Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR geht davon aus, dass bis zu vier Millionen Menschen vor dem Krieg aus der Ukraine fliehen werden – sehr viel mehr werden sich als Binnenflüchtlinge innerhalb der Landesgrenzen wiederfinden. Die meisten dieser Leute sind Frauen und Kinder mit ukrainischen Pässen. Das Regime in Kiew verweigert männlichen Ukrainern zwischen 18 und 59 Jahren die Ausreise, da sie als „wehrfähig“ eingestuft und zum Militärdienst eingezogen werden.
von Ianka Pigors, Hamburg
Die Solidarität mit den Ukrainer*innen ist groß. Ähnlich wie während der Ankunft der syrischen Kriegsflüchtlinge 2015 engagieren sich viele ehrenamtliche Helfer*innen. Anders als 2015 haben aber auch die Regierungen relativ schnell reagiert: Die EU hat die Visumspflicht für Einwohner*innen der Ukraine außer Kraft gesetzt und relativ weitgehende Aufenthaltsrechte werden ebenso in Aussicht gestellt, wie der Zugang zu Arbeitserlaubnissen und Sozialleistungen. Öffentliche Verkehrsmittel stehen unentgeltlich zur Verfügung, um die Weiterreise von den Ankunftsstaaten in die Nachbarländer zu ermöglichen. Die „Dublin-Verordnung“, die Geflüchtete normalerweise zwingt, ausschließlich in dem Land, in dem sie erstmals den Boden der europäischen Union betreten, Schutz zu beantragen, ist für Menschen aus der Ukraine außer Kraft gesetzt.
Trotz dieser Notfallmaßnahmen sieht die Zukunft der Geflüchteten nicht gerade rosig aus.
Aufrüstung oder Hilfe für Geflüchtete?
Hilfsorganisationen berichten bereits jetzt, dass mittellose ukrainische Mädchen und Frauen an europäischen Bahnhöfen, u.a. in Berlin, von zwielichtigen Leuten angegangen werden, die offenbar beabsichtigen, ihre hilflose Lage auszunutzen um sie gewerbsmäßig oder privat sexuell auszubeuten. Das wirft ein Schlaglicht auf die finanziellen und sozialen Probleme, denen sich die Geflüchteten gegenüber sehen.
Hunderttausende plötzlich alleinerziehende Frauen mit traumatisierten Kindern brauchen nicht nur Arbeitserlaubnisse. Um sich ein sicheres, selbstbestimmtes Leben aufzubauen, benötigen sie Sprachkurse, mütterfreundliche Arbeitsplätze, Wohnraum und Kindergärten. Viele müssten für sich und ihre Kinder Zugang zu therapeutischen Maßnahmen erhalten.
An all dem fehlt es in Deutschland an allen Ecken und Enden. Die Bundesregierung hat ein Ausrüstungspaket von 100 Mrd. Euro geschnürt. Gleichzeitig hören die Kolleg*innen im Sozial- und Erziehungsdienst, überwiegend Kita-Beschäftigte und Sozialarbeiter*innen, die sich gerade im Arbeitskampf befinden, dass für Entlastung und Aufwertung in ihrer von Fachkräftemangel gebeutelten Branche kein Geld da sei.
Bereits jetzt ist absehbar, dass die Ampelkoalition nicht vorhat, auf die neue „Flüchtlingskrise“ mit den dringend überfälligen Investitionen in sozialen Wohnungsbau, Bildung und soziale Sicherheit zu reagieren – im Gegenteil: Die massive Aufrüstung wird über kurz oder lang mit Sozialabbau gegenfinanziert werden, zumal sich Scholz & Co weiter an die Schuldenbremse klammern und am Dogma der „schwarzen Null“ festhalten.
Die Festung Europa im Ukrainekrieg
An den Grenzen der EU werden nicht alle Fliehenden gleich behandelt. Migrant*innen, die in der Ukraine Aufenthaltserlaubnisse zum Studieren oder Arbeiten haben, stammen oft aus Indien oder afrikanischen Ländern. Diese Menschen müssen häufig die Erfahrung machen, dass sie bei der Evakuierung, der Einreise in die Nachbarländer und bei der Weiterreise innerhalb der EU gegenüber weißen Ukrainer*innen benachteiligt und rassistisch diskriminiert werden. In den Zielstaaten, u.a. Deutschland, werden Neuankömmlinge aus der Ukraine gegenüber Menschen aus anderen Krisengebieten bei der Erstaufnahme bevorzugt.
Rassismus und Kriegspropaganda
Nun ist es keineswegs so, dass alle weißen Menschen aus Osteuropa innerhalb der EU schon immer mit offenen Armen empfangen wurden. Antislawischer und antiziganistischer Rassismus ist weit verbreitet.
In Deutschland wurde Anfang der 1990er Jahre die stark steigende Zahl Geflüchteter infolge des Zusammenbruch des Ostblocks und des Ausbruchs des Jugoslawienkriegs für eine massive rassistische Hetzkampagne instrumentalisiert. Am 12.9.1991 verschickte der damalige CDU-Generalsekretär Volker Rühe eine Muster-Presseerklärung an sämtliche CDU-Fraktionen in Stadträten und Landtagen und forderte sie auf, „die Asylpolitik zum Thema zu machen“. Fünf Tage später begannen die rassistischen Krawalle in Hoyerswerda. Keine zwei Jahre später beschloss der Bundestag mit den Stimmen der schwarz-gelben Regierungskoalition und der SPD eine massive Einschränkung des Asylrechts. Die Grundgesetzänderung richtete sich u.a. gegen Kroat*innen und Rumän*innen, die sich selbst nicht als „People of Color“ identifizieren und in jeder denkbaren Hinsicht mindestens ebenso „europäisch“ sind, wie Ukrainer*innen.
Wenn bisher in der Öffentlichkeit von Migrant*innen aus Osteuropa die Rede war, ging es zumeist um „rumänische Sozialhilfebetrüger*innen“, „polnische Autoschieber“, „ukrainische Prostituierte“, „russische Banditen“ und „albanische Einbrecher“ – und um „Zigeuner“, also Roma, denen ohnehin jede Schandtat zuzutrauen sei. Seit Kriegsbeginn sind Ukrainer*innen plötzlich „Menschen wie wir, zivilisierte Christ*innen mit blauen Augen und blonden Haaren“ und nicht mehr arbeitsscheue Halbweltgestalten mit verschlagenen, slawischen Gesichtszügen. Hier zeigt sich die den Herrschenden nützliche Flexibilität und Wandlungsfähigkeit des jahrhundertealten europäischen Rassismus. Je nach politischer Opportunität kann praktisch jede Bevölkerungsgruppe vom Untermenschen zum Mitmenschen umgewidmet werden und umgekehrt.
Solange die Ukrainier*innen nicht nur ihr eigenes Recht auf nationale Selbstbestimmung gegen die russische Invasion verteidigen, sondern gleichzeitig ihr Leben für die „freie westliche Welt“, also die Kontrolle der USA, der NATO und der EU über ihr Territorium aufs Spiel setzen, sind sie „unsere Leute“ und ihre Frauen und Kinder, die nicht als kriegsentscheidendes Menschenmaterial betrachtet werden, können – vorerst – Flüchtlingsschutz erwarten. Gegen andere Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, vor allem solche aus den ehemaligen Kolonien im globalen Süden, wird die „Festung Europa“ weiter verteidigt.
Die rassistische Behandlung der afrikanischen und indischen Geflüchteten aus dem Ukrainekonflikt ist ein Skandal, der größere Skandal ist aber, dass Menschen, die aus Afrika, der muslimischen Welt und Asien vor Krieg und Elend fliehen, überall nicht einmal die Rechte erhalten, die Ukrainer*innen momentan zugestanden werden.
Nützliche und nutzlose Geflüchtete?
Während nigerianische Studierende an der polnischen Grenze auf eine Möglichkeit zur Ausreise aus der Ukraine warten, ertrinken Afrikaner*innen, die vor anderen Konflikten fliehen, weiter im Mittelmeer, das Recht auf Familienzusammenführung mit in Deutschland als asylberechtigt anerkannten Afghan*innen ist praktisch aufgehoben, weil die Anträge nicht bearbeitet werden, Syrer*innen müssen schutzlos an der Grenze zwischen Belarus und Polen überwintern – und die Weltöffentlichkeit schweigt dazu, denn diese Leute sind nicht vor dem Erzfeind Russland auf der Flucht und taugen nicht für die aktuelle Kriegspropaganda.
Gegen diese Spaltung setzen wir auf Solidarität mit allen Geflüchteten!
Wenn wir uns dafür einsetzen, dass die afrikanischen und indischen Studierenden aus der Ukraine den gleichen Schutz erhalten, wie alle anderen ukrainischen Kriegsflüchtlinge, sollten wir wir darüber nicht vergessen, dass die Geflüchteten aus anderen Regionen, die vielleicht weniger Bildung, schlechtere Sprachkenntnisse und weniger Ressourcen haben um auf ihre Lage aufmerksam zu machen, genauso schutzbedürftig sind.
Foto: Ankunft von Geflüchteten aus der Ukraine in Berlin am 5.März, Wikimedia Commons CC0/gemeinfrei