In den letzten Jahren gibt es auf der Linken immer wieder Debatten über die Haltung zur Prostitution. Viele Aktivist*innen lehnen schon den Begriff ab und wollen vor allem für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen von „Sexarbeiter*innen“ eintreten. Andere fordern eine Kriminalisierung der Kund*innen, wie beim „Nordischen Modell“. Ist es möglich, sowohl die Beschäftigten in diesem Sektor zu erreichen und zu verteidigen als auch den Sektor an sich in Frage zu stellen?
Von Conny Dahmen, Köln
Weltweit sind rund 40-42 Millionen Menschen in der Prostitution tätig. Eine Studie der Fondation Scelles aus dem Jahr 2012 schätzt, dass Prostitution weltweit das drittlukrativste Schwarzmarktgeschäft mit einem Wert von rund 187 Milliarden Dollar ist. Für Deutschland sind genaue Zahlen nicht erfasst, aber laut Statistischem Bundesamt erwirtschaften mindestens 400.000 Prostituierte 7 Milliarden Euro Bruttogewinn jährlich. Davon ist nur jede zehnte offiziell angemeldet, über 80% haben eine ausländische Staatsbürgerschaft. Die meisten Prostituierten sind weiblich.
Die Herrschenden gehen weltweit unterschiedlich damit um, die Maßnahmen reichen von der vollständigen Kriminalisierung hin zur Integration in den normalen Markt. Das ging in Deutschland sogar soweit, dass in einigen Fällen erwerbslosen Frauen vom Jobcenter das Arbeitslosengeld 2 gekürzt wurde, weil sie sich weigerten, Jobs in Rotlicht-Bars oder Strip-Clubs anzunehmen. Wegen des öffentlichen Drucks kommt das zur Zeit nicht vor, wäre allerdings die logische Konsequenz aus der Idee, Prostitution als „Job wie jeder andere“ zu betrachten.
Ein Job wie jeder andere?
Im kapitalistischen Wirtschaftssystem müssen alle abhängig beschäftigten Menschen ihren Körper in irgendeiner Weise einsetzen, um für Unternehmen mit ihrer Arbeitskraft Waren zu produzieren und Dienstleistungen anzubieten. In vielen Branchen ruinieren die Beschäftigten ihren Körper und ihre Gesundheit auf Dauer für die Profite ihrer Chefs.
Unter den besonders schlechten Arbeitsbedingungen dieser Branche geschieht das allerdings in einer extremeren Art und Weise, mit enormen Folgen für die physische und psychische Gesundheit. Beschäftigte in der Prostitution verkaufen nicht nur ihre Zeit an den Arbeitgeber, sondern ihren gesamten Körper. Sie sind dem Kunden ausgeliefert. Die Prostitution verwischt die Grenzen zwischen dem Professionellen und dem Intimen. Intimität wird kommerzialisiert, Frauen werden zur Ware, zum Objekt.
Geld ersetzt die Einvernehmlichkeit beim Sex. Anders als bei „normaler“ Ausbeutung wird bei sexueller Ausbeutung über die Beschäftigten ein sexistisches Weltbild bedient, in dem Frauen, Kinder und manchmal auch – fast ausschließlich junge – Männer die Rolle von uneingeschränkt für Männer – den traditionellen „Ernährern“ – verfügbaren Sexobjekten spielen. Das hält die gesellschaftliche Spaltung zwischen Frauen und Männern aufrecht. Wenn eine*r der beiden Partner*innen den anderen regelmäßig zur Ware macht, wie kann es da einen Zusammenhalt geben?
Freie Entscheidung?
Dennoch existiert weiterhin die Vorstellung, dass Prostituierte sich frei für diesen Beruf entschieden haben, dass es für viele sogar eine Art „Empowerment“ sei. Es wird das Bild der freien, selbstbestimmten Sexarbeiterin gezeichnet, die gut verdient und Spaß an der Arbeit hat.
Bereits die Statistiken zum Einstieg in die Prostitution lassen Zweifel an dieser „Freiheit“ und der Selbstermächtigung aufkommen. Weltweit sind 73% der Prostituierten als Kinder körperlich misshandelt worden, 32,4% wurden sexuell und 86,8% emotional missbraucht. Das Einstiegsalter in die Prostitution liegt zwischen 11 und 14 Jahren. Das bedeutet nicht, dass alle Prostituierten ihre Tätigkeit aufgrund eines persönlichen Traumas ausüben. Aber solche Traumata verändern die Selbstwahrnehmung eines Menschen, seines Selbstwertes, seiner Grenzen oft erheblich, und kann die „Entscheidung“ zur Prostitution begünstigen.
Dass die überwiegende Mehrheit der Prostituierten aus wirtschaftlicher Not in dem Job landet, ist unumstritten. Sextourismus ist in einigen neokolonialen Ländern ein fundamentaler Bestandteil der Wirtschaft. Die Auswirkungen der Pandemie haben Millionen Menschen in die Armut gedrängt und oftmals auch in die Prostitution. Gleichzeitig verschlimmert die Covid-Pandemie das ohnehin schon prekäre Leben eines Großteils der Prostituierten.
Jugendliche haben in dieser Situation, nach dem Verlust typischer Studentenjobs in der Gastro oder im Taxigeschäft, verstärkt angefangen, Fotos oder Videos von sich in sozialen Netzwerken wie Only Fans zu verkaufen, also auch den Weg sexueller (Selbst-)Ausbeutung gewählt.
Trotz ihrer Legalisierung in Deutschland 2002 bleibt Prostitution ein ideales Betätigungsfeld für die organisierte Kriminalität. Ausländergesetze und ein extrem eingeschränktes Asylrecht ermöglichen einen lukrativen Menschenhandel. Meist weibliche Migrant*innen werden mit ihrem illegalen Status erpresst oder mit dem Versprechen auf ganz andere, attraktive Arbeitsverhältnisse getäuscht.
Das Bild der selbstbestimmten, freien Sexarbeiterin trifft nur auf eine verschwindend geringe Minderheit der Beschäftigten in der Prostitution zu. Die übergroße Mehrheit wird in diese Tätigkeit gezwungen, lebt prekär, unsicher und teils ohne Papiere.
Prostitution als Notwendigkeit?
Immer noch hält sich hartnäckig das Bild des Mannes als eine Art Raubtier, dessen Triebe befriedigt werden müssen, da es sonst übergriffig und gewalttätig (gegenüber Frauen) würde. Daraus entsteht die besonders problematische Idee, Prostitution sei gesellschaftlich notwendig, oder sogar ein Hilfsangebot.
Im wachsenden Sektor der Sexualtherapie für Menschen mit Handicap verstehen sich die Beschäftigten nicht als Prostituierte. Aber auch hier kommen Macht- und Ausbeutungsverhältnis zum Tragen: Eine Minderheit von Frauen soll ihre Körper zur Verfügung stellen, um die Wünsche einiger (Männer) zu befriedigen, während es insgesamt an notwendigen Therapien und Betreuung für Menschen mit körperlicher, geistiger oder psychischer Behinderung mangelt. Stattdessen muss die Gesellschaft Angebote machen, um Menschen mit Behinderungen oder Einschränkungen die Entwicklung eines echten sozialen und damit emotionalen Lebens zu ermöglichen – und damit auch die Möglichkeit einvernehmlicher sexueller Kontakte. Aber selbst, wenn diese nicht zustande kommen: Kein Mann, und niemand, hat ein Recht auf Sex!
Kriminalisierung oder Legalisierung?
Wir sind gegen die Kriminalisierung derjenigen, die von der Prostitution leben und unterstützen alle Verbesserungen ihrer Situation. Gleichzeitig treten wir für sichere Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle Menschen ein, damit niemand in zeitweilige oder dauerhafte sexuelle Abhängigkeiten gezwungen wird. Das beinhaltet auch Hilfe für drogenabhängige Menschen, solche mit psychischen Problemen oder in anderen Notlagen, sowie staatlich finanzierte Umschulungs- und Ausstiegsprogramme. Wir treten für ein Bleiberecht für Alle ein, damit niemand ohne legalen Aufenthaltsstatus zur Prostitution erpresst werden kann.
Dies muss verbunden sein mit einer gewerkschaftlichen Kampagne gegen Zwangsprostitution, Zuhälter*innen und zur Ächtung von Freiertum. Die gesetztliche Bestrafung von Freiern hat in den skandinavischen Ländern im Gegensatz zur Legalisierung in Deutschland zu einem Rückgang der Prostitution geführt. Würden sich allerdings die Organisationen der Arbeiter*innenklasse entschlossen gegen alle Formen sexueller Ausbeutung und die Sexindustrie einsetzen und über die negativen gesellschaftlichen und individuellen Folgen aufklären, hätten dies weitaus größere Auswirkungen auf das gesellschaftliche Bewusstsein als bürgerliche Gesetze.
Gemeinsam kämpfen
Die Prostitution ist untrennbar mit der Unterdrückung der Frau verbunden und hat sich mit der Entstehung der Klassengesellschaft entwickelt – sozusagen als Ergänzung und Gegenstück zur (Erhaltung der) monogamen Ehe, als Spielwiese für Männer, während die Frauen Haus und Herd hüten. In dieser kapitalistischen Gesellschaft, die Diskriminierung aller Art zum Überleben braucht, werden sexistische Vorurteile und Verhaltensweisen nicht verschwinden, solange die Prostitution sie fördert. Der Kampf gegen Prostitution, Diskriminierung und Unterdrückung kann am Ende nur erfolgreich sein, wenn wir ihn auch für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine sozialistische Gesellschaft mit gleichen Rechten für alle führen.