Der Zusammenbruch von Evergrande – das chinesische Regime steckt in einem Dilemma

Die chinesische Immobiliengesellschaft Evergrande verpasst einen Zahlungstermin nach dem nächsten. Wenn sie zusammenbricht, kann das enorme Folgen für Chinas Wirtschaft, seine autoritäre Regierung und den globalen Kapitalismus haben. ISA Mitglieder sprachen mit Vincent Kolo von chinaworker.info darüber, was die Folgen sein könnten.

ISA: Der Name Evergrande ist schlagartig in den Nachrichten aufgetaucht. Was ist Evergrande? Wie ist es so wichtig geworden?

VK: Evergrande ist der zweitgrößte Immobilienkonzern in China. Ein riesiges Unternehmen, das kurz vor dem Bankrott steht. Evergrande selbst hat etwa 12 Millionen Wohnungen gebaut, was etwa der Hälfte des gesamten Wohnungsbestands Großbritanniens entspricht.

Zu der sich entwickelnden Krise gehört, dass er derzeit 1,6 Millionen unfertige Wohneinheiten besitzt. Viele Bauträger in China arbeiten mit einem Geschäftsmodell, das auf Vorverkäufen basiert. Die Leute bezahlen ihre neue Wohnung, noch bevor der erste Spatenstich getan ist. Jetzt geraten sie in Panik, weil sie bereits bezahlt haben, aber ihr neues Zuhause nicht bekommen werden, wenn das Unternehmen zusammenbricht.

Evergrande hat Schulden in Höhe von 300 Milliarden US-Dollar, was etwa so viel ist wie die gesamte Staatsverschuldung Irlands. Ende September begann das Unternehmen, seine internationalen Dollar-Schulden zu begleichen. Aber seit März dieses Jahres hat das Unternehmen seine Schulden innerhalb Chinas nicht mehr bezahlt. Es hat seine Gläubiger, seine Lieferanten und die Baufirmen, mit denen es Verträge hat, mit Schuldscheinen im Gesamtwert von über 100 Milliarden Dollar bezahlt. Viele davon werden vielleicht nie beglichen.

Es gibt die Befürchtung, dass das Unternehmen auf den Zusammenbruch zusteuert. Wenn das geschieht und die chinesische Regierung nicht einspringt, könnte es zu einem Einbruch des gesamten chinesischen Immobiliensektors führen.

Diese Entwicklung könnte dann auf die Banken übergreifen, die stark vom Immobilienmarkt abhängig sind. Und dann droht eine Finanzkrise in China mit allen wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen, die das mit sich bringen würde.

ISA: Manche vergleichen Evergrande mit Lehman Brothers – ist das ein guter Vergleich?

VK: Ich denke, ja und nein.

Natürlich ist Evergrande keine Investmentbank, wie es Lehman Brothers war. Das chinesische Finanzsystem ist nicht dasselbe wie das in den USA oder der Europäischen Union. Es wird von den Banken beherrscht, und die Banken befinden sich in den meisten Fällen in Staatsbesitz. Das Bankensystem wird durch Devisenkontrollen geschützt, die Währung ist nicht frei handelbar, sie wird durch Kapitalverkehrskontrollen geschützt, was bedeutet, dass die chinesischen Banken gegenüber Finanzturbulenzen widerstandsfähiger sind als die westlichen Kapitalist*innen.

Bedeutet das, dass das System krisensicher ist, dass es in China keine Finanzkrise geben kann? Die Antwort auf diese Frage lautet „nein“. Aber es ist unwahrscheinlich, dass sich eine Krise auf dieselbe Weise abspielt wie in den westlichen kapitalistischen Volkswirtschaften.

Wenn pro-kapitalistische Kommentator*innen sagen: „Das ist kein neues Lehman Brothers“, haben sie in gewisser Weise natürlich recht. Aber erstens besteht das Risiko einer Bankenkrise in China sehr wohl, weshalb die Xi-Regierung sowohl intern als auch gegenüber der Außenwelt beispiellos strenge Kapitalkontrollen eingeführt hat. Das Verbot von Kryptowährungen und das letztjährige harte Vorgehen gegen die Ant Group (das Fintech-Unternehmen im Besitz von Jack Mas Alibaba, Anm. d. eng. Red.) sind Beispiele dafür. Selbst Transaktionen zwischen den Provinzen sind jetzt schwieriger.

Zweitens: Lehman Brothers hat die Große Rezession von 2008-09 nicht verursacht. Aber der Zusammenbruch von Lehman Brothers war ein Wendepunkt, der den Verlauf der Ereignisse dramatisch beschleunigte. Die Krise, deren Wurzeln in der Natur des Kapitalismus selbst zu finden sind, war bereits am Entstehen. Wäre die Bush-Regierung zur Rettung von Lehman Brothers eingeschritten, wäre die Krise nicht verhindert worden, sondern hätte lediglich eine andere Form angenommen.

Um auf Evergrande zurückzukommen: Es ist ein Symptom für etwas viel Größeres.

ISA: Bis 2008 schien es, als würden sich die Immobilienblasen in den USA und in China parallel aufblähen – aber nach 2008 platzte die US-Blase, während die chinesische weiter wuchs. Was bedeutet das?

VK: 2008 war der Wendepunkt. Seitdem ist keines der grundlegenden Probleme, die die globale Krise verursacht haben, gelöst worden. Die Verschuldung ist weltweit explodiert, wobei sich an den beiden Polen des Kalten Krieges zwei historisch einmalige Schuldenblasen entwickelt haben.

In den USA haben billige Kredite und Nullzinsen die Marktkapitalisierung der Aktienmärkte von den bereits aufgeblähten 140 % des BIP vor 2008 inzwischen auf 200 % ansteigen lassen.

Aber die schnellste Explosion aller großen Volkswirtschaften fand in China statt, wo der Aktienmarkt ein zweitrangiger Faktor ist. Hier ist der Immobilienmarkt entscheidend. Der Marktwert aller Immobilien in Chinas Städten entspricht heute dem Fünffachen des BIP. Zum Vergleich: In den USA betrug der Marktwert aller Immobilien 2020 etwa das Doppelte des BIP. In China ist das Verhältnis völlig aus dem Ruder gelaufen.

In China, das eine viermal so große Bevölkerung wie die USA hat, werden jährlich zehnmal so viele Häuser gebaut. Das hört sich zwar gut an, aber viele normale Menschen können sich diese Häuser nicht leisten. Von den fünf teuersten Städten der Welt, in Bezug auf Wohnraum, liegen vier in China. Der gesamte Wohnungsmarkt ist seit 1998 privatisiert, es gibt nur sehr wenige Sozialwohnungen. Die Wohneigentumsquote auf dem Immobilienmarkt liegt bei 93 % und damit viel höher als in den USA und Europa. Doch während sich sehr viele Menschen keine neuen Häuser leisten können, spekulieren die Reichen, Regierungsbeamt*innen und die wohlhabendsten Schichten der Mittelschicht mit Immobilien. Dies führt zu einem enormen Problem mit leerstehenden Wohnungen. Im Jahr 2017 standen 20 % der städtischen Wohneinheiten leer. Das ist eine unglaubliche Verschwendung und unproduktive Nutzung von Kapital, und die Regierung sieht sich gezwungen, einzugreifen, um diese Entwicklung zu stoppen.

Ein weiterer Faktor in China ist die Teilung der Bevölkerung durch das „hukou“-System (Wohnsitzkontrolle). Dieses System teilt die Bevölkerung ein in diejenigen, die das Recht haben, in den Städten zu leben, und diejenigen, die auf dem Land wohnen müssen. Obwohl China inzwischen weitgehend verstädtert ist, wird die Mehrheit der Bevölkerung immer noch als Landbewohner*innen geführt. Auch die Städte sind in Stufen eingeteilt. Die wohlhabendsten Städte – Shanghai und Peking – befinden sich in „Stufe 1“. Menschen mit einem „Land“-Hukou dürfen sich in diesen Städten niemals dauerhaft aufhalten.

Evergrande ist eher auf die ärmeren Städte spezialisiert, die in China als „Stufe 3“- und „Stufe 4“-Städte bezeichnet werden und die normalerweise nicht von Journalist*innen der Financial Times oder der Washington Post besucht werden. In diesen Städten leben mehr Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, und die Immobilienkrise ist dort am stärksten zu spüren. Das liegt zum Teil daran, dass Kapital in die Bauwirtschaft geflossen ist, obwohl die meisten Städte in China nicht mehr wachsen. Das hängt mit der Bevölkerungskrise zusammen, die ein massives Problem für die chinesische Diktatur darstellt, da die Bevölkerung nun schrumpft. Eine Zahl, die die ganze Evergrande-Krise in den richtigen Kontext stellt, ist, dass drei Viertel der chinesischen Städte tatsächlich schrumpfen. Weshalb also immer mehr riesige Wohnungsbauprojekte durchführen?

ISA: Wie wird sich die Krise auf dem Immobilienmarkt deiner Meinung nach entwickeln?

VK: Die Immobilienblase in China hat ihre Grenzen erreicht. Sie wird platzen. Wie das ablaufen wird, ist nicht ganz klar. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie es weitergeht. Was wir aber mit Sicherheit sagen können, ist, dass Evergrande einen Wendepunkt markiert.

Der Immobilienmarkt ist für das Wachstum der Wirtschaft von entscheidender Bedeutung, denn er macht 29 % des BIP in China aus. Es ist wahrscheinlich, dass jetzt der gesamte Sektor in eine Krise gerät. Evergrande ist das größte, das aufsehenerregendste Unternehmen in der Krise, aber es gibt auch andere Unternehmen im Immobiliensektor, die ihre Schulden nicht bedienen können, die überschuldet sind und wahrscheinlich in der nächsten Zeit zusammenbrechen werden. Die Krise ist viel größer als nur Evergrande. Das bedeutet, dass der Immobilienmarkt nicht mehr der Wachstumsmotor für die chinesische Wirtschaft sein kann.

Der Kalte Krieg zwischen den USA und dem chinesischen Imperialismus verstärkt den Druck auf das Regime von Xi Jinping, die Wirtschaft zu „modernisieren“. Aber das internationale Umfeld ist jetzt völlig anders, da die Deglobalisierung eingesetzt hat. China wird in immer mehr Bereichen kontrolliert und blockiert, insbesondere durch den US-Kapitalismus. Daher hat das chinesische Regime beschlossen, in den sauren Apfel zu beißen und gegen die übermäßige Verschuldung im Immobiliensektor vorzugehen, da sie einen enormen Verlust an Ressourcen bedeutet.

Xi Jinping hat eine harte Linie verfolgt, um die Wirtschaft von ihrer verschwenderischen, spekulativen Abhängigkeit von Überinvestitionen und Überschuldung zu befreien, und im vergangenen Jahr die so genannten drei roten Linien für den Immobiliensektor festgelegt. Nur Unternehmen, die diese Kriterien – das Verhältnis von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten, von Nettoverschuldung zu Eigenkapital und von liquiden Mitteln zu kurzfristigen Verbindlichkeiten – erfüllten, wurde der Zugang zum Kreditmarkt gestattet. Evergrande verletzte alle drei der roten Linien, so dass das Unternehmen kein Kapital aus normalen Quellen mehr erhielt und stattdessen auf eine „Schuldschein-Wirtschaft“ umstieg. Immer mehr Bauträger machen jetzt das Gleiche wie Evergrande – sie verkaufen die Häuser, bevor sie überhaupt gebaut sind, und verwenden das Geld, um ihre Schulden zu tilgen.

Die Frage ist, ob die Regierung angesichts dieses destruktiven und schmerzhaften Verlaufs die Nerven behält oder von ihrer harten Linie abrückt, weil sie befürchtet, dass die Immobilienblase sonst außer Kontrolle gerät und die gesamte Wirtschaft in den Untergang stürzt.

ISA: Finanzexpert*innen sind besorgt über die Auswirkungen des Zusammenbruchs von Evergrande auf Banker*innen, Investor*innen und dergleichen. Aber was ist mit den einfachen Leuten? Wie wird sich der Zusammenbruch auf Menschen auswirken, die eine Wohnung suchen? Was ist mit denen, die direkt oder indirekt für Evergrande arbeiten?

VK: Die Mehrheit der Arbeiter*innen in China, abgesehen vielleicht von einigen wenigen, die man vielleicht als „Arbeiter*innenaristokratie“ bezeichnen könnnte, wurde von diesem Markt ausgeschlossen, da sie sich diese Häuser nicht kaufen konnten. Die Auswirkungen auf die Arbeiter*innenklasse werden also widersprüchlich sein. Wenn der Immobilienmarkt zusammenbricht und die Preise zu sinken beginnen, könnte das bei einer Schicht der Bevölkerung Anklang finden.

Aber für diejenigen, die Immobilien gekauft haben, zu denen auch ein Teil der Angestellten in den Städten gehört, die nicht nur ihre eigenen Ersparnisse investiert haben, um eine Wohnung zu kaufen, sondern auch die ihrer Eltern und Verwandten, wäre der Zusammenbruch der Immobilienpreise eine Katastrophe. Sie wären überschuldet, wie es in den USA, Irland, Spanien und anderswo nach 2008 geschah. Bei der chinesischen Regierung schrillen die Alarmglocken, denn wenn dies im ganzen Land geschieht, ist der Grundstein für massive soziale Probleme gelegt.

Bei den Beschäftigten von Evergrande handelt es sich hauptsächlich um das Verkaufspersonal, Manager*innen, Planer*innen und Buchhalter*innen, aber nicht um Bauarbeiter*innen. Das Unternehmen beschäftigt etwa 160.000 Mitarbeiter*innen. Sie haben erhebliche Sorgen, dass sie ihre Arbeitsplätze verlieren könnten. Die eigentlichen Bauarbeiten werden an Unternehmen vergeben, die hauptsächlich Wanderarbeiter*innen mit Zeitverträgen beschäftigen, die zu niedrigen Löhnen und unter sehr brutalen Bedingungen arbeiten. Wenn die Arbeit beendet ist, sind sie arbeitslos und gehen dann woanders hin. Wenn Evergrande untergeht, sind drei bis vier Millionen Arbeitsplätze im Baugewerbe und in den Lieferketten des Unternehmens bedroht. Und da noch etwa zehn weitere kleinere „Evergrandes“ drohen, könnte dies schwerwiegende Auswirkungen auf die Arbeitsplätze und die Wirtschaft insgesamt haben.

ISA: Es gibt Berichte, dass es in China bereits Proteste deswegen gegeben hat. Ist das weit verbreitet?

VK: Es gibt seit einigen Monaten Proteste, bei denen eine sehr vielfältige Gruppe von Menschen ihr Geld zurückfordert. Es gibt sowohl Bauarbeiter*innen, als auch Bauunternehmer*innen, die nicht bezahlt wurden und deshalb ihre Arbeiter*innen nicht bezahlen können. Mehr als 80 000 Evergrande-Beschäftigte haben dem Unternehmen Geld „geliehen“ – einem Evergrande-Manager zufolge rund 15,5 Milliarden Dollar -, da das Management die Belegschaft dazu gebracht hat, so genannte Vermögensverwaltungsprodukte zu kaufen, die sehr attraktive Zinssätze versprachen, um dem Unternehmen aus der finanziellen Klemme zu helfen. Bei diesen Leuten handelt es sich nicht um Spekulant*innen, über die man sagen könnte: „Das geschieht ihnen recht“, sondern oft um verzweifelte Menschen, die ihren Arbeitsplatz retten oder ein bisschen Zinsen für ihr späteres Leben verdienen wollten. In einem Fall ging es um eine krebskranke Frau, die versuchte, Geld für eine Behandlung zu sammeln.

In mehreren Städten haben sich Menschen vor den Büros des Unternehmens versammelt und fordern wütend die Rückzahlung der Gelder. Die meisten sind Angestellte von Evergrande. Zum jetzigen Zeitpunkt richtet sich die Wut nicht gegen Xi Jinping oder gegen die KPCh (die so genannte Kommunistische Partei), sondern gegen Evergrande. Aber das kann sich zu einer allgemeineren Wut entwickeln, wenn die Regierung nicht eingreift, um eine Art Rettungsaktion zu organisieren.

ISA: Wie wird Xi Jinping Ihrer Meinung nach mit dieser Krise umgehen?

VK: In der Öffentlichkeit sagt die Regierung garnichts. Es ist unglaublich. Die weltweiten Medien sind voll von Evergrande, aber in China selbst erfährt man nichts darüber. Die Regierung versucht jedoch, diese Krise zu nutzen, um die anderen Immobilienunternehmen unter Druck zu setzen, damit sie ihre Schuldenlast reduzieren. Aber das ist wie eine Mutprobe – wie lange wird sie diese harte Vorgehensweise durchhalten, wenn die Gefahr eines Zusammenbruchs des gesamten Immobiliensektors besteht?

Ich denke, sie werden eine Mischung aus verschiedenen Maßnahmen versuchen. Der Ansatz der KPCh wird darin bestehen, offiziell zu leugnen, dass sie Evergrande rettet, aber auf lokaler und regionaler Ebene wird es verschiedene Arten von Eingriffen und Rettungsaktionen für bestimmte Unternehmen geben, um zu verhindern, dass die Sache zu weit geht und die sozialen Auswirkungen zu begrenzen. Zunächst einmal werden verschiedene staatliche Unternehmen und lokale Verwaltungen für diejenigen, die die 1,6 Millionen unfertigen Immobilien gekauft haben und Gefahr laufen, sie nicht zu bekommen, einspringen, um die Bauarbeiten abzuschließen oder wichtige Vermögenswerte wie das Fußballstadion von Guangzhou [das Evergrande ebenso gehört wie die Mannschaft, der FC Guangzhou] zu übernehmen, damit dies nicht zu einem Grund für soziale Unruhen wird. Einige inländische Inhaber*innen von Finanzprodukten könnten teilweise entschädigt werden. Aber internationale Spekulanten werden meiner Meinung nach auf der Strecke bleiben. Sie werden nichts zurückbekommen.

Evergrande selbst wird meiner Meinung nach nicht gerettet werden. Der Plan ist, dies zu nutzen, um den anderen eine Lektion zu erteilen, um Disziplin und Kontrolle über den Immobiliensektor herzustellen. Aber die Frage ist, ob das gelingen kann? Das ist ein sehr, sehr kompliziertes und gefährliches Unterfangen. Es liegt in der Natur der Sache, dass man eine Blase nicht kontrollieren kann. Es gibt also viele Risiken für das chinesische Regime, wie sich das Ganze entwickeln könnte.

ISA: Evergrande wurde dafür kritisiert, dass es dem „Go-Global-Modell“ des chinesischen Kapitalismus folgt – kometenhaftes Wachstum, das durch Schulden angeheizt wird. Ist dieses Modell jetzt gescheitert?

VK: Das „Go-Global-Modell“ bezieht sich eher auf nationale Champions wie Huawei, die zum Erfolg auf dem Weltmarkt gedrängt wurden, zumindest bis sie erst von Trump und dann von Biden behindert wurden. Jetzt steckt Huawei in einer Krise.

Evergrande war auf den internationalen Märkten nicht besonders aktiv, aber es ist ein sehr schuldenfinanziertes Modell. Seit vielen Jahren steuert China auf ein japanisches Szenario zu. Dort ist 1989 eine mit Schulden aufgeblähte Immobilienblase geplatzt. Damals waren die Immobilien rund um den Kaiserpalast in Tokio mehr wert als der gesamte Bundesstaat Kalifornien – so wurde es zumindest oft behauptet. Diese Blase platzte und der japanische Kapitalismus erholte sich nie wirklich. Er litt mehr als zwei Jahrzehnte unter Stagnation, und die Wirtschaft war im vergangenen Jahr genauso groß wie 1995. Das könnte auch die Perspektive für die chinesische Wirtschaft sein.

Natürlich wird es nicht genau dasselbe sein, aber es wird viel erschreckender sein, wenn es in China passiert, denn Japan hatte ein viel festeres soziales Netz als China.

Aufgrund des „Hukou“ ist die Landbevölkerung vom System der Arbeitslosenunterstützung ausgeschlossen, während ein Teil der Stadtbevölkerung ein wenig Unterstützung erhält. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist überhaupt nicht sozialversichert. Eine Krise wie in Japan oder im westlichen Kapitalismus im Jahr 2008 wird es also nicht geben. Stattdessen wird jede Krise im chinesischen Kontext mit einem so niedrigen Lebensstandard und dem Fehlen eines sozialen Sicherheitsnetzes länger andauern und komplizierter ausfallen. Vor diesem Hintergrund können sich revolutionäre Unruhen in China entwickeln.

ISA: Es gibt international Linke, die argumentieren, dass das System der KPCh die Krise aufgrund seines überlegenen Systems der staatlichen Kontrolle kontrollieren kann. Würden Sie dem zustimmen?

VK: Das System funktioniert anders, aber es unterliegt immer noch den ökonomischen Gesetzen. Das chinesische Regime hat die Krise, die den Rest der Welt 2008 traf, gerade dadurch vermieden, dass es Unternehmen wie Evergrande ermutigte. Sie ließen riesige Kreditsummen in den Immobilienmarkt fließen, steigerten die Nachfrage nach allen Rohstoffen durch den Bauboom und trieben die Wirtschaft auf der Grundlage von Schulden an. Auf diese Weise segelte China scheinbar durch die Krise und zog Volkswirtschaften wie Australien mit sich. Doch dazu musste das Land sein Wachstumsmodell komplett ändern.

Jetzt zahlt es den Preis dafür. Dass Xi Jinping in dieser Lage ist und bereit ist, diese Risiken einzugehen, zeigt, wie verzweifelt die Lage ist. Diejenigen Teile der Linken, die sich Illusionen in das KPCh-System machen und glauben, dass es eine Krise vermeiden kann, machen einen fundamentalen Fehler in ihrer Einschätzung. Die einzige andere Möglichkeit, die die KPCh hat, ist, den Kredithahn wieder aufzudrehen und die Blase noch weiter aufzublasen, um sie später platzen zu lassen. Selbst mit diesem gelenkten Kapitalismus kann sie eine Krise nicht auf Dauer vermeiden, irgendwann werden die Widersprüche sich zeigen.

ISA: Wie auch immer die Entscheidung über Evergrande ausfallen wird, wie wird sich dies auf das erklärte Versprechen der KPCh auswirken, den „gemeinsamen Wohlstand“ zu fördern?

VK: Der Schlüsselslogan der Kommunistischen Partei Chinas, „gemeinsamer Wohlstand“, ist eine leerer Parole, die nichts mit Sozialismus zu tun hat. Wenn man 100 Jahre zurückgeht, war „Gemeinsamer Wohlstand“ der Slogan der Kuomintang von Sun Yat-sen. Er ist vage und inhaltsleer. Aber die Regierung spürt den explosiven Druck, der sich aufgrund des Wohlstandsgefälles in der Gesellschaft aufbaut, und die KPCh ist dafür verantwortlich. Ihre Angriffe auf den privaten kapitalistischen Sektor werden sich nicht von selbst in besseren Löhnen und Bedingungen für die Arbeiter*innen niederschlagen, vor allem nicht unter einer Diktatur, die Gewerkschaften verbietet.

Es ist erstaunlich, dass einige Teile der internationalen Linken denken, dass das chinesische Regime sozialistisch ist, dass sich dieser riesige, private, spekulative, kapitalistische Sektor [der Immobilienmarkt], der 29 % des BIP ausmacht, entwickelt haben soll, ohne dass die KPCh dafür verantwortlich wäre.

Der Eigentümer und Vorsitzende von Evergrande, Xu Jiayin, ist seit 35 Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei und gehört dem Nationalkomitee der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes (CPPCC) an, dem Zwillingsgremium des so genannten Parlaments, dem Nationalen Volkskongress. Im Jahr 2012, dem Jahr, in dem Xi Jinping zum „Obersten Führer“ ernannt wurde, nahm Xu Jiayin an einer Sitzung des CPPCC teil und trug einen superteuren goldenen „Hermes“-Gürtel. Dies wurde in den sozialen Medien zum Gesprächsthema. Er war bereits zweimal der reichste Mann Chinas. Seine gesamte Geschäftskarriere ist mit der KPCh-Elite verwoben.

Viele der Verträge von Evergrande wurden von lokalen Regierungen finanziert, die die Hälfte ihrer Einnahmen aus Landverkäufen erzielen. Der Verkauf der lukrativen Grundstücke hat den KPCh-Eliten im ganzen Land Bestechungsgelder beschert. Wenn die Blase also platzt, werden die Auswirkungen in allen Kommunalverwaltungen spürbar sein. Sie leiden bereits jetzt unter dem starken Rückgang der Grundstücksverkäufe.

Xu Jiayin selbst wird mit ziemlicher Sicherheit bald kein Milliardär mehr sein. Er könnte wegen der jetzt bekannt gewordenen Vorwürfe gegen Evergrande sogar im Gefängnis landen. Was die Bosse von Evergrande getan haben, ist haarsträubend: Sie haben ein riesiges Schneeballsystem aufgebaut, das darauf beruht, die Menschen zu täuschen, um den Betrug aufrechtzuerhalten. Autoritäre kapitalistische Regime wie das von Xi Jinping können von Zeit zu Zeit ein Exempel statuieren, Geschäftsleute strafrechtlich verfolgen und sogar erschießen. Doch das ändert nichts an der kapitalistischen Grundlage der Wirtschaft.

ISA: US-Außenminister Antony Blinken hat Peking aufgefordert, im Umgang mit Evergrande „verantwortungsbewusst“ zu handeln, wahrscheinlich aufgrund von Berichten, wonach die chinesische Regierung bei einer Rettung inländischen Interessen Vorrang vor denen ausländischer Anleihegläubiger*innen einräumen würde. Wie wird sich das auf die sich entwickelnden Spannungen zwischen China und den USA auswirken?

VK: Das Evergrande-Problem ist nicht nur Chinas Problem. Sollte Evergrande tatsächlich einen Wendepunkt markieren, den Beginn einer allgemeinen Krise im chinesischen Immobiliensektor, wird dies weltweite Auswirkungen haben.

Blinken versucht, Druck auf das chinesische Regime auszuüben, um die Interessen der Hedge-Fonds und Wall-Street-Spekulant*innen zu wahren, die diese Schrottanleihen gekauft haben. Übrigens kaufen westliche Banken wie die britische HSBC und die schweizerische UBS diese Anleihen immer noch, obwohl sie wertlos sind, weil sie damit rechnen, dass sie sich noch auszahlen könnten. Ich denke, das chinesische Regime wird sich damit nicht lange aufhalten. Seine Priorität ist es, Unruhen im Inland zu verhindern.

Aber das ist ein Problem für die USA. Es ist interessant, dass einige internationale pro-kapitalistische Analyst*innen einen gewissen Sinneswandel vollzogen haben. Seit dem Beginn des derzeitigen Kalten Krieges lag der Schwerpunkt auf „China wird zu mächtig“, „China ist eine Bedrohung, weil es so stark ist“. Jetzt gibt es immer mehr Artikel, in denen argumentiert wird, dass „China vielleicht schwächer ist als wir dachten“. China könnte eine Bedrohung sein, nicht weil es „die USA überholt“, sondern weil seine Wirtschaft in eine schwere Krise gerät. Das wird sich auf den gesamten globalen Kapitalismus auswirken.

Seit der großen Rezession von 2008 ist China für etwa 28 % des weltweiten Wachstums verantwortlich. Jeder weiß, dass Kohle aus Australien, Eisen aus Brasilien und Rohstoffe aus Afrika und Lateinamerika zu hohen Preisen auf den chinesischen Markt gesaugt wurden, weil Unternehmen wie Evergrande all diese Häuser bauten. Chinas Anteil an den weltweiten Baubeginnen liegt derzeit bei 32 %.

Im Jahr 2020 erklärten Kenneth Rogoff von der Universität Harvard und Yang Yuanchen von der Tsinghua-Universität, dass „ein 20-prozentiger Rückgang der Immobilienaktivität zu einem Rückgang des BIP um 5 bis 10 Prozent führen könnte, selbst ohne die Verstärkung durch eine Bankenkrise oder die Berücksichtigung der Bedeutung von Immobilien als Sicherheiten.“ Das von ihnen skizzierte Szenario ist nicht abwegig. Im August dieses Jahres sanken die Immobilienverkäufe um 20 % im Vergleich zum Vorjahr. Im September waren es 30 %. Wenn dieser Markt weiterhin in dieser Weise zusammenbricht, wird dies nicht nur für China, sondern für die gesamte Weltwirtschaft zu ernsten Problemen führen, nicht zuletzt wegen der Angst vor einem starken Rückgang der Metallpreise.

Die USA haben sich auf einen langen Kalten Krieg eingestellt, weil sie davon ausgehen, dass China ihre Vormachtstellung bedroht. Aber sie könnten mit einem anderen Szenario konfrontiert werden, in dem es darum geht, den Schaden durch ein China, das sich in einer tiefen Krise befindet, zu begrenzen.

ISA: Wie würden Sozialist*innen mit dieser Situation umgehen?

VK: Wie würde eine echte sozialistische Politik aussehen? Die KPCh ist keine sozialistische Partei, sondern eine kapitalistische, autoritäre Partei von Milliardär*innen wie Xu Jiayin und übrigens auch Xi Jinping und seiner Familie, die ebenfalls extrem reich sind. Würden sie eine sozialistische Politik umsetzen, würden sie ihren eigenen Sturz herbeiführen.

Sozialistische Politik würde die Verstaatlichung der Immobilienunternehmen in China bedeuten – einige sind bereits in Staatsbesitz, andere wie Evergrande sind privat. Aber Verstaatlichung braucht demokratische Planung durch die Belegschaft, durch Vertreter*innen der Bewohner*innen und durch Gewerkschaften, die es in China nicht gibt. Öffentliches Eigentum und demokratische Planung sind der Schlüssel.

Wenn ein Fünftel der städtischen Wohnungen leer steht, würde eine Arbeiter*innen-Regierung sie konfiszieren und nur in den seltenen Fällen eine Entschädigung zahlen, in denen eine Einzelperson nachweislich in eine echte finanzielle Notlage gerät. Dies würde bedeuten, dass Millionen von Wohnungen sofort für den sozialen Bereich zur Verfügung stünden, die zu niedrigen Mieten vermietet und nicht verkauft würden, und dass der Wohnungsmarkt vollständig auf Sozial- und Mietwohnungen umgestellt würde, weg vom exklusiven und teuren Markt der Eigentumswohnungen.

Natürlich ist der Immobiliensektor ein wichtiger Teil der chinesischen Wirtschaft, aber es wäre nicht möglich, ihn isoliert zu planen. Er würde die sozialistische Umgestaltung der gesamten Wirtschaft, einschließlich des Finanzsystems, erfordern. Auf diese Weise können alle Schulden gestrichen und die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse der einfachen Menschen eingesetzt werden.

Eine wichtige Maßnahme wäre die Abschaffung des Hukou-Systems. Wenn es morgen abgeschafft würde, hätten die lokalen Regierungen in China nicht die soziale Infrastruktur, um damit fertig zu werden. Die Mehrheit der Arbeiter*innen in den Großstädten hat ein Hukou auf dem Land. Da sie keine eigenen Häuser besitzen, leben oft zwei oder drei Familien in armseligen, engen Räumen. Die Stadtverwaltungen verfügen nicht über die Mittel, um die notwendige medizinische Versorgung, das Arbeitslosengeld und die Renten zu gewährleisten. Um das Hukou-System abzuschaffen, ist also eine vollständige, revolutionäre Umgestaltung des gesamten staatlichen Finanzsystems erforderlich.

All diese Fragen sind miteinander verknüpft. Es gibt keine Gewerkschaften in China, wie also könnten Planungsverfahren entwickelt werden, mit denen all die Probleme, die jetzt entstanden sind, vermieden werden? Der einzige Weg dazu ist, alle wirtschaftlichen Entscheidungen unter die demokratische Kontrolle der Arbeiter*innenklasse zu stellen, und das bedeutet Selbstorganisation der Arbeiter*innen in demokratischen Parteien, Arbeiter*innenorganisationen und vor allem in den Gewerkschaften. All dies erfordert einen revolutionären Kampf, d.h. ein revolutionäres Programm, für volle und sofortige demokratische Rechte und den Sturz der Diktatur.

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Bild: Windmemories, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons