Das Jahr hat gerade erst begonnen und schon kommt es zum Sturz einer ersten Regierung.
„Sotsialisticheskaya Alternativa“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion der ISA in Russland), 05.01.2022
Am 1. Januar ist es in der west-kasachischen Region Mangghystau zu Protesten gegen Preissteigerungen gekommen, die sich in rasantem Tempo auf das ganze Land ausgedehnt haben. Berichte über Demonstrationen gibt es aus den Städten Schangaösen, Aqtau, Aqtöbe, Taras, Schymkent Qaraghandy, Oral und der Hauptstadt Astana, die vor kurzem nach dem langjährigen Diktator in Nur-Sultan unbenannt wurde.
In der Nacht, nach einer Demonstration mit tausenden Teilnehmer*innen auf dem zentral gelegenen „Platz der Republik“ in Almaty, der größten Stadt des Landes, kamen Schockgranaten zum Einsatz und die Militärpolizei fuhr mit ihren Fahrzeugen auf. Es liegen Berichte von Schüssen auf Demonstrationsteilnehmer*innen vor, bei denen in mindestens zwei Städten wahrscheinlich Gummigeschosse eingesetzt worden sind. Ein Video aus Almaty zeigt gepanzerte Mannschaftswagen, die vor Protestteilnehmer*innen zurückweichen, aus Aqtau wird berichtet, dass sich Bereitschaftspolizist*innen den Protestierenden angeschlossen haben.
Erst gestern Abend, am 4. Januar, wendete sich Qassym-Schomart Toqajew, der Präsident Kasachstans, an die Nation und rief zur „Vernunft“ auf. Er warnte das Volk, keine „Provokateure“ oder „Extremisten“ zu unterstützen. Bei Tagesanbruch des 5. Januar verkündete er dann, die gesamte Regierung angewiesen zu haben, ihren Rücktritt zu erklären. Den bisherigen stellvertretenden Premierminister, Älichan Smajylow, ernannte er zum geschäftsführenden Premier und zwei führende Köpfe des Nationalen Sicherheitsrats (KNB) zu dessen Stellvertreter bzw. zum Außenminister. Parallel dazu verhängte er über weite Teile des Landes einen zweiwöchigen Ausnahmezustand, darunter Almaty und die Öl- und Gas-Region Mangghystau.
Im ganzen Land sind das Internet, Telegram und soziale Netzwerke abgeschaltet worden.
Seit Monaten schon ist die Region Mangghystau Schauplatz von Streiks unterschiedlicher Gruppen von Ölarbeiter*innen. Bezogen auf die gesamte ehemalige Sowjetunion verweist diese Region auf die wahrscheinlich stärkste Tradition an kämpferischen Aktionen der Arbeiterbewegung. Dort kam es vor zehn Jahren zum sieben Monate andauernden Streik der Ölarbeiter*innen, der brutal niedergeschlagen wurde.
Der Tropfen, der das Fass nun zum Überlaufen brachte und zu den breiten Protesten in Mangghystau führte, war die Ankündigung für Neujahr, dass der Gaspreis sich von 60 Tenge auf 120 Tenge (von elf Cent auf 22 Cent) pro Liter verdoppeln würde. Das brachte die Menschen der Region in Rage, da sie es sind, die das Gas dort aus dem Boden fördern. Als die Regionalregierung zunächst ablehnte, den Forderungen nachzukommen, forderten die Protestierenden eine Verdopplung der Löhne. Sie wiesen darauf hin, dass die Preise für sämtliche Grundbedarfsgüter, Strom und Abgaben in rasantem Tempo steigen, während die herrschende Elite ihren abartigen Reichtum sogar noch gesteigert habe.
Als klar wurde, dass die Behörden den Forderungen nicht nachkommen würden, wurden die Demonstrationen größer und breiteten sich auf die gesamte Region und dann auf das ganze Land aus. Die wichtigste Bahnstrecke in den Westen des Landes ist blockiert und Flüge von Almaty wurden gestrichen.
Es existieren etliche Berichte, nach denen vor allen jüngere Protestteilnehmer*innen sich radikalisieren und mittlerweise skandieren: „Shal, ket!“ („Opa, trete ab!“). Diese Forderung setzt dort an, wo der wahre Grund für die Misere in der ehemaligen Sowjetrepublik zu finden ist: Bei Nursultan Nasarbajew, der 2019 als Präsident zurückgetreten, aber als „Führer der Nation“ real weiter an der Macht ist.
Zum Zeitpunkt, da dieser Artikel geschrieben wurde, hat Präsident Toqajew angeordnet, den Gaspreis für sechs Monate auf 60 Tenge pro Liter (~ 12 Cent) zu senken. Die Preise für Gas, Benzin und andere gesellschaftlich nötigen Produkte werden staatlich reguliert. Außerdem sollen arme Familien Subventionen auf ihre Mieten bekommen und für Strompreissteigerungen gilt ein Moratorium. Er verspricht, einen Sonderfonds für die Gesundheitsversorgung und gegen Kinderarmut einzurichten. Er warnt allerdings, dass die Senkung des Gaspreises nut temporär sein kann, weil der Preis auf dem Weltmarkt um einiges höher sei.
Ob all dies ausreicht, um die Proteste wieder abebben zu lassen, bleibt abzuwarten. Sieht man sich das bisherige Vorgehen der herrschenden Elite an, so ist davon auszugehen, dass es sich auch bei diesen Versprechungen nur um leere Worte handelt. Die Wut ist immens und bezieht sich nicht allein auf die Preise. Im Dezember wurden beispielsweise allein in der Region Mangghystau 30.000 Ölarbeiter*innen arbeitslos. Es herrscht großer Unmut wegen fortgesetzter Verhaftungen von politischen Oppositionellen, unter anderen auch Gewerkschafter*innen. Überall in der Region kommt es zu Streiks und es gibt Berichte, dass die Arbeitsniederlegungen das Ausmaß regionaler Generalstreiks angenommen haben.
Naturgemäß behaupten das Regime in Kasachstan wie auch seine Unterstützer*innen im Kreml sowie das Regime in Belarus, dass es sich hierbei wieder einmal um eine vom Westen provozierte „Farbenrevolution“ handele. „Life News“, ein Sprachrohr des russischen Regimes, behauptet, dass die Proteste angezettelt und vorab geplant waren. Man nennt den Namen des im Exil befindlichen Oligarchen Muchtar Äbljasow als verantwortliche Person und suggeriert, dass alles organisiert wurde, um die Verhandlungen zu unterminieren, die für nächste Woche zwischen Russland und der NATO wegen der Lage in der Ukraine geplant sind. Hierbei handelt es sich natürlich um nichts anderes als eine weitere Verschwörungstheorie, die vom Regime verbreitet wird, um jeder Unterstützung für die Proteste das Wasser abzugraben.
Gleichzeitig wirft dies eine Frage auf: Was passiert, wenn „Opa geht“? Wer bzw. was wird ihn und das System ersetzen, das er aufgebaut hat, um nicht nur seine eigenen sondern auch die Interessen der Konzerne zu verteidigen, die ihn unterstützen? Die Streikenden, die vor zehn Jahren an den Aktionen in Schangaösen beteiligt waren, hatten weitreichende politische Schlussfolgerungen gezogen: Sie forderten die Verstaatlichung der Ölkonzerne unter der Kontrolle der Arbeiter*innen. Im November 2011 hatten die Streikenden ein vereintes Arbeiterkomitee für die gesamte Region ins Leben gerufen, das zum Boykott der Parlamentswahlen aufrief. Der Grund für dieses Vorgehen war ihr fehlendes Vertrauen in die vorhandenen politischen Parteien. Hinzu kam, dass sie die kämpferischen Gewerkschaften landesweit miteinander vereinen wollten, um eine eigene politische Partei zu gründen.
Die brutale Repression, die auf das Blutbad von Schangaösen folgte, führte auf Seiten der Arbeiterbewegung zum Rückzug in die Defensive. Doch jetzt, da die aktuellen Proteste das ganze Land ergriffen haben, ist die Zeit gekommen, diese Themen zurück auf die Tagesordnung zu bringen.
Foto: Abduaziz Madyarov