Donbass und Krim Konflikt seit 2013: kein einseitiger Krieg

Der Sprachenstreit schwelte in der Ukraine bereits seit einigen Jahren. Die Wirtschaftskrise 2008 vertiefte die ohnehin vorhandenen Probleme. 2009 schrumpfte die ukrainische Wirtschaft um 15%, 2014 war das Sozialprodukt pro Kopf das drittniedrigste in Europa.

Von Claus Ludwig, Köln

Vor diesem Hintergrund versuchte der als prorussisch geltende Präsident Janukowitsch, ein Assoziierungsabkommen mit der EU abzuschließen. Dieses Freihandelsabkommen hätte zu weitreichenden Verschlechterungen für die Massen geführt, unter anderem durch die Erhöhung von Energiepreisen, das Einfrieren von Gehältern und die Erhöhung von Massenverbrauchssteuern. Diese Problematik war vielen jedoch nicht bewusst, sodass das Abkommen als Schritt hinaus aus der Krise angesehen wurde.

Im November 2013 verwarf der Präsident im letzten Moment das Abkommen und erhielt im Gegenzug ein Hilfspaket von Russland in Höhe von 15 Milliarden Dollar. Die wirtschaftliche Verbindung mit Russland wurde von den meisten Ukrainer*innen als einer der Gründe für die Misere angesehen. Sofort begannen große Proteste auf Kiews zentralem Platz, dem Maidan.

„Euro-Maidan“

Zu Beginn herrschte eine friedliche Aufbruchsstimmung, Studierende dominierten die Proteste. Die Grundlage des „Euro-Maidans“ war soziale Unzufriedenheit. Doch der Charakter der Proteste änderte sich mit dem massiven Eingreifen der Bereitschaftspolizei „Berkut“, die bei gewaltsamen Einsätzen viele Menschen verletzte. Diese Situation wurde von der extremen Rechten ausgenutzt. Die Partei Swoboda („Freiheit“) und der „Rechte Sektor“, die vor allem im Westen des Landes stark waren, schickten ihre Aktiven zum Maidan und bekamen den Ruf, sich gut gegen die Polizei wehren zu können. Schon bald dominierten sie die Proteste, bedrohten und verjagten linke Aktivist*innen.

Am 18. Februar 2014 marschierten Tausende zum Parlament. Es wurde scharf geschossen, rund 100 Menschen starben. EU und USA griffen massiv diplomatisch ein. Die oppositionellen Parteien und die Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen unterschrieben eine „Vereinbarung zur Beilegung der Krise“. Präsident Janukowitsch floh aus Kiew, am Tag danach setzte ihn das Parlament ab. Eine neue Regierung unter Ministerpräsident Jazenjuk wurde am 27. Februar gebildet, unter Beteiligung liberaler und konservativer Parteien und der rechtspopulistischen Swoboda.

Bereits am 23. Februar hatte das Parlament einen verhängnisvollen Beschluss gefasst: Der russischen Sprache wurde der offizielle Status als Amtssprache entzogen. Dies führte dazu, dass im mehrheitlich russischsprachigen Osten, vor allem in den Bezirken Donezk und Luhansk und auf der Krim Demonstrationen stattfanden und sich Menschen für die Forderung nach Autonomie für diese Gebiete organisierten.

Abspaltung der Krim

Die russische Regierung war wegen des plötzlichen Verlustes ihres Partners Ukraine und dessen „Überlaufen“ Richtung EU alarmiert und nutzte die Situation aus, um die Abspaltung der Krim durchzusetzen. Die Halbinsel Krim war erst 1954 von Chruschtschow der ukrainischen Sowjetrepublik zugeordnet worden, zuvor war sie Teil der Russischen Föderation. Auch nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 blieb die russische Schwarzmeerflotte im Hafen Sewastopols stationiert. Rund 68% der Bewohner*innen der Krim Anfang 2014 waren ethnische Russ*innen, es gibt eine tatarische und eine ukrainische Minderheit.

Der regionale Regierungschef der Krim hatte zunächst die neue Regierung in Kiew anerkannt. Am 27. Februar wurde er jedoch von Soldat*innen ohne Hoheitszeichen abgesetzt, ein neuer Premier wurde eingesetzt. Zwei Wochen später wurde ein Referendum abgehalten, bei dem die Einwohner*innen nur die Wahl zwischen einem Beitritt zu Russland oder dessen Ablehnung hatten. Angeblich stimmten 97% für einen Beitritt zu Russland, bei einer Beteiligung von 83%. Später wurde ein interner Bericht versehentlich auf der Website des Kreml veröffentlicht. Darin hieß es, 60% hätten für den Beitritt gestimmt, bei 50% Beteiligung, was realistischer scheint.

Das Krim-Referendum war nicht demokratisch. Während der zweiwöchigen Werbekampagne für den Beitritt behauptet die prorussische Seite, in Kiew würde ein Nazi-Regime herrschen. Allerdings ist es wahrscheinlich, dass eine Mehrheit der Krim-Bewohner*innen nach dem verheerenden ukrainischen Sprachengesetz nicht mehr in der Ukraine leben wollte und bereit für diesen Anschluss war.

Krieg im Donbass

Das russische Regime nutzte die berechtigte Angst der russischsprachigen Mehrheit im Donbass vor einem repressiven und rechten Regime in Kiew aus, um einen Fuß in die Ostukraine zu bekommen. Die Forderungen nach Autonomie waren legitim, aber die Bevölkerung im Donbass wurde so zum Spielball des Machtkampfes zwischen den „pro-europäischen“ Oligarch*innen, der EU und der USA und dem Kreml. Anfang März demonstrierten Tausende im Donbass. Pro-russische Aktivist*innen besetzten Regierungsgebäude und kündigten an, Milizen zu bilden. Am Anfang waren auch linke (stalinistische) Kräfte und Bergarbeiter*innen dorthin stark vertreten, aber diese wurden durch Oligarch*innen und Kreml-nahe Nationalist*innen schnell an den Rand gedrängt, die sich weniger an Sowjetnostalgie und vielmehr an Putins neo-zaristischer „Neurussland“-Ideologie orientierten.

Die ukrainische Regierung reagierte zunächst mit Repression, dann mit militärischer Gewalt. Sie warnte vor einer „russischen Invasion“ und versuchte, die Anführer*innen der Milizen verhaften zu lassen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Separatist*innen keine militärischen Angriffe durchführt. Mitte April wurden ukrainische Truppen in die Region geschickt, die prorussischen Milizen bewaffneten sich und es kam zu den Gefechten um den Flughafen Kramatorsk und die Stadt Slawjansk. Der Donbass wurde geteilt, die „Volksrepubliken“ ausgerufen. Die ukrainischen Truppen erlitten militärische Niederlagen, zudem liefen Teile der Truppen zu den Separatist*innen über. Russische Waffen benötigten die Milizen zu diesem Zeitpunkt nicht, da sie reichlich Waffen der ukrainischen Truppen nutzen konnten. Einheiten der Armee wurden zudem von der örtlichen Bevölkerung gestoppt und weigerten sich, gegen diese zu kämpfen.

Nach den ersten Niederlagen setzte die ukrainische Regierung verstärkt auf die inzwischen entstandenen rechtsextremen Freiwilligenverbände, weil die regulären Verbände nicht entschlossen genug kämpften. Das Asow-Regiment wurde im Mai 2014 von zwei rechtsextremen Politikern gegründet und im Oktober in die Nationalgarde des Innenministeriums eingegliedert. Das Menschenrechtskommissariat der UN hat mehrere  Fälle von Morden, Folterungen und Vergewaltigungen durch Angehörige des Asow-Regiments dokumentiert, gegen politische Oppositionelle, Menschen mit Behinderungen und Rom*nja. Als Symbol verwendet die Einheit die „Wolfsangel“, Symbol der 2. SS-Panzerdivision „Das Reich“, die 1943 bei Charkiw und am Dnjepr gekämpft hatte.

Am 2. Mai griffen organisierte Faschist*innen das Gewerkschaftshaus in der Hafenstadt Odessa mit Brandsätzen an, um vermeintliche oder tatsächlich linke und prorussische Aktivist*innen zu töten. 48 Menschen starben in den Flammen. Dieser Massenmord stärkte die Autonomie-Bestrebungen im Donbass. Bei den Referenden für Autonomie am 11. Mai gab es eine große Mehrheit. Die Autonomie sollte es ermöglichen, Russisch als Amtssprache nutzen zu können. Allerdings waren auch bei diesen Referenden die Bedingungen wenig demokratisch.

Nach einem Waffenstillstand ab Juni startete die ukrainische Armee im August 2014 eine Offensive mit schweren Waffen und Luftunterstützung und eroberte einige Städte zurück, unter anderem Kramatorsk und Slawjansk. Als Donezk eingekesselt zu werden drohte, verstärkte Russland die Lieferung von Waffen an die Separatist*innen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren schon russische Ex-Soldat*innen oder sogar noch aktive Soldat*innen „auf Urlaub“ im Donbass und nahmen an Kämpfen gegen die ukrainischen Truppen teil.

Bis Ende August stoppten die Donbass-Milizen mit Hilfe schweren Geräts aus Russland den ukrainischen Vormarsch und gingen ihrerseits in die Offensive. Am 5. September wurde in der belarussischen Hauptstadt Minsk ein Abkommen unterzeichnet, mit dem Ziel die Front einzufrieren und schwere Waffen abzuziehen, unter Aufsicht der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa). Der Waffenstillstand hielt nicht lang. Im Februar 2015 wurde nach schweren Kämpfen um Mariupol, Donezk und den Bahnknotenpunkt Debalzewe mit „Minsk 2“ ein neuer Anlauf unternommen, ausgehandelt unter Beteiligung Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine, wegen des Treffpunkts „Normandie-Format“ genannt. Auch diese Waffenruhe hielt nur wenige Tage. Ende Februar erlitt die ukrainische Armee eine schwere Niederlage bei Debalzewe. Immer wieder gab es in 2015 Verstöße gegen das Minsker Abkommens, bis sich die Lage im September beruhigte.

Minsk wird nicht umgesetzt

Seitdem ist die Front eingefroren, aber die Lage alles anderes als friedlich. Immer wieder wurde der Waffenstillstand von einer der beiden Seiten gebrochen. Bis zum russischen Einmarsch am 24. Februar diesen Jahres waren rund 14.000 Menschen bei den Kämpfen in der Ostukraine getötet worden.

Die „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk sind reaktionäre Ministaaten, geführt von regionalen Oligarch*innen und ihren Warlords. Hunderttausende Menschen haben die Gebiete verlassen, vor allem Richtung Russland.

Während über das Eingreifen russischer Kämpfer*innen und Putins Agieren viel berichtet wurde, ist wenig bekannt, was die verschiedenen ukrainischen Regierungen unternommen haben. Die Minsker Abkommen sahen Verhandlungen über eine Autonomie-Status der Gebiete vor. Das wurde von keiner ukrainischen Regierung umgesetzt. Stattdessen verkündeten alle Regierungen, die gesamten Territorien zurückerobern zu wollen. Im März 2021 beschloss das ukrainische Parlament ein Gesetz zur Wiedereingliederung der Krim, Präsident Selenskyj ordnete die Umsetzung an. Truppen wurden in den Süden des Landes verlegt, es fanden mehrere NATO-Manöver statt, auch im Schwarzen Meer.

Seit 2015 hat die Ukraine die Armee ausgebaut, von der NATO ausrüsten und ausbilden lassen und den Großteil der Truppen an die Donbass-Front geschickt. Dies verlief nicht ohne Probleme, denn viele junge Ukrainer*innen erschienen nicht zur Einberufung, viele verließen sogar das Land, um den Einsatz im Donbass zu umgehen. Die Bereitschaft zum Militärdienst auf breiter Front hat erst der brutale russische Einmarsch geschaffen. Im Januar 2021 entschied das Parlament, bis zu 2000 US-Soldat*innen und weitere 2000 NATO-Militärs zwecks Ausbildung in das Land zu holen.

Die Erzählung des Putin-Regimes, in der Ukraine hätte 2014 ein Putsch stattgefunden, organisiert von EU und NATO und danach wäre in der Ukraine ein faschistisches Regime entstanden, ist eine Verdrehung der Geschichte. Doch auch die offizielle Geschichtsschreibung der ukrainischen Regierenden, das Land wäre seit 2014 auf demokratischem Wege und die Eskalation wäre allein durch das Agieren Russlands herbeigeführt worden, entspricht nicht der Wahrheit. Die reaktionären Sprachengesetze haben es Putin überhaupt erst ermöglicht, Unterstützung auf der Krim und im Donbass zu bekommen. Die ukrainische Armee hat ab 2014 Teile der eigenen Bevölkerung bombardiert. 

Ob es stimmt, dass ein ukrainischer Angriff auf Luhansk und Donezk bevorstand, wie das russische Regime behauptete, lässt sich nicht zweifelsfrei sagen. Sicher ist allerdings, dass die militärische Rückeroberung dieser Regionen das politische Programm der Regierenden in Kiew ist und eine Autonomie nie ernsthaft erwogen wurde. Sicher ist auch, dass es in der Ukraine Tausende bewaffnete Rechtsextremist*innen gibt. Auch auf Seiten der Donbass-Ministaaten agieren extreme Rechte und fanatische Nationalist*innen wie die „Russische Orthodoxe Armee“ und das „Sparta-Bataillon“.

Die Geschichte des Donbass-Krieges ist die Geschichte zweier reaktionärer Regime, die nationalistische Ideologien einsetzen und die Spaltung der Bevölkerung befördern, um ihre Ziele durchzusetzen.

Foto: Nessa Gnatoush, CC BY 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by/2.0, via Wikimedia Commons