protesten.
Diese Proteste haben das Potenzial, die unterdrücktesten Schichten zu vereinen. Die kleine Arbeiter*innenklasse in den Städten hat dabei eine besondere Rolle im Kampf gegen Korruption, Frauenunterdrückung und für demokratische Rechte zu spielen. Sie kann ein Ankerpunkt für eine unabhängige politische Positionierung sein, unabhängig von imperialistischen Interessen oder denen von anderen Warlords. Die arbeitende Klasse in den Städten, die armen Bäuer*innen, die Armen in Stadt und Land müssen sich unabhängig von unten organisieren. Der Kampf gegen die Taliban ist nicht im Bündnis mit der NATO zu gewinnen. Denn die Besatzer von einst sind zurecht verhasst und waren immer ein Teil des Problems. Der Kampf um die Befreiung Afghanistans ist ein dreifacher Kampf: Gegen die Taliban und andere religiös-reaktionäre Kräfte, gegen die Einmischung imperialistischer Staaten und gegen das kapitalistische System, das wenige reich macht und täglich millionenfach Armut und Ausbeutung erzeugt.
Die SAV sagt:
- Nein zum neuen Mandat für die Bundeswehr!
- Kein Comeback von NATO, USA und Bundeswehr an den Hindukusch!
- Nein zu linken Regierungsbeteiligungen! Keine Aufweichung des Anti-Kriegskurses der LINKEN!
- Gegenwehr von unten gegen die Taliban!
- Für die Verteidigung von Frauenrechten und nationale Minderheiten gegen den Terror der Taliban!
- Offene Grenzen für alle Geflüchteten! Keine Abschiebungen!
- Unbürokratische und schnelle Evakuierung für alle von den Taliban Verfolgten!
- Entschädigungen für alle zivilen Opfer deutscher Kriegseinsätze!
- Für den Aufbau einer sozialistischen Bewegung der Unterdrückten und Arbeiter*innen in Afghanistan und der Region!
Bild: DIE LINKE