Die bisher erfolgreichste Netflix-Serie wird von vielen Linken als Sinnbild für den gewalttätigen Kapitalismus verstanden und dessen Darstellung gelobt. Die Verschuldeten strampeln sich in Konkurrenz zueinander gehetzt ab, jederzeit von Bewaffneten und Kameras überwacht. Die Reichen amüsieren sich.
Von Claus Ludwig, Köln
(Spoiler-Alarm) Tatsächlich zeigt die Serie Elemente des Kapitalismus und seiner spezifisch koreanischen Form. Nachdem sie gesehen haben, wie über 200 Menschen beim ersten „Spiel“ ermordet worden waren, und sich daraufhin entschieden haben, mit dem Spielen aufzuhören, kehren die Teilnehmer*innen in ihr bisheriges Leben zurück. Dieses ist jedoch so hoffnungslos, dass sie sich zur Rückkehr ins „Spiel“ entscheiden, wohl wissend, dass der Tod weitaus wahrscheinlicher ist als der Gewinn der Millionen.
Seong Gi-hun ist in die Verschuldung gestürzt, nachdem er seinen Job in einer Autofabrik verloren hatte. Der Betrieb wurde war geschlossen worden, die Arbeiter*innen hatten sich mit einer Betriebsbesetzung gewehrt, Polizei und Streikbrecher die Fabrik gestürmt, Seong Gi-huns bester Freund war dabei getötet worden. Diese Geschichte ist eng angelehnt an den monatelangen Kampf um Ssangyong 2009, der mit einer militärischen Erstürmung des Werks durch die Polizei und in einer Niederlage der Arbeiter*innen endete.
Im Detail ist Squid Game gut gemacht und spannend. Design, Kameraführung und Aufbau der Charaktere sind überzeugend. Nach der ersten Folge mit dem großen Massaker beim Spiel „Rotes Licht, grünes Licht“ scheint die Geschichte schon erzählt zu sein und die Langeweile zu beginnen, doch mit dem Abbruch und der Wiederaufnahme des „Spiels“ gelingt Autor und Regisseur Hwang Dong-hyuk eine geniale Wendung.
Hwang stützt sich auf die Arbeiten der großen koreanischen Regisseure der letzten Jahre (es sind tatsächlich nur Männer, die international bekannt geworden sind) wie Bong Joon-ho, Park Chan-wook oder Kim Di-duk, erreicht aber nicht deren Level. Bong Joon-ho (u.a. „Parasite“, „Memories of Murder“, „Okja“) zum Beispiel deckt die strukturelle Gewalt des Kapitalismus auf. Blutige Gewaltausbrüche sind gezielt. Gleichzeitig blitzen bei ihm Witz und Solidarität der Unterdrückten und Geschundenen auf, dazu die geistige Leere der Herrschenden. Das Ganze wird durch Ironie und auch Slapstick in Bewegung gebracht.
Die Hunderten Erschossenen, in den Tod Gestürzten, Erschlagenen und Erwürgten bei „Squid Game“ kennen bis zum Ende immer weniger Solidarität. Für sie scheint keine Auflehnung gegen das „Spiel“ denkbar, sie killen sich gegenseitig. Als Motiv des Veranstalters bleibt nur purer Sadismus, was als Erklärung nicht zufriedenstellend ist. Dass ein maskierter Voyeur mit US-amerikanischem Akzent fett und schwul ist, hinterlässt ein Geschmäckle, das Feindbild des „dekadenten“ Reichen ist hier zu einfach konstruiert.
Die brutale Ästhetik von „Squid Game“ ist faszinierend, die Serie spannend. Aufhören geht einfach nicht, vor allem nicht für Fans des koreanischen Kinos. Wenn Menschen aus der Serie Kapitalismuskritik ableiten wollen, ist das gut. Dennoch kann „Squid Game“ auch reaktionär verstanden werden: als Geschichte davon, dass Menschen für Geld alles tun. Auch Bingewatching als Gewaltporno ohne jeden Hintergedanken ist möglich. „Parasite“ hingegen wird wohl kaum jemand falsch verstehen.