Diesen Winter wird es in Seattle zum ersten Mal in der Geschichte der nordamerikanischen Metropole zu einer Wahl im Dezember kommen. Das Referendum ist von den Konzernen und der politischen Rechten initiiert worden und dreht sich um die Frage, ob Kshama Sawant, Seattles einzige sozialistische Stadträtin, abberufen werden soll. Damit gehen alle Anstrengungen, die ihre Gegner*innen seit einem Jahr gegen sie unternommen haben, in die entscheidende Phase.
Von Greyson Van Arsdale, Socialist Alternative (Schwesterorganisation der SAV und Sektion der ISA in den USA)
Dieser Termin ist ein übler Schritt gegen die Wahlberechtigten, da er genau zwischen zwei wichtigen US-amerikanischen Feiertagen liegt. Viele arbeitende Menschen könnten gar nicht darüber informiert sein, dass sie an einer Wahl teilnehmen können. Der Versuch Kshama Sawant abzusetzen, ist ein rassistischer, rechtsgerichteter und undemokratischer Angriff, mit dem Ziel eine der erfolgreichsten Kämpfer*innen für die Belange der arbeitenden Menschen in den USA auszuschalten.
Kshama wird vorgeworfen an friedlichen „Black Lives Matter“-Protesten teilgenommen zu haben. Außerdem hat sie ihr Stadtratsbüro benutzt, um eine erfolgreiche Bewegung zur Einführung einer Sondersteuer für Amazon und andere Großunternehmen aufzubauen. Mit den Einnahmen aus dieser Steuer soll bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden und ein nachhaltiges Investitionsprogramm aufgelegt werden.
Für die sozialistische und die „Black Lives Matter“-Bewegung ist das ein entscheidender Moment.
Schon drei Jahre vor der großen Wahlkampagne von Bernie Sanders (2016) hat Kshama Sawant als erste gewählte Sozialistin in Seattle seit einhundert Jahren die Richtung vorgegeben. Ihr Stadtratsbüro hat Bewegungen und Initiativen zum Erfolg geführt, die für Sozialist*innen und progressive Kräfte im ganzen Land maßgebend sind. Dazu zählen die Anhebung des Mindestlohns, der zuerst in Seattle auf 15 Dollar erhöht worden ist, die Amazon-Steuer und immense Erfolge für Mieter*innen, die die Immobilien-Lobby von Seattle in Rage gebracht haben.
Obwohl sie Rekordsummen aus ihren Unternehmensvermögen dafür eingesetzt haben, sind Amazon und die Großkonzerne 2019 mit ihrem Versuch gescheitert, den Stadtratssitz von Kshama einfach zu kaufen. Und nun treten Sozialist*innen erneut direkt gegen die reichen Unternehmen in Seattle an, um die Absetzungskampagne abzuwehren und die von unseren Bewegungen errungenen Erfolge zu verteidigen. Bei diesem Urnengang, bei dem es sich um die wohl wichtigste kommunale Abstimmung des Jahres 2021 handelt, sind die größten Anstrengungen nötig, um weiter erfolgreich zu bleiben.
Das „liberale Seattle“ unter der Fuchtel von Republikaner*innen, die die Wählerschaft linken wollen
Obwohl die Stadt Seattle mit einem fortschrittlichen Image prahlt, hat die Absetzungskampagne gegen Kshama die hiesigen „Republikaner*innen“ aus ihren Löchern kommen lassen. Sowas hat es bislang nicht gegeben. Die Kampagne gegen Kshama hat Spenden von mehr als 500 wohlhabenden Republikaner*innen bekommen, darunter auch 130 Personen, die schon Trump finanziell unterstützt haben. Grundbesitzer George Petrie, der Spender, der im ganzen Staat Washington am meisten an Trump gespendet hat, gehört dazu. Aber auch bekanntere Feinde von uns sind durch die Anti-Kshama-Absetzungskampagne wieder auf den Plan getreten: So zum Beispiel die Vorstandsmitglieder von Amazon, die 2019 den Kontrahenten von Kshama bei den Kommunalwahlen finanziell unterstützt haben. Sie hatten nur deshalb keinen Erfolg, weil es eine historisch hohe Wahlbeteiligung unter den arbeitenden Menschen gab. Das kam Kshama zu Gute. Bisher haben drei Top-Vorstandsmitglieder von Amazon (John Schoettler, Morgan Battrell und Doug Herrington) Geld für die Absetzungskampagne gegen Kshama gespendet.
Der rechtslastige und undemokratische Charakter der Absetzungskampagne tritt offen zu Tage, wenn man sich anschaut, wie diese Menschen die Wahlbeteiligung drücken wollen, um Kshama aus dem Amt zu bekommen. Mit dem Ziel, die historisch hohe Wahlbeteiligung der arbeitenden Menschen, der Mieter*innen und der People of Colour, wie auch der ganzen jungen Leute auszuhebeln, die Kshama drei aufeinander folgende Wahlsiege beschert haben, ist man bei diesem Absetzungsverfahren so vorgegangen, dass man Unterschriften für die Petition gesammelt, diese aber nicht bei der Bezirksbehörde eingereicht hat. Man wartete so lange, bis es zu spät war, um wie die anderen Wahl behandelt zu werden. So kam es, dass die Absetzungskampagne eben nicht mehr Teil der allgemeinen Wahlen werden konnte. Dieses Timing hat der Bezirksbehörde keine andere Möglichkeit gelassen, als einen noch nie dagewesenen und undemokratischen Abstimmungstermin für den 7. Dezember, zwischen Thanksgiving und den Weihnachtsferien, festzulegen.
Die arbeitenden Menschen von Seattle leiden viel zu lange schon unter immens steigenden Mieten und Lebenshaltungskosten, die sie zu Überstunden und häufig sogar zu mehreren Jobs zwingen. Viele sind aufgrund ihres anstrengenden Alltags nicht immer exakt darüber informiert, wann welche Abstimmung ansteht. Das wird zwischen Thanksgiving und Weihnachten, nachdem die regulären Wahlen vom November gerade erst einige Wochen zurückliegen, noch weit schlimmer sein. Die Initiator*innen der Absetzungskampagne haben sich ganz bewusst für diesen Zeitraum entschieden. Sie wollen eine Abstimmung, bei der die Reichsten, Hellhäutigsten und Konservativsten aus Kshamas Wahlbezirk gegen die Mehrheit entscheiden, die weniger als ein Jahr vor dem Beginn der Absetzungsinitiative, Kshama bereits zum dritten Mal wiedergewählt haben.
Dass die Macher*innen der Absetzungskampagne das Ziel verfolgen, die Wahlbeteiligung gering zu halten, stinkt zehn Meilen gegen den Wind. Zwischen einer üblichen allgemeinen Wahl im November und einer regulären Sonderabstimmung (die normalerweise im Februar durchgeführt wird), kann die Wahlbeteiligung um bis zu 50 Prozent sinken. Und die Wähler*innen, die sich an einer solchen Sonderabstimmung beteiligen, tendieren dazu, überproportional stark aus den wohlhabenderen und hellhäutigeren Teilen der Wahlberechtigten zu sein. Jetzt geht es nicht nur um eine Sonderabstimmung sondern um eine, die auch noch zwischen den besagten Ferienterminen stattfindet. Das hat es noch nie gegeben und droht, zu einem noch stärkeren Rückgang der Wahlbeteiligung als ansonsten üblich zu führen.
Vor diesem Hintergrund wird unsere Kampagne ausziehen, um für eine umso größere Wahlbeteiligung zu sorgen. Die Solidaritätskampagne „Kshama Solidarity Campaign“ hat einen einmaligen zu bezeichnenden „Get-Out-The-Vote“-Ansatz angekündigt, mit dem so viele arbeitende Menschen wie nur irgend möglich angesprochen werden sollen. Um zu gewinnen wird unsere Bewegung an hunderttausende Haustüren klopfen und sogar noch über das hinausgehen müssen, was wir im Zuge der Kampagne zur Wiederwahl von Kshama im Jahr 2019 geleistet haben.
Was wird ihr vorgeworfen?
Als die Anschuldigungen zuerst im August 2020 erhoben worden sind, war offensichtlich, dass es sich um einen Rachefeldzug gegen Kshama handelt, weil sie sich an die Seite der „Justice for George Floyd“-Bewegung gestellt hat. Nach Abschluss des juristischen Vorgangs sind von den ursprünglich sechs Anklagepunkten gegen Kshama noch drei übrig geblieben. Eine dieser Anschuldigungen der Absetzungskampagne gegen sie bezog sich auf die Proteste der „Black Lives Matter“-Bewegung, die als „Kriegsgebiet“ bezeichnet wurden. Darin wird argumentiert, dass Kshama „gescheitert (sei) […] „unsere Sicherheit und Fähigkeit zu gewährleisten, in Frieden zu leben“. Trotz der Tatsache, dass die am klarsten rassistisch motivierten Anschuldigungen abgewiesen worden sind, kommt in den übrig gebliebenen derselbe Ton zur Geltung: Die „Black Lives Matter“-Bewegung wird diffamiert und es wird versucht, den Aufbau der Bewegung als kriminelle Handlung darzustellen.
Erster Anklagepunkt
Vorwurf: „Kshama führte einen Marsch zum Haus von Bürgermeisterin Jenny Durkan an, deren Adresse geschützt ist.“
Die Faktenlage: Als Durkan’s police department wüsten Tränengas-Beschuss gegen Wohnviertel der Stadt Seattle und Protestteilnehmer*innen erlaubt, organisierten die Familien der Opfer von Polizeigewalt einen friedlichen Protest und baten Kshama dort eine Rede zu halten. Kshama sprach in Solidarität mit den Familien, kannte aber die Adresse von Durkan überhaupt nicht und hatte nichts mit der Festlegung der Demoroute zu tun.
Zweiter Anklagepunkt
Vorwurf: „Kshama setzte die öffentliche Sicherheit aufs Spiel, als sie den BLM-Protestler*innen die Rathaustüren geöffnet hat“.
Faktenlage: Kshama öffnete den Protestteilnehmer*innen das Rathaus, um eine öffentliche Versammlung mit Gesichtsmasken und unter Wahrung der Abstandsregeln zu ermöglichen, die weniger als eine Stunde dauerte. Die Demonstration war nicht nur friedlich und äußerst sorgsam, was die Corona-Regeln angeht, sondern ermöglichte darüber hinaus die Nutzung einer Fläche, auf der die Bewegung die nächsten Schritte nach vorn diskutieren konnte. Das führte unmittelbar zum Erfolg, dass Seattle als erste US-amerikanische Stadt den Einsatz von chemischen Waffen gegen Demonstrant*innen durch die Polizei verbot.
Dritter Anklagepunkt
Vorwurf: „Kshama hat öffentliche Gelder missbräuchlich im Sinne einer Referendum-Initiative („Besteuert Amazon!“) verwendet.“
Faktenlage: Kshama stand an der Spitze einer Bewegung für die Besteuerung von Amazon, die 2020 darin erfolgreich war, Millionen von Dollar für den Bau bezahlbarer Wohnungen und ein nachhaltiges Programm für einen „Grünen New Deal“ zu generieren. Im Januar 2020 hat das Büro von Kshama Materialien und Verpflegung für ein organisatorisches Treffen der „Tax Amazon“-Kampagne gekauft, an der Mitglieder der Community teilgenommen haben. Bei „Tax Amazon“ hat es sich nicht um eine Initiative für ein Referendum gehandelt, und die Bewegung hat erst Monate später entschieden, das Thema als Referendum einzubringen. Dennoch ist Kshama dem nachgekommen, als die „Seattle Ethics and Elections Commission“ (SEEC) entschieden hat, dass sie ein kleines Bußgeld deswegen bezahlen muss. Die Großkonzerne sind nicht böse wegen der von der SEEC verhängten Strafe sondern deshalb, weil Kshama den historischen Sieg der Amazon-Steuer angeführt hat.
Protestieren – egal, ob vor dem Haus der Bürgermeisterin oder im Rathaus – ist nicht illegal. Dasselbe gilt für die Benutzung von Ratsbüros, um Einwohner*innentreffen arbeitender Menschen zu organisieren und durchzuführen, damit am Ende Großkonzerne besteuert werden. Doch die Kräfte, die hinter dem Absetzungsverfahren stehen, wünschen sich eindeutig, dass all dies gesetzeswidrig wäre. Sie wollen eine der wenigen gewählten Vertreter*innen aus dem Amt haben, die sich in diesem Land als Vertreterin für die arbeitenden Menschen und die Unterdrückten zur Verfügung stellt.
Wofür das Absetzungsverfahren stellvertretend steht
Worum geht es in Wirklichkeit? Die Liste derer, die für die Kampagne zur Absetzung von Kshama Geld gespendet haben, sagt eigentlich schon alles. Sie liest sich wie das „who is who“ der großen Immobilieneigner*innen, Hedge Fonds-Manager*innen, Investor*innen, Grundbesitzer*innen, gewerkschaftsfeindlichen Unternehmer*innen und der Wohlhabenden. Fest steht, dass die drei reichsten, milliardenschweren Familiendynastien aus dem Bundesstaat Washington zu den Spender*innen für das Absetzungsverfahren gegen Kshama gehören. Im Grunde steht diese Kampagne für die ganze Wut der Reichen und Mächtigen auf Kshama, weil sie acht lange Jahre damit zugebracht hat, Bewegungen der Arbeiter*innenklasse aufzubauen und dabei weitreichende Erfolge erzielt hat.
Auch neben den Erfolgen um den 15-Dollar-Mindestlohn in Seattle und die Einführung der Amazon-Steuer kann das Büro von Kshama eine produktive Bilanz vorweisen. Wir haben es geschafft, für mieterfreundliche Gesetze zu sorgen, wir haben zahllose Streikposten besucht, um unsere Solidarität mit den streikenden Beschäftigten auszudrücken, waren darin erfolgreich, Mieter*innen und weitere Bewohner*innen gegen Zwangsräumungen zu organisieren und haben Dutzende Millionen von Dollar erstritten, mit denen nun soziale Dienste finanziert werden können. Geschafft haben wir das, indem wir jedes Jahr seit Kshamas erstmaliger Wahl zur Stadträtin den „Bürgerhaushalt“ organisiert haben.
Als einzige echte Marxistin im Land, die in ein politisches Amt gewählt worden ist, stellt Kshama eine wahre Bedrohung für die übliche konzernfreundliche Politik dar. Das Gleiche gilt für die herrschende Klasse, die ihre Anwesenheit einfach nicht erträgt.
Sie haben so verzweifelt versucht, Kshama loszuwerden, dass die großen Konzerne zusammengenommen vier Millionen Dollar aufgebracht haben, um sie und andere progressive Kandidat*inen bei den Kommunalwahlen 2019 in Seattle zu schlagen. Dazu zählen auch die 1,4 Millionen Dollar, die allein der Amazon-Konzern dazu beigetragen hat. Der Großteil dieser Gelder ist in den Wahlkampf des konzernfreundlichen Kontrahenten von Kshama geflossen. Doch die arbeitenden Menschen haben sich gewehrt und sich so organisiert, dass am Ende eine historisch hohe Wahlbeteiligung dabei herausgekommen ist. So wurde Kshama zum dritten Mal in Folge wiedergewählt. Diese überwältigende Niederlage für Amazon und die Großkonzerne sorgte für den nötigen Aufwind, um in weniger als einem Jahr danach schon die Amazon-Steuer durchsetzen zu können.
Die Geschichte hat zahllose Male gezeigt, dass die Großkonzerne – wenn sie eine entscheidende Schlacht selbst unter den ihnen genehmen Bedingungen verloren haben – versuchen, diese Bedingungen auf Biegen und Brechen zu überwinden. Anstatt es Kshama zu erlauben, vier Jahre so zu arbeiten, wie die arbeitenden Menschen von Seattle, die ihr ihre Stimme gegeben haben, es möchten, haben sie ein Absetzungsverfahren aus dem Hut gezaubert, um die Wahl, die sie nicht kaufen konnten, doch noch rückgängig zu machen. Dies soll nun durch die undemokratischste Abstimmung erfolgen, die sie zu manipulieren in der Lage sind.
Dieses Absetzungsverfahren erinnert ganz klar an die Geschichte von Anna Louise Strong, der letzten unabhängigen gewählten Sozialistin in Seattle. Sie war eine Aktivistin und Journalist, die 1916 einen Sitz im „School Board“ (Schulaufsicht) der Stadt bekam. Als die herrschende Klasse begann, nationalistische Gefühle zu schüren, um den Einstieg in den Ersten Weltkrieg vorzubereiten, musste Strong sich gegen ein rechtsgerichtetes Absetzungsverfahren gegen sie zur Wehr setzen. Dieses galt ihrer Haltung gegen den Krieg und für Arbeitnehmer*innenrechte. Am Ende unterlag sie und musste ihr Amt abtreten. Die Welle anti-sozialistischer Angriffe, die zu Strongs Amtsenthebung führte, sollte in den 1950er Jahren in Gestalt der „McCarthy-Ära“ erneut einsetzen. Heute, da Sozialist*innen in immer größerer Zahl in Ämter gewählt werden, müssen wir davon ausgehen, dass es zu einem Neubeginn der „Kommunistenjagd“ und der Methoden aus der „McCarthy-Zeit“ kommen wird.
Nichtsdestotrotz sendet dieses Absetzungsverfahren ein wichtiges Signal in die Welt, weil es den Angriff auf Kshama mit der „Black Lives Matter“-Bewegung verknüpft. Bei den Protesten unter dem Banner „Justice for George Floyd“ hat es sich um die größte Protestbewegung in der Geschichte der Vereinigten Staaten gehandelt. Es war eine mächtige Demonstration der Wut der Massen über die rassistische Polizeigewalt. Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte haben Großstädte Kürzungen für ihre Polizeibehörden beschlossen anstatt sie noch stärker zu unterstützen und mit noch mehr militärischen Waffen auszustatten (der Vollständigkeit halber muss ergänzt werden, dass viele dieser Kürzungen seitdem wieder zurückgenommen worden sind).
Zusammen mit der „Black Lives Matter“-Bewegung zu protestieren ist keine Straftat. Aber wenn das Absetzungsverfahren gegen Kshama mit dieser Anschuldigung durchkommen sollte, dann kann das das Einfallstor für die politische Rechte sein, um weiter gegen Protestbewegungen vorzugehen. Damit wäre der Präzedenzfall geschaffen, um gegen andere Sozialist*innen in gewählten Funktionen vorzugehen, die ihrerseits an der BLM-Bewegung teilgenommen haben. Die Sichtweise der Rechten, wonach Proteste von „Black Lives Matter“ mit „Krawall“ gleichzusetzen sind, wäre somit voll und ganz entsprochen.
Das System trägt das Absetzungsverfahren
Die ganze Rhetorik der Absetzungskampagne hat akribisch wiederholt, dass „niemand über dem Gesetz“ steht. Dabei konnte man bislang kein einziges Gesetz benennen, gegen das Kshama verstoßen haben soll. Im gleichen Atemzug, wie sie bekräftigen, dem „Rechtsstaat“ anzuhängen, untergräbt das von ihnen angestrengte Absetzungsverfahren gegen Kshama sehr bewusst die grundlegendsten demokratischen Rechte der Wahlberechtigten von Seattle. Auf der einen Seite tut man so, als sei man dafür, dass Gesetze für alle gleich gelten. Auf der anderen Seite versucht man vollkommen ohne Scham, die Anzahl der Wähler*innen an der Abstimmung über das Absetzungsverfahren klein zu halten.
Diese Art von Heuchelei ist typisch für die politische Rechte. Doch bei jeder neuen Entwicklung sind die angeblich so unparteiischen Institutionen der kapitalistischen Demokratie dabei, um diese Heuchelei aufrecht zu erhalten und sogar noch zu befördern. Tatsächlich besteht der einzige Grund dafür, weshalb es der Absetzungskampagne gegen Kshama möglich war, diesen nie dagewesenen Dezember-Wahltermin zu bekommen, darin, dass der Oberste Gerichtshof des Bundesstaats Washington sein Urteil zu diesem Verfahren mit Verspätung gefällt hat. Erst drei ganze Monate nach dem offiziell festgelegten Termin für das Urteil kam man mit der Entscheidung um die Ecke. Die Anschuldigungen gegen Kshama wurden bestätigt, obwohl sie nicht nur falsch sondern sehr einfach zu widerlegen sind.
Erst wenige Monate vorher hatte dasselbe Gericht den Antrag für eine Absetzungskampagne zurückgewiesen, der sich gegen die Bürgermeisterin von Seattle, Jenny Durkan, gerichtet hat. Sie sollte des Amtes enthoben werden, weil sie dem breiten Einsatz von Tränengas durch die Polizei gegen friedliche Demonstrationsteilnehmer*innen îm Zuge der Solidaritätskampagne für George Floyd zugestimmt hatte. Dass Durkan den Einsatz von Chemikalien in Waffen gegen Proteste und während einer Pandemie, die die Atemwege betraf, zugelassen hat, wurde in der Öffentlichkeit als derart gefühllos aufgenommen, dass sie bald schon den Beinamen „Teargas Jenny“ bekam. Doch der „Supreme Court“ des Bundesstaats Washington wies die Anklage sehr kurzsilbig ab. Auch gegen John Snaza, den Bezirks-Sheriff von Thurston, der es abgelehnt hatte, die Maskenpflicht für seine Einsatzkräfte aufrecht zu erhalten, ist ein Absetzbungsverfahren angestrengt worden, das die Gerichte ebenfalls in Bausch und Bogen abgewiesen haben.
Diese schwerwiegenden Ungerechtigkeiten sind vor dem Hintergrund einer langen Geschichte des Rechtssystems im Kapitalismus zu sehen, das gegen die „einfachen Leute“ arbeitet. Die Gerichte haben in großem Maße darin versagt, den Opfern von Polizeigewalt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Auf Video festgehaltene gewalttätige Polizeikräfte werden von ihr regelmäßig laufen gelassen. Vor zwei Monaten erst hat keine geringere Instanz als der „Supreme Court“ (Oberster Gerichtshof der USA) ein Gesetz in Texas ignoriert, mit dem Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche nun verboten sind. Vor diesem Zeitpunkt wissen die meisten Betroffenen gar nicht, dass sie überhaupt schwanger sind. Damit hat man es zugleich abgelehnt, eine Grundsatzentscheidung des „Supreme Court“ von 1973 aufrechtzuerhalten (damals wurde Abtreibung als Recht der Privatsphäre definiert; Anm. d. Übers.).
Aus diesem Grund haben es Bewegungen, die sich für Gerechtigkeit eingesetzt haben, in der Geschichte immer wieder als notwendig betrachtet, ungerechte Gesetze zu brechen. Auf diese Weise wollte man echte Veränderungen durchsetzen. In der Zeit der Bürgerrechtsbewegung war es illegal, sich der Rassentrennung zu widersetzen. Dass Rosa Parks es 1955 gewagt hatte, ihren Sitzplatz im Bus nicht für eine hellhäutige Person freizumachen, war eine illegale Handlung, die den historischen Bus-Boykott in der Stadt Montgomery auslöste. Dieser ebnete den Weg für den letztlichen Sieg über die Rassentrennung. Gerade im Kontext der aktuellen Absetzungskampagne, die ganz klar als Angriff auf die „Black Lives Matter“-Bewegung zu verstehen ist, um diese zu verunglimpfen, scheint sich abermals zu wiederholen, dass die größten Errungenschaften auf unerbittlichen Widerstand und – wenn nötig – auf den Bruch ungerechter Gesetze zurückzuführen sind. Kshama hat kein Gesetz gebrochen. Aber ganz, wie es sich für Sozialist*ìnnen gehört, ist sie immer bereit gewesen, sich für den Kampf der arbeitenden Menschen einzusetzen.
Doch die Absetzungskampagne zeigt, wie die Gerichte im Kapitalismus sich mit Händen und Füßen dagegen wehren werden (und in diesem Prozess jeden Schein von Neutralität aufgeben), um sozialistische Vorkämpfer*innen zu bezwingen, die eine Gefahr für ihr System darstellen.
Alle Augen auf Seattle!
Sollte die Absetzungskampagne Erfolg haben, dann wäre damit ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen: In Zukunft würden Großkonzerne, die es nicht hinbekommen, gewählte Sozialist*innen mit ihren üblichen Methoden (wie z.B. immense finanzielle Unterstützung der Wahlgegner*innen) zu verhindern, auf weitergehende Mittel zurückgreifen. In diesem Sinn ist die Absetzungskampagne gegen Kshama auch ein Testlauf: Wird sie auf der Basis von rassistischen und fadenscheinigen Anschuldigungen aus dem Stadtrat gedrängt, indem die Wahlbeteiligung der arbeitenden Menschen bewusst niedrig gehalten wird, dann wird das die Grundlage für zukünftige Attacken auf andere gewählte Sozialist*innen, das potentielle Zurückdrehen unserer Erfolge in Seattle und breit angelegte Angriffe auf „Black Lives Matter“ sowie die US-weite Linke sein.
Während diese beispiellose Wahl eine ernste Herausforderung darstellt (und faktisch für die heftigste Auseinandersetzung steht, in die unsere Bewegung in Seattle bis dato hineingezogen worden ist), so zeigt unsere bisherige Bilanz, dass man uns besser nicht unterschätzen sollte. Wenn wir diese gegen uns gerichtete Absetzungskampagne abwehren und Kshama Sawant, eine bahnbrechende Sozialistin und aufrichtige Vorkämpferin aus der Bewegung heraus, verteidigen können, dann zeigen wir nicht nur ein weiteres Mal, dass Amazon und die Immobilien-Riesen doch nicht zu groß zum Besiegen sind. Dann wird auch klar, dass wir es schaffen können, zum ersten Mal in Seattle auch die Kontrolle über die Entwicklung der Mieten zu erlangen.
Es steht viel auf dem Spiel, und es ist nicht damit getan uns nur zu verteidigen – denn wir haben eine ganze Welt zu erkämpfen.
Link zur Kshama-Solidaritäts-Kampagne: https://www.kshamasolidarity.org/
Bild: Seattle City Council from Seattle, CC BY 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by/2.0, via Wikimedia Commons