Es gibt einen neuen Kalten Krieg – aber diesmal ist es keine Systemkonfrontation zwischen stalinistischen und kapitalistischen Staaten, sondern eine Auseinandersetzung zwischen kapitalistischen Blöcken, die eher an die Lage vor dem 1. Weltkrieg erinnert. Wie damals stehen Linke heute vor der Aufgabe, sich der Vereinnahmung durch „ihre“ jeweilige nationale Kapitalistenklasse zu verweigern und gegen jeden Krieg zu protestieren, den die Herrschenden führen wollen – auf allen Seiten, so wie es während des ersten Weltkriegs Kommunist*innen wie Lenin und Trotzki, Luxemburg und Liebknecht taten.
Von Thies Wilkening, Hamburg
Manche, die sich heute in ihre Tradition stellen, haben leider eine andere Herangehensweise. Sofern sie in „westlichen“ Ländern des NATO- und EU-Blocks leben, berufen sie sich zwar auf Karl Liebknechts Erkenntnis „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ – ziehen daraus aber den Schluss, die Regime Putins und Xi Jinpings zu unterstützen.
China wird dabei zum „sozialistischen Staat“ erklärt, weil dort eine „Kommunistische Partei“ herrscht – obwohl sie schon seit Jahrzehnten den Kapitalismus wieder eingeführt hat. Dass Russland nicht mehr die Sowjetunion, sondern seit über 30 Jahren ein kapitalistischer Staat ist, haben mittlerweile auch diese Linken mitbekommen. Ihre Unterstützung für Putins Regime begründen sie damit, dass dies „antiimperialistisch“ sei – denn imperialistische Mächte sind für sie ausschließlich die USA und die EU. Sie ignorieren, dass das mit Russland verbündete China längst Kapital exportiert und die Definition eines imperialistischen Staates erfüllt, und sprechen den Bevölkerungen der Nachbarländer Russlands das Selbstbestimmungsrecht ab. Sobald es wie 2020 in Belarus oder vor Kurzem in Kasachstan Proteste gegen diktatorische Regimes gibt, die mit Russland verbündet sind, unterstellen sie allen Protestierenden, Werkzeuge des westlichen Imperialismus zu sein, und rechtfertigen jede Form von Unterdrückung.
Reaktionäres Regime
Das gilt auch für Russland selbst. Putins Regime ist autoritär, homophob, nationalistisch und sexistisch und erinnert in vielen Punkten an die Zarenherrschaft vor den Revolutionen 1917. Sozialist*innen wie die Mitglieder von Sozialistitscheskaja Alternatiwa (ISA in Russland) werden regelmäßig mit Geldstrafen bis zu 3400 Euro belegt oder mit „Administrativhaft“ zwischen einer Woche und einem Monat bestraft. ISA-Mitglied Matwej Alexandrow wurde im letzten Jahr mehrfach hintereinander für einen Monat inhaftiert und bei der Entlassung sofort wieder verhaftet. Die „Vergehen“: Teilnahme an Demonstrationen oder das Organisieren kleiner Kundgebungen. Mittlerweile kann man sogar dafür festgenommen werden, allein mit einem Schild auf einem Platz zu stehen. Wir stehen an der Seite der Sozialist*innen und aller linken und fortschrittlichen Kräfte, die in Russland für demokratische und soziale Rechte, gegen Unterdrückung und gegen imperialistische Akte wie die Intervention in Kasachstan demonstrieren.
Einen „harten Kurs“ der „westlichen Wertegemeinschaft“ gegen Russland, wie ihn in der Regierung vor allem die Grünen fordern, lehnen wir ab. Die verstärkte Aufrüstung der NATO-Armeen und ihre Expansion, zum Beispiel in die Ukraine, erhöhen das Risiko für eine kriegerische Eskalation.
Unter Liberalen, aber selbst bei manchen Linken ist die Vorstellung verbreitet, hinter dem Aufstieg der AfD und Trumps sowie der zunehmenden Verbreitung von Verschwörungsmythen steckten russische „Desinformationskampagnen“. Das hat einen ähnlichen Wahrheitsgehalt wie die Behauptung des russischen und des chinesischen Regimes, hinter Feminismus, dem Kampf für LGBTQ-Rechte oder oppositionellen Bewegungen allgemein steckten „ausländische Agenten“. Tatsächlich verbreiten Medien wie Russia Today Fake-News und rechte Propaganda und westliche Auslandssender wie die Deutsche Welle geben vorwiegend liberalen Oppositionellen aus Russland eine Plattform, jeweils mit dem Ziel, die feindliche Regierung zu schwächen. Aber das bedeutet nicht, dass sie einen bestimmenden Einfluss auf das politische Bewusstsein hätten oder dass es die entsprechenden Bewegungen ohne sie nicht gäbe. Eher im Gegenteil – sie ermöglichen den jeweils Herrschenden, sich als Opfer ausländischer Kampagnen darzustellen und, im Fall des Westens, von der eigenen Rolle bei der Erhaltung und Verbreitung rassistischer, sexistischer und anderer Spaltungsideologien abzulenken. Aufgabe von Sozialist*innen und der Arbeiter*innenbewegung in allen Ländern ist es, dagegen zu halten und die gemeinsamen Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung zu betonen, gegen die Herrschaft der Konzerne, Oligarchen und autoritären Regimes in Ost und West.