Die Ampel macht weiter, wo die GroKo aufgehört hat. Die Dreier-Koalition ändert nichts daran, dass die Reichen immer reicher werden und Einkommen und Vermögen dem staatlichen Zugriff entziehen. Sämtliche Ankündigungen von SPD und Grünen zur Vermögenssteuer sind vergessen. Weiterhin werden die Lohnabhängigen die Gelder für diesen Staat aufbringen.
Von Claus Ludwig, Köln
Statt klarer Maßnahmen zur Begrenzung von Mieten gibt es das vage Ziel, jährlich 400.000 Wohnungen zu bauen, davon 100.000 öffentlich gefördert. Die GroKo hatte ein ähnliches Ziel, aber die Immobilienkonzerne bauten nicht, weil sie am Mangel besser verdienen. Die Ampel benennt keine Mittel, um das zu ändern. Die geplante „neue Gemeinnützigkeit“ bleibt zahnlos, weil die private Wohnungswirtschaft nicht „benachteiligt“ werden soll.
Die Pflegekräfte werden nicht besser bezahlt, die Fallpauschalen (DRG) nicht abgeschafft, nur leicht modifiziert. Zur besseren Finanzierung der Kliniken gibt es Ankündigungen ohne klare Maßnahmen. Die Arbeitsbedingungen bleiben schlecht, weitere Kolleg*innen werden gehen. Es soll eine bundesweite Befragung der Pflegenden geben – fast so schön wie Klatschen. Das Ergebnis ist bekannt.
Die rassistischen und faschistischen Netzwerke bei Polizei und Armee werden nicht einmal erwähnt. Rechtsextremismus wird zwar als größte Bedrohung der Demokratie beschrieben, aber nicht ohne von „Linksextremismus“ zu reden. Zum nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt soll der 11. März werden, der Tag eines islamistischen Anschlages im spanischen Madrid im Jahr 2004. Als hätten nicht deutsche Nazis seit Anfang der 1990er fast 300 Menschen ermordet.
Die Regierung erkennt die Dramatik der Klimakrise an und bekennt sich zum 1,5-Grad-Ziel von Paris. Ihre Maßnahmen reichen jedoch nicht aus, um dieses Ziel zu erreichen. In der Präambel des Vertrages wird die Klimakrise als Bedrohung von Freiheit und Wohlstand definiert. Allerdings ist nicht die Rede von sich verschlechternden Lebensbedingungen. Sorgen machen der „verschärfte globale Wettbewerb“ und der „internationale Systemwettstreit“. Die darauf folgende Ankündigung, im Wettbewerb bestehen zu wollen, bedeutet, Öl ins Feuer zu gießen. Wer mehr und billiger produziert, verschärft die Klimakrise trotz anders lautender Bekenntnisse.
Auch „soziale und ökologische Standards“ sind für die Koalition Waffen im kapitalistischen Konkurrenzkampf, zumal im Kontext des Säbelrasselns gegen Russland und China: „Wir nutzen das europäische Wettbewerbsrecht und die Stärke des europäischen Binnenmarktes gerade mit Blick auf unfaire Wettbewerbspraktiken autoritärer Regime.“
Die Ampel spricht sich noch immer nicht für eine Freigabe der Patente für Covid-Vakzine aus, sondern schlägt „freiwillige Produktionspartnerschaften“ vor. Biontech freut sich über diese Profitgarantie.
Lindners Testballons
Bei „Soziales“ konnte die SPD ihr Wahlversprechen Mindestlohn unterbringen. Allerdings sind die 12 Euro Mindestlohn bei 5% Inflation schnell weniger wert. ALG2 wird in „Bürgergeld“ umbenannt ; es gibt einzelne Lockerungen, aber weder eine Abschaffung des Sanktionsregimes noch eine nennenswerte Erhöhung, welche den Preisanstieg ausgleichen würde. Echte Verbesserungen sind die Nicht-Anrechnung des Vermögens in den ersten zwei Jahren und die Erhöhung des Schonvermögens.
Einzelne positive Entwicklungen soll es beim Elterngeld, der Finanzierung von Ausbildung, Bildungsteilzeit, Umschulung und Nachholen von Berufsabschlüssen geben. Indessen sollten die Gewerkschaften die Idee zurückweisen, ein „Qualifizierungsgeld“ in Höhe des Kurzarbeitsgeldes einzuführen. Wenn Jobs wegfallen und die Kolleg*innen umschulen müssen, hat dies bei vollem Lohn stattzufinden.
Die Ampel ist – zumindest laut den Buchstaben des Koalitionsvertrages – keine Koalition der massiven Angriffe auf die Rechte und die Einkommen der abhängig Beschäftigten. Aber die FDP hat Testballons bekommen. Die tägliche Höchstarbeitszeit soll flexibilisiert werden, formell im Einvernehmen mit Beschäftigten und Gewerkschaften. Zudem werden Teile der gesetzlichen Rente in das Casino des Kapitalmarktes überführt, zum Zocker-Einstieg führt der Staat ab 2022 der Rente 10 Milliarden Euro zu. Renteneinstiegsalter und -niveau sollen zunächst nicht angetastet werden. Die Mini- und Midi-Jobs werden ausgeweitet.
Allerdings muss eine Regierung gar keine zusätzlichen Grausamkeiten beschließen, um asoziale Politik zu machen. Inflation und hohe Mieten sorgen ganz alleine dafür, dass die Einkommen sinken und der Wert von Immobilien, Land und Produktionsmitteln steigt.
Die Wiederinkraftsetzung der Schuldenbremse nach der Pandemie festigt den Automatismus der leeren öffentlichen Kassen, schafft Kürzungsdruck bei Kommunen und Sozialversicherungen, der wiederum zu sozialen Angriffen führen kann. Christian Lindner als Finanzminister stellt zudem die angedachten sozialen Verbesserungen unter „Finanzierungsvorbehalt“.
Jahrzehnt der Investitionen?
Die „soziale Marktwirtschaft“ soll „sozial-ökologisch“ neu begründet, ein „Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen“ eingeleitet werden: „Zugleich werden in nie dagewesenem Umfang zusätzliche Mittel eingesetzt werden müssen, um die zur Erreichung des 1,5-Grad-Klimazieles und zur Transformation der Wirtschaft erforderlichen Maßnahmen zu finanzieren und die wirtschaftliche Erholung mit dem Abklingen der Corona-Pandemie abzusichern.“ Eine gute Erkenntnis, aber genau das ist gar nicht geplant. Denn es sollen keine umfassenden, direkten staatlichen Investitionen in den Umbau der Industrie, den Wohnungsbau und den massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs fließen. Die öffentlichen Investitionen bleiben im Rahmen der Schuldenbremse und sind als Begleitung privater Investitionen gedacht, oft als direkte Subvention für den Umbau der Industrie, nicht auf Basis gesellschaftlicher Bedürfnisse, sondern weiterhin auf der Grundlage von Gewinnerwartungen des Kapitals.
Ein Beispiel: „Wir wollen Deutschland zum globalen Standort der Halbleiterindustrie machen. Dazu soll die deutsche Halbleiterbranche entlang der gesamten Wertschöpfungskette auch finanziell hinreichend unterstützt werden, um diese Schlüsseltechnologie in Europa zu sichern, zu stärken und zukunftssicher auszubauen.“ Statt öffentlicher Investitionen werden private Kapitale für die internationale Konkurrenz staatlich aufgerüstet.
Über „Superabschreibungen“ sollen Konzerne 2022 und 2023 Investitionen in Digitalisierung und Klimaschutz noch stärker steuermindernd absetzen können und werden somit indirekt subventioniert.
Die unzähligen Stellen im Papier, an denen von Innovationen, Beschleunigung, Entbürokratisierung und Digitalisierung rauf und runter, vor und zurück die Rede ist, haben kaum praktische Relevanz. Viele Verfahren könnten besser und schneller laufen, aber ohne eine grundlegend bessere Personalausstattung des öffentlichen Dienstes samt besserer Bezahlung ist das lediglich Wortmüll.
Nachholende Normalisierung
Alle Beteiligten werden mächtig angeben mit der angekündigten Entkriminalisierung von Cannabis, der Abschaffung von §219 (Verbot der „Werbung“ für Abtreibung, faktisch gilt bisher ein Verbot der Information seitens der Ärzt*innen), der Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes inklusive des möglichen „Spurwechsels“ vom Asylverfahren in die Arbeitsmigration und der Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre.
Den Verbesserungen für Geflüchtete und Migrant*innen steht jedoch die Ankündigung einer „Rückführungsoffensive“ entgegen. Es soll schneller abgeschoben werden. Die Koalition will „die illegalen Zurückweisungen und das Leid an Außengrenzen beenden.“, erwähnt aber weder die griechischen Lager noch die polnische Polizei. Sie bekennt sich zur Seenotrettung, will aber Frontex als Grenzschutz ausbauen und hebelt damit die Seenotrettung im Mittelmeer aus.
Das restriktive Transsexuellen-Gesetz soll durch eine Regelung ersetzt werden, die Selbstbestimmung vorsieht, das Blutspendeverbot für schwule Männer und Transmenschen soll aufgehoben werden. Tatsächlich sind das wirkliche Verbesserungen – allerdings nicht im Vergleich zu anderen kapitalistischen Ländern. Unter dem Strich handelt es sich um eine verspätete Modernisierung nach den Merkel-Jahren, in denen die SPD und der „liberale“ Flügel der CDU den verstockten Reaktionär*innen in der Union Zugeständnisse gemacht und diese Relikte der Vergangenheit erhalten haben.
Die Streichung von §219 wirft die Frage auf, warum nicht direkt die Kriminalisierung der Abtreibung beendet und auch der §218 gestrichen wird. Stattdessen soll nur eine Kommission die „Regulierung … außerhalb des Strafgesetzbuches“ prüfen.
Bewaffnete Drohnen
Klare Regelungen für die Begrenzung oder gar den Stopp von Rüstungsexporten will die Ampel nicht verabschieden. Laut Koalitionsvertrag wird die Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen und einem Nachfolger für den Kampfflieger Tornado ausgestattet. Das 2-Prozent-Ziel der NATO gilt, diese soll gestärkt werden. Die Formulierung „Durchsetzung der regelbasierten internationalen Ordnung“ kann als Grundlage für weitere Auslandseinsätze der Bundeswehr genutzt werden. Die Marine wird europaweit modernisiert, Kriegsschiffbau als „Schlüsseltechnologie“ definiert.
Mit Annalena Baerbock ist eine Hardlinerin Außenministerin geworden. Die Grünen waren in den letzten Jahren meist vorne dabei, wenn es darum ging, einen scharfen Kurs gegen Russland zu verlangen. Sie unterstützen NATO-treue Regime in der Ukraine, Polen und dem Baltikum, die teilweise ebenso reaktionär und repressiv sind wie Putins Regime. „Wir werden die Ukraine weiter bei der Wiederherstellung voller territorialer Integrität und Souveränität unterstützen.“ Das klingt angesichts der wachsenden Spannungen um die Ost-Ukraine wie eine gefährliche Drohung. Die Türkei, die Kriege in Nordsyrien und Nordirak sowie im eigenen Land führt, bleibt hingegen ein „wichtiger Partner“,
Klimaziele nur theoretisch
Die Koalition redet zwar vom Ende des Verbrenners, aber bis 2030 sollen diese noch gebaut werden können. Es gibt kein Signal zum Ausbau-Stop für Autobahnen. Der Kohle-Ausstieg wird nicht einmal sicher auf 2030 vorgezogen, sondern nur „idealerweise“, und „über Lützerath werden die Gerichte entscheiden.“
In der Zwischenzeit soll vermehrt Gas genutzt werden, der Ausstieg 2045 kommt lauf Fridays for Future zehn Jahre zu spät. Weder gibt es ein Tempolimit noch ein Verbot von Inlandsflügen, das Wort „Verkehrswende“ taucht im ganzen Papier nicht auf. Darüber hinaus ist auch kein bestimmtes CO2-Budget festgelegt worden, was nötig wäre, um wirklich bewerten zu können, ob das 1,5-Ziel umgesetzt wird.
Konkrete, aber nicht ausreichende Maßnahmen sind der Ausbau der Photovoltaik und die Bereitstellung von Flächen für Windenergie. Absurderweise wird aber die Raumfahrt als „zentrale Zukunftstechnologie“ bezeichnet, die Ampel träumt vom „klimaneutralen Fliegen“ durch synthetische Kraftstoffe, anstatt den Umbau konkret zu beginnen.
Grüne, SPD und FDP „setzen auf einen steigenden CO2-Preis als wichtiges Instrument, verbunden mit einem starken sozialen Ausgleich“, beziffern diesen aber nicht, sondern formulieren lediglich: „Menschen mit geringeren Einkommen“ sollen unterstützt werden. Angesichts der geplanten Schonung der Konzerne klingt das so, als würden das die Durchschnittsverdiener*innen bezahlen müssen. Trotz des offensichtlichen Scheiterns der Idee, den CO2-Ausstoß über Bepreisung lenken zu können, strebt die Ampel ein „globales Emissionshandelssystem“ an.
Und die Opposition?
Der Koalitionsvertrag ist kein Generalangriff auf die Arbeiter*innenklasse. Eine Mobilisierung gegen die Ampel als solche macht keinen Sinn. Welche Kämpfe sich ergeben, hängt weniger vom Koalitionspapier als von den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen ab. So war 1998, als Rot-Grün startete, nicht absehbar, dass ein halbes Jahr später die Bundeswehr Bomben auf Belgrad werfen würde.
Wie stark wird der Trend zu Entlassungen im Zuge des Umbaus der Autoindustrie, zum Beispiel bei den Zulieferern? Welche Sektoren der prekär Beschäftigten rebellieren gegen unerträgliche Arbeitsbedingungen und Niedriglöhne? Wie entwickeln sich, ausgehend von Berlin, die Bewegungen der Mieter*innen und der Pflegekräfte? Was passiert in den Tarifrunden, wenn die Inflation anhält?
Sicher ist: Die Probleme bleiben. Die Klimabewegung muss sich zwei Wahrheiten stellen: 1) Das reine Appellieren hat nur wenig bewirkt. 2) Die Grünen in die Regierung zu wählen, bringt nicht die Wende in der Klimapolitik, sondern nur eine Korrektur ohne Störung des kapitalistischen Normalbetriebes. Die Strategie muss daraufhin angepasst werden.
Die Gewerkschaften sollten die „Experimente“ der FDP in Richtung Flexibilisierung stoppen und angesichts der Preisentwicklung flächendeckende Lohnerhöhungen anpeilen. Gleichzeitig stehen sie vor der Aufgabe, den Kampf für Löhne, Jobs und Arbeitsbedingungen mit der Klimafrage zu verbinden. Sie müssen in den Mittelpunkt rücken, dass ein wirklicher „Umbau“ nur im Interesse der und durch die Arbeiter*innenklasse erfolgen kann. Daher sollten sie sich nicht in die angekündigte „Allianz für Transformation“ einbinden lassen, welche den Umbau entlang der Kapitalinteressen begleiten soll.
Die LINKE wird es nicht leicht haben. Mitregierer*innen und Wagenknecht-Linkskonservative haben die Partei durch Anpassungskurs und demonstrative Distanzierungen von Bewegungen, wie beim Enteignungs-Volksentscheid in Berlin und mit der Wahl von Klaus Ernst zum Vorsitzenden des Umweltausschusses, stark geschwächt. Die LINKE muss endlich aufhören, die Klassenfrage als „soziale Frage“ (samt 1970er-Jahre-Verklärung) zu verniedlichen. Sie wird nur aufbauen können, wenn sie klar die Mitarbeit in den Mieten-, Klima-, Pflege und Antirassismus-Bewegungen gegenüber dem parlamentarischen Versinken priorisiert, die Klassenfrage stellt und gezielte Anstrengungen macht, stärker in die Betriebe hinein zu wirken.
Foto: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons