Vom 3.-5. Dezember tagte ein Landesparteitag der LINKEN in Nordrhein-Westfalen, um das Landtagswahlprogramm zu beschließen. Auch Landessprecher und weitere Mitglieder des Landesvorstandes mussten neu gewählt werden. Kurzfristig musste der Parteitag digital stattfinden.
Marc Treude, Aachen
Noch vor wenigen Jahren galt der Landesverband NRW als Hochburg des linken Flügels der Partei. Die Antikapitalistische Linke (AKL) hatte großen politischen Einfluss. Im zurückliegenden Jahr kam es zu einer starken Polarisierung im Landesverband um die Frage der Spitzenkandidatur von Sahra Wagenknecht. Seitdem waren viele Debatten überlagert von der Frage: „Für oder gegen Sahra?“.
Rücktritt des Landessprechers, Ausladung von Wagenknecht
Der Landesparteitag wurde vom scheidenden Landessprecher Christian Leye eröffnet. Leye wurde im September in den Bundestag gewählt und war lange Jahre Mitarbeiter von Sahra Wagenknecht. Als Landessprecher hatte er großen Anteil an der Vertiefung der Spaltung im Landesverband.
Bei der anschließenden Beratung über die Tagesordnung kam es zur ersten Überraschung. Ein Delegierter hatte den Antrag eingebracht, den Tagesordnungspunkt mit der prominenten Rede von Sarah Wagenknecht abzusetzen. Begründung: Die Delegierten bräuchten die Zeit zur Debatte und müssten keiner Genossin zuhören, die im Landesverband keine besondere Rolle spielt und in den vergangenen Wochen zunehmend krude Äußerungen zur Corona-Pandemie von sich gegeben hatte.
Diesem Antrag folgten die rund 200 Delegierten mit 103 Ja-Stimmen, 83 stimmten dagegen – von Wagenknecht war am gesamten Wochenende nichts zu hören. Somit schien für viele Delegierte eine Wunde versorgt worden zu sein, die das gesamte Jahr über geschmerzt hatte.
Demokratische Debatten digital
Ein Abwahlantrag gegen das Landesvorstandsmitglied Edith Bartelmus-Scholich von der AKL wurde von den Delegierten von der Tagesordnung gestrichen. Edith hatte den Wagenknecht-Flügel klar kritisiert ; das störte die Antragssteller*innen vom KV Heinsberg, aber sie hatte genug Rückhalt unter den Delegierten.
Die Landesschiedskommission (LSK) wurde in der Öffentlichkeit und in der Partei wegen ihres Entscheides zum Ausschlussantrag gegen Wagenknecht kritisiert. Die LSK hatte den Ausschluss zwar formal abgelehnt, aber die inhaltlichen Argumente gegen Wagenknecht unterstützt. Mit einem Antrag auf Einzelwahl wollten die Unterstützer*innen von Wagenknecht zwei LSK-Mitglieder abstrafen, doch der Antrag auf Einzelwahl wurde von den Delegierten abgelehnt. SAV-Mitglied Angela Bankert aus Köln war hierzu in die Bütt gegangen. Bankert war Anfang des Jahres als Gegenkandidatin zu Wagenknecht angetreten und konnte mehr als 27% der Stimmen holen.
Nachwahlen Landesvorstand
Der Rücktritt von Christian Leye machte eine Neuwahl des Landessprechers notwendig. Hier trat als einziger Kandidat der bisherige stellvertretende Landessprecher und Marx21-Unterstützer Jules El-Khatib aus Essen an. Er wurde mit über 75% der Stimmen gewählt und betonte, die Partei wieder zusammenführen zu wollen. Für den freiwerdenden Platz als stellvertretender Landessprecher kandidierte ebenfalls nur eine Person. Amid Rabieh gilt als enger Vertrauter des ehemaligen Landessprechers Leye und „Wagenknecht-Mann“. Er erhielt bei seiner Wahl lediglich 53% der Stimmen, ohne Gegenkandidat ein sehr schwaches Ergebnis.
Die weiteren Wahlen zu Beisitzer*innen im Landesvorstand sorgten für eine Linksverschiebung: Mit Bianca Austin und Jana van Helden wurden eine gewerkschaftlich aktive Pflegekraft sowie eine Studierende, die sich vor allem im Bündnis gegen das geplante Versammlungsgesetz engagiert, gewählt. Die ehemalige Kölner Kreissprecherin Angelika Link-Wilden, eher Realo und mit ihrer Vorstellung nicht am Puls der Delegierten, wurde nicht in den Landesvorstand gewählt.
Bei den männlichen Beisitzern gelang es Dominic Goertz und Shoan Vaisi, sich gegen Onur Ocak durchzusetzen, der vor allem dafür kritisiert wurde, in seiner Heimatstadt Bielefeld eine eigene Jugendorganisation gegründet zu haben. Vaisi wurde bekannt, da er auf der Landesliste der NRW-LINKEN als erster Geflüchteter in den Bundestag hätte einziehen können.
Zähe Debatte ums Wahlprogramm
Bei der Debatte um das Programm zur Landtagswahl gab es an zwei Schwerpunkten ein Kräftemessen. Der Abschnitt zur Bildungspolitik, der von der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG)Bildung erarbeitet worden war und eine echte programmatische Verbesserung darstellt, war vom Landesvorstand durch einen Änderungsantrag aus Köln ersetzt worden. Das führte zu einer Grundsatzdiskussion über sozialistische Bildungspolitik und über die Ausrichtung des Wahlkampfs : Will die LINKE brav und bieder SPD und Grüne flankieren oder rebellisch grundlegende Änderungen vorschlagen? Am Ende holten die Delegierten den ursprünglichen, von der LAG Bildung formulierten Text zurück und stimmten diesen ins Landtagsprogramm.
Hitzig wurde es bei der Debatte um die Präambel des Wahlprogramms, also die politische Einleitung. Hierzu lagen ursprünglich drei Änderungs- und Ersetzungsanträge zum Entwurf des Landesvorstandes vor. Die AKL hatte ihren Alternativentwurf zugunsten eines inhaltlich sehr ähnlichen Antrages aus dem KV Mettmann zurückgezogen. Der Landesvorstand spitzte die Debatte dann zu auf Mettmann vs. Köln. Aus dem Kreisverband Köln kamen einige Änderungsanträge, die den Entwurf des Landesvorstandes noch weiter geglättet hätten. Lediglich der neue Landessprecher Jules El-Khatib versuchte noch mit Kompromissformulierungen zu den „Roten Haltelinien“, die Polarisierung zu vermeiden.
Während der Abstimmung über die Präambel kam es bei etlichen Delegierten zu technischen Störungen, das Abstimmungstool funktionierte bei einigen nicht, es gab „Tumulte“ im Chat des digitalen Parteitages, die Sitzung musste kurz unterbrochen werden. Aufgrund des Drucks sah sich das Präsidium des Landesparteitages gezwungen zu entscheiden, die Abstimmung zu wiederholen. Am Ende konnten sich KV Mettmann und die AKL leider nicht durchsetzen und der Kölner Antrag erhielt eine Mehrheit. Die Ergebnisse der erneuten Abstimmung zeigten aber deutlich, dass die Wiederholung die richtige Entscheidung war:
Während bei der ersten Abstimmung nur 166 Delegierte teilnahmen (70 Ja-Stimmen für den Antrag aus Mettmann, 92 dagegen), konnten bei der Wiederholung 191 Delegierte teilnehmen (84/+14 für Mettmann, 104/+8 dagegen). Somit fand die Formulierung: „Dafür brauchen wir ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem: den demokratischen Sozialismus.“ leider keinen Eingang in das Wahlprogramm. Dieses wurde dennoch mit einer Mehrheit von knapp 82% der Stimmen verabschiedet .
Erfreulich war die Entscheidung des Parteitages, zum ersten Mal einen Aufruf zur aktiven Beteiligung an den anstehenden Betriebsratswahlen im Frühjahr 2022 zu verabschieden. Zur Vorbereitung wird sogar Geld bereit gestellt; jetzt liegt es an der LAG Betrieb & Gewerkschaft sowie aktiven Genoss*innen vor Ort, andere in Betrieben aktive Genoss*innen darauf vorzubereiten und zu unterstützen.
Fazit: Luft nach oben
Die Verwerfungen und Auseinandersetzungen im Landesverband wurden ein ganzes Stück in den Hintergrund gedrängt, die Unterstützenden von Sahra Wagenknecht sind aber noch da. Ihnen scheint es egal zu sein, dass von ihr ein ständiges Trommelfeuer gegen Positionen der Partei ausgeht.
Die unterschiedlichen Wahlergebnisse für Jules El-Khatib und Amid Rabieh bringen die Stimmung der Delegierten auf den Punkt: Die Mitglieder wollen ein Ende der Streiterei und Uneinheitlichkeit, Wagenknecht selbst ist für sie erledigt, ihre Unterstützer*innen haben an Unterstützung verloren, aber man will sie nicht hinaus drängen. Appelle an die Einheit kommen gut an.
Auch die Debatte um das Programm lässt sich unter dem Motto „Einheit vor Klarheit“ zusammenfassen. Das Programm hat starke Mängel, ist zu wenig sozialistisch, viel zu sozialdemokratisch. Die Delegierten waren bereit zur Diskussion, aber noch nicht dazu, klare Schlussfolgerungen aus den katastrophalen letzten Jahren zu ziehen.
Der Einzug in den Landtag in NRW liegt in weiter Ferne, ist alles andere als realistisch. Der linke, kämpferische, antikapitalistisch und bewegungsorientierte Teil der Partei in NRW muss im anstehenden Wahlkampf und darüber hinaus den Beweis erbringen, dass seine Vorstellungen erfolgreicher sein können. Mit einer kämpferischen Orientierung an der Seite von sozialen Bewegungen kann die Partei gestärkt und weiter aufgebaut – und den Freund*innen von Wagenknechts Störfeuer entrissen werden.
Marc Treude ist Landesparteitagsdelegierter für den KV Aachen.
Foto: https://www.flickr.com/photos/die_linke/ CC BY 2.0