von Verena Saalmann, Müllheim
Vor 60 Jahren wurde das Beruhigungsmittel Contergan vom Markt genommen. Zu diesem Zeitpunkt bestand bereits seit Jahren der Verdacht, das Medikament könnte schwere Nebenwirkungen haben. Neben dauerhaften Nervenschäden und zahlreichen anderen Nebenwirkungen störte das aggressiv vermarktete Präparat die Entwicklung bei Embryonen in der Frühschwangerschaft. Die Babys wurden mit Missbildungen, fehlenden Armen oder Beinen, fehlenden Organen oder gar nicht lebensfähig geboren. Die Entscheidung, den Verkauf einzustellen, kam für viele Opfer um Jahre zu spät. Im anschließenden Prozess drohte die Verjährung und die Verursacher kommen mit geringen Entschädigungszahlungen davon.
Thalidomid – ein Wunder der Zeit
Der Wirkstoff Thalidomid war ein Zufallsfund der Forschungsabteilung des deutschen Pharmaunternehmens Grünenthal GmbH. Nach der Entdeckung suchten die Wissenschaftler*innen nach ein Einsatzgebiet.
Versuchsreihen an Nagetieren blieben erfolglos. Erst bei Tests an Menschen wurde festgestellt, dass der Wirkstoff beruhigende bis sedierende Wirkung hatte. In den 1950er Jahren gab es noch kein Arztneimittelzulassungsgesetz. Die Firmen testeten ihre Medikamente eigenverantwortlich und beurteilten ihre Sicherheit selbst. Einige kurze Versuchsreihen ergaben keine Nebenwirkungenund es wurde festgestellt, dass durch Überdosierung kein Suizid möglich war. Klinische Studien an Schwangeren fanden nicht statt, auch an schwangeren Tieren wurde das Medikament nie getestet, obwohl die Möglichkeit bestand und bekannt war.
Allerdings verabreichte ein Grünthal Mitarbeiter seiner schwangeren Frau bereits im Frühjahr 1956 ein Muster des noch nicht zugelassenen Präparats. Im Dezember kam das Kind mit Missbildungen zur Welt. Die Geburt des ersten “Contergan-Kindes” führte nicht zu Nachfragen.
Grünenthal stellt einen Zulassungsantrag für das neue Medikament – in der BRD mit Erfolg. Contergan und Contergan forte kamen 1957, nur zweieinhalb Jahre nach der Entdeckung des Wirkstoffs, auf den Markt. In der DDR wurde Contergan nicht zugelassen, da es als unnötig betrachtet wurde, weil es bereits andere, erprobte Beruhigungsmittel gab. In den USA wurde es nicht zugelassen, da der zuständigen Sachbearbeiterin die Versuche Grünenthals nicht ausreichten.
Ein Verkaufsschlager wird geschaffen
Das neue Mittel wurde aggressiv beworben, unter Anderem gegen Nervosität, Beschwerden in den Wechseljahren, verstärkte sexuelle Erregbarkeit der Frau, Schlafstörungen und Angst.
Damit lag Grünenthal voll im Trend. In den 1950er und 60er Jahren kamen zahlreiche neue Beruhigungsmittel, z.B. auch Valium und Rohypnol, auf den Markt. Diese Drogen, die bald auch “mother’s little helpers”, also “Muttis Helferlein” hießen, wurden zur Bekämpfung von Stress, Unzufriedenheit und Zukunftsangst vermarktet. Es ist kein Wunder, dass Frauen, die unter den repressiven Rollenbildern der Zeit litten oder gar wagten, gegen sie aufzumucken, eine wichtige Zielgruppe wurden: Warum sollte man sich mit den Beschwerden von Frauen oder gar ihrer “sexuellen Erregbarkeit” herumschlagen, wenn es viel einfacher war, ihnen regelmäßig Glücks- und Beruhigungspillen zu verabreichen?
Obwohl Contergan nicht an Schwangeren getestet worden war, bewarb Grünenthal das Medikament ausdrücklich als Einschlafhilfe für Schwangere. Es wurde als als „völlig ungiftig“ und „gefahrlos“ beschrieben.
1958 verschickte die Firma einen Brief an über 40.000 deutsche Ärzt*innen, in dem sie schrieb:
“In der Schwangerschaft und Stillzeit ist der weibliche Organismus besonderen Belastungen ausgesetzt. Schlaflosigkeit, innere Unruhe und Abgespanntsein sind immer wiederkehrende Klagen. Die Verordnung eines Sedativums und Hypnoticums, das weder Mutter noch Kind schädigt, ist daher oft erforderlich. [Der Frauenarzt] Blasiu hat auf einer gynäkologischen Abteilung und in der geburtshilflichen Praxis einer Vielzahl von Patienten Contergan und Contergan forte verabreicht.”
Die Behauptung war frei erfunden.
Der Frauenarzt, auf den sich hier bezogen wird, erklärte später, dass er das Medikament niemals Schwangeren verabreicht hätte.
Die Nebenwirkungen werden bekannt
Im Oktober 1959 gingen bei Grünenthal erste Hinweise auf Nervenreizungen durch Contergan ein.
Nichts geschah.
Im September 1960 reichte ein Neurologe einen Beitrag für eine medizinische Fachzeitschrift ein, indem er berichtete, dass Contergan bei seinen Patient*innen zu Nervenschäden geführt hatte. Grünenthal schickte daraufhin Vertreter*innen, die auf den Arzt einwirkten. Es gelang der Firma, die Veröffentlichung des Artikels bis Mai 1961 zu verzögern. Nach der Veröffentlichung meldeten sich zahlreiche andere Ärzt*innen, die die Beobachtungen bestätigten. In der Fachpresse erschienen weitere Artikel, die Nebenwirkungen, z.B. dauerhafte Lähmungen beschrieben.
Grünenthal strich daraufhin das Wort „ungiftig“ aus dem Beipackzettel. Stattdessen wurde aufgenommen, dass es zu Überempfindlichkeiten kommen könnte „wie bei nahezu allen Arzneimitteln“. In der letzten Fassung des Beipackzettels, bevor das Medikament vom Markt genommen wurde, hieß es „ [es] kann in vereinzelten Fällen Nebenwirkungen hervorrufen … Wird bei Beobachtungen der ersten Anzeichen … das Präparat sofort abgesetzt, so klingen die Symptome meist ohne weitere Therapie ab.”
Obwohl Grünthal sein Präparat in der Öffentlichkeit weiter verteidigte, begann die Firma mit der Schadensbegrenzung. Vertreter*innen der Firma besuchten Geschädigt und boten ihnen kostenlose Behandlungen, Sanatoriumsaufenthalte und bis zu 20.000 Mark an – im Gegenzug mussten sie lediglich eine Verzichtserklärung gegen Grünenthal unterschreiben.
Trotz der wachsenden Bedenke n wurde Contergan zunächst weiter frei in Apotheken abgegeben und als Beruhigungsmittel für Schwangere beworben. Auch für Kinder gibt es einen eigenen Thalidomid-haltigen Saft.
Erst nach weiteren Veröffentlichungen in anderen Ländern wurden im Dezember 1960 auch in Deutschland Forderungen nach einer Rezeptpflicht laut. Grünenthal bestritt zunächst weiter einen Zusammenhang zwischen seinem Medikament und den beobachteten Schäden, beantragte aber letztlich doch Mitte 1961 die Rezeptpflicht. Es dauerte bis zum 1.01.1962, bis sie in allen Bundesländern galt – zu dem Zeitpunkt war das Medikament schon fast 2 Monate vom Markt genommen. Allerdings nicht wegen der Nervenschäden, die es verursachte.
Ab 1959 stieg die Zahl der Kinder mit Missbildungen in der BRD stark arn. Zumeist waren die Arme stark verkürzt oder die Hände wuchsen direkt aus den Schultern, manche hatten keine Beine, oder Organschäden.
Im Herbst 1960 ging der erste Verdacht bei Grünenthal ein, dass Contergan ursächlich für Missbildungen bei Neugeborenen sein könnte. Es passierte nichts, bis im November 1961 der Hamburger Kinderarzt Widukind Lenz eigenmächtig anfing Mütter betroffener Kinder zu befragen – in nur 2 Wochen kam er auf Contergan als wahrscheinlichste Ursache und wand sich mit der Forderung, das Medikament sofort vom Markt zu nehmen, an Grünenthal.
Grünenthal reagierte nicht.
Zwei Tage später verschickte Grünenthal ein Schreiben an Ärzt*innen, in dem es heißt »Die relativ seltenen Nebenerscheinungen dürften mit den Vorzügen, die dem Contergan innewohnen, mehr als aufgewogen sein.«
Widukind Lenz wand sich an den Gesundheitsminister von NRW und auch dieser setzte sich mit der Firma in Verbindung. Die bot an einen Warnhinweis in den Beipackzettel zu drucken, dass das Medikament nicht in der Schwangerschaft genommen werden sollte. Gleichzeitig drohten sie mit einer Klage auf Schadensersatz, sollte der Verkauf gestoppt werden.
Schließlich veröffentlichte eine große Zeitung den Verdacht. Am nächsten Tag nahm Grünenthal Contergan vom Markt. Allerdings nur in Deutschland. Ins Ausland wurde weiter geliefert. Erst im Dezember 1961 wurde der Wirkstoff in Großbritannien vom Markt genommen. In Spanien erst im Mai 1962.
Jeder Monat, so schätzte Widukind Lenz, den das Mittel rezeptpflichtig in Deutschland im Umlauf war, hat 50 bis 100 Kinder geschädigt.
Schwangerschaftsabbrüche sind keine Option
Viele Mütter, die am Anfang der Schwangerschaft Contergan genommen hatten, mussten nach dem Verkaufsstopp hilflos darauf warten, wie geschädigt ihr Kind auf die Welt kommen würde. Ultraschalluntersuchungen, wie sie heute gemacht werden, waren damals noch nicht möglich – Abtreibungen illegal.
Ein Beispiel für diese Tragödien ist die amerikanische Schauspielerin Sherrie Finkbine, die damals eine Kindersendung im US-Fernsehen moderierte. Ihr Mann brachte ihr aus Europa Contergan mit. Als sie erfuhr, welche Auswirkungen das Mittel hatte, hatte sie bereits 36 Tabletten in der Frühschwangerschaft genommen. Ihr Arzt riet ihr zu einer medizinisch induzierten Abtreibung, die in den USA nur sehr eingeschränkt legal war. Sie entschied sich für die Abtreibung und wollte zusätzlich andere Frauen warnen. Daher wand sie sich anonym mit ihrer Geschichte an die Presse.
Finkbine blieb nicht anonym. Ihr Name wurde veröffentlicht. Daraufhin war keine Klinik mehr bereit die Abtreibung durchzuführen. Sie verlor ihre Anstellung als Moderatorin. Am Ende musste sie nach Schweden, wo ihr ein schwer fehlgebildeter und wahrscheinlich nicht lebensfähiger Embryo entfernt wurde.
Der Prozess
1968 begann ein Prozess gegen die Verantwortlichen bei Grünenthal. Er war juristisch schwierig, da in Deutschland nur das Abtreiben eines Embryos explizit strafbar ist, nicht jedoch seine Schädigung. Die Anklagepunkte, die letztlich verwendet werden, drohten bereits 1972, nach nur 4 Jahren Zeit für den Prozess, zu verjähren. Die Anwälte von Grünenthal überschütteten den Prozess mit Material und zogen ihn in die Länge.
Schließlich standen die Eltern der geschädigten Kinder 1970 vor der Wahl, einer Einstellung zuzustimmen und einen Vergleich zu akzeptieren – oder zu riskieren wegen einer Verjährung gar kein Geld zu bekommen.
„Der Druck, der wurde sehr hoch von der Firma Grünenthal, so war dann auch wohl die Formulierung: Entweder Rente oder gar nichts an Geld, dann müssen sie sich die Eltern vorstellen, in den Nöten, in den sozialen Umständen, in den finanziellen Problemen, da jetzt noch die optimale Lösung zu finden, also ich würde mich heute auch überfordert fühlen.“
Claudia Schmidt-Herterich, Contergan-Geschädigte, Artikel vom Deutschlandfunk
Die Eltern stimmten letztlich dem Vergleich zu. Der Prozess wurde eingestellt – mit Feststellung der Schuld der Angeklagten. Sie hatten wirtschaftliche Interessenen über medizinische Gesichtspunkte gestellt und fahrlässig gehandelt.
Grünenthal wurde verpflichtet 100 Millionen Mark in einen Fond einzuzahlen, die BRD zahlt ebenfalls 100 Millionen Mark. So wurden die Entschädigungskosten, die aus privater Profitgier entstanden, zur Hälfte der Gemeinschaft aufgebürdet. Teil der Vereinbarung war ein Gesetz , das es Opfern unmöglich machte, weitere Ansprüche gegen Grünenthal geltend zu machen. Zusätzlich verzichteten auch die Krankenkassen darauf Behandlungskosten bei Grünenthal einzufordern.
Von Anfang an vermarktete Grünenthal Contergan, ohne Rücksicht auf Risiken. Was im Prozess formal als wirtschaftliche Interessen bezeichnet wurde, war nichts anderes als die Gier nach Profit, die auf Kosten von Menschen, die nichts ahnten, befriedigt wurde. Mütter, die Contergan nahmen, machen sich noch heute Vorwürfe – Grünenthal ist die Angelegenheit nur zwei Sätze auf ihrer Firmenwebseite wert. Die BRD ließ den Konzern mit einer lächerlichen Entschädigungssumme davon kommen und schützte ihn sogar vor weiteren Forderungen.
.Auch nachdem Contergan in Deutschland vom Markt genommen werden musste, wurde es in anderen Ländern weiter verkauft. Heute noch läuft ein Prozess in Spanien, weil die Firma dort wider besseren Wissens weiter Thalidomid vermarkten ließ – und gezielt nicht über die Risiken informierte. In Brasilien gibt es eine 2. und sogar 3. Generation Contergan geschädigter Kinder, weil das Mittel weiterhin gegen Lepra eingesetzt wird. Die Warnhinweise in den Beipackzetteln reichen nicht, um bei einem schlechten Gesundheitssystem und einer hohen Analphabetismusrate schwanger Frauen zu warnen. Manche halten das Medikament wegen der Warnbilder sogar für ein Verhütungsmittel oder eine Abtreibungspille.
Knapp die Hälfte der 5000 Contergan Geschädigten in Deutschland lebt noch. SIe sind oft auf Pflege durch Angehörige oder Freunde angewiesen. Ohne Arme ist ein Alltag alleine nicht zu bewältigen. Die Rente, die sie beziehen, liegt kaum über Sozialhilfeniveau. Die Familie Wirtz, der Grünenthal gehört, zählt zu den 50 reichsten Familien in Deutschland. Ihr Vermögen beläuft sich auf 2,5 Milliarden Euro.
Wir fordern
Im Kapitalismus dient die Pharmaindustrie- wie alle anderen Branchen- nicht dem Wohl der Menschen, sondern der Erwirtschaftung von Profiten. Deshalb werden immer wieder Medikamente auf den Markt gebracht und verkauft, obwohl ihr Nutzen fragwürdig oder ihre Wirkung sogar schädlich ist. Der Contergan-Skandal ist ein Beispiel.
Trotzdem haben noch immer nicht alle Menschen auf der Welt Zugang zu der Impfung- weil ihre Versorgung für die Konzerne nicht profitabel genug wäre.
- Pharmaunternehmen müssen verstaatlicht und unter demokratische Kontrolle gestellt werden, damit Medikamente für die Menschen entwickelt und hergestellt werden, und nicht um Gewinn zu machen.
- Der Patentschutz für Medikamente muss abgeschafft werden- nur so kann ihre Sicherheit und Wirksamkeit demokratisch kontrolliert werden und nur so können weltweit ausreichend günstige Medikamente für alle hergestellt werden.
- Sichere Medikamente, Pflege und Behandlung müssen allen durch ein kostenloses, staatliches und gut ausgestattetes Gesundheitssystem zur Verfügung stehen, Gesundheit, Pflege und Assistenz für Menschen mit besonderen Bedürfnissen dürfen nicht vom Einkommen abhängen!
Informationen über den Contergan-Skandal und die Situation der Geschädigten gibt es auf der Seite des Bundesverbands Contergangeschädigter.
Bild: TobiToaster, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons