Während Pandemie, Krieg und Klimawandel die Zukunft der Arbeiter*innenklasse weltweit eher in düstere Farben tauchen, gibt es in den USA eine andere Art der Zeitenwende: Die wieder auflebende Arbeiter*innenbewegung springt nahezu unerwartet auf ihre noch jungen Füße.
Von Anne Engelhardt, Kassel
Es ist unmöglich, all die verschiedenen Erfolge der Organizing-Projekte der letzten Monate aufzuzählen und zu verfolgen. Hierzulande wurde vor allem die strahlende Spitze des Eisberges wahrgenommen – die erste Gewerkschaftsgründung bei Amazon in den USA, erkämpft von Chris Smalls und seinen Mitstreiter*innen.
Lebensbedrohliche Bedingungen
Amazon hat mittlerweile einen bizarren Einspruch gegen die Gewerkschaft ALU (Amazon Labour Union) in New York eingelegt: Kolleg*innen seien mit Marihuana bestochen worden. In diesem Vorwurf steckt der ganze Rassismus und die arrogante Abwertung der vor allem schwarzen Organizer*innen in den prekären und körperlich anstrengenden Logistikjobs. Mit dem gestiegenen Selbstbewusstsein der oft sehr jungen Generation von Gewerkschaftsaktiven, die über TikTok, Twitter, Instagram und Podcasts ihre Positionen lautstark vertreten, wird dieser Vorwurf nach hinten losgehen und sich die Konzernführung als reiche, chauvinistische Snobs entlarven.
Es gibt unzählige Beispiele der letzten Jahre, in denen Kolleg*innen bei Amazon gezwungen wurden, arbeiten zu gehen, obwohl draußen ein Hurrikan tobte, obwohl es keinen ausreichenden Schutz vor Covid gab, obwohl sie schwanger waren oder an Herz-Kreislauf-Symptomen litten. Amazon ist laut dem Strategic Organizing Center für 49% aller Unfälle in US-Warenhäusern verantwortlich. Laut der Weltgesundheitsorganisation sind zwischen 2019 und 2022 weltweit 8,1 Millionen Menschen an ihren Arbeitsplätzen gestorben. Amazon treibt diese Zahlen nach oben.
Organisierung bei Starbucks
Auch Starbucks wird gerade von einer Welle des Organizing überrollt. Von den ca. 9.000 Filialen im Land sind bereits hunderte in den letzten Monaten und Wochen durch die Starbucks Workers United und andere Gewerkschaften organisiert worden. Diese haben trotz heftiger Union-Busting-Kampagnen des Konzerns Abstimmungen über gewerkschaftliche Vertretungen durchgeführt. Dutzende Organizer*innen, die oft erst zwischen 17 Jahren und Anfang 20 sind, wehren sich gegen fingierte Entlassungsgründe, sammeln Spenden und treiben die Gewerkschaftsgründung voran. Unsere Schwesterorganisation in Seattle ruft am 23. April gemeinsam mit anderen Organisationen und Gewerkschaften zu einem Aktionstag gegen Union Busting bei Starbucks auf.
Aber auch dieses Beispiel ist längst nicht das Ende der Fahnenstange. Seit Monaten gründen sich neue Gewerkschaften in Medien- und Verlagshäusern. Die Financial Times, BuzzFeed, Spotify/Parcast, iHeart und das große Medienhaus Condé Nast, das hinter Glamour, Vanity Fair, GQ, Bon Appetit und unzähligen anderen Mode- und Klatschzeitschriften, Podcasts und Sendungen steht, werden organisiert. Condé Union schreibt dazu in ihrer Selbstdarstellung: „Condé Nast bezeichnet sich selbst als ein “Medienunternehmen für die Zukunft”. Und die Zukunft der Medien sind Gewerkschaften.“ Daneben organisieren sich Journalist*innen und Mediendesigner*innen von Regionalzeitungen wie dem Miami Herald. Sie wehren sich vor allem dagegen, dass große Investment-Unternehmen ihre Zeitungen aufkaufen und die regionale Berichterstattung wegkürzen.
Auch im Bildungssektor gewinnt eine Gewerkschaftskampagne nach der anderen. Studentische Hilfskräfte organisieren sich in eigenen Gewerkschaften, um gegen mickrige Löhne und Überstunden zu kämpfen, mit denen sie weder die Studiengebühren noch Krankversicherung oder Miete zahlen können. Die Biden-Regierung hat bereits vorsichtig eingelenkt und die Schuldenrückzahlung für Studierende weiter verschoben. Auch in Schulen werden vor allem die Schulassistenzen und pädagogische Kräfte organisiert, bei denen es sich überwiegend um People of Colour und trans* Kolleg*innen handelt. Daneben finden noch Organisierungskampagnen im Einzelhandel, im Pflegesektor und im Hotelgewerbe statt.
Zeichen auf Streik
An manchen Arbeitsplätzen haben bereits Verhandlungen über bisher nicht existente Tarifverträge begonnen. An allen anderen, die jetzt mehrheitlich für eine gewerkschaftliche Vertretung stimmen, stehen diese Verhandlungen noch aus und können schnell in Arbeitskämpfe münden. Das wird nicht zuletzt dadurch klar, dass das Starbucks-Management Stellen für Rechtsberatungen ausschreibt, die sich mit Organizing und Streikrecht auskennen. Gleichzeitig solidarisieren sich die Kolleg*innen sämtlicher Sektoren untereinander und versprechen sich Rückhalt. Die Zeichen stehen auf Streik.