Die Debatte um unsere Ernährung hat in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen. Die Zahl der Veganer*innen in Deutschland ist laut einer Umfrage von Statistica zwischen 2016 und 2021 von 800.000 auf über 1,4 Mio. gestiegen und es gibt 7,5 Mio. Vegetarier*innen. Unser Ziel als Sozialist*innen ist es nicht, den Lebensmittelkonsum einzelner moralisch zu bewerten. Vielmehr nehmen wir dies zum Anlass, einen Blick auf die kapitalistische Lebensmittelerzeugung zu werfen, um gemeinsam für Veränderungen zu kämpfen.
Von Peter Narog und Stefanie Gullatz
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts setzt die Fleischindustrie auf gesteigerte und immer intensiver werdende Mästung. Ca. 500 Milliarden Schlachttiere weltweit leben in Massentierhaltung – und damit auch 98% des hierzulande verzehrten Fleisches. Allein in Deutschland sind das um die 12 Millionen Rinder, 28 Millionen Schweine und 623 Millionen Masthühner. Sie werden davon krank. Wenn etwa Schweine in einem halben Jahr auf 120 Kilo gemästet werden, kann das Knochengerüst nicht schnell genug mitwachsen, sodass die Tiere unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. In der EU werden täglich fast vier Millionen Schlachttiere über acht Stunden und länger transportiert und kommen oft mit gebrochenen Hüften und Beinen oder mit abgerissenen Hörnern an.
Menschen und Klima leiden mit
Weltweit werden rund 47% des gesamten Getreides an Schlachttiere verfüttert, mittlerweile 80% der landwirtschaftlichen Flächen für Viehfutter und Viehhaltung verwendet. Während man uns erzählt, der Markt regle alles, wird beispielsweise die Rinderzucht mit 2,5 Milliarden Euro jährlich von der EU gefördert, wovon aufgrund der Flächenprämie v.a. Großbetriebe profitieren. Wir haben als Sozialist*innen grundsätzlich nichts gegen die Effizienz von größeren wirtschaftlichen Einheiten. Solange diese allerdings der kapitalistischen Markt- und Profitlogik unterworfen sind, führen sie nicht nur zu Monokulturen und Übersäuerung von Böden, sondern auch zur Vernichtung von Existenzen kleinbäuerlicher Familien v.a. in der neokolonialen Welt. Dort wird den Menschen infolge des steigenden Anbaus von Soja, Mais und Maniok als Futtermittel lebensnotwendiges Acker- und Weideland genommen. Sie werden von multinationalen Konzernen vertrieben und landen in den Slums der Großstädte, wo dann absurderweise Nahrungsmittelknappheit herrscht.
Die Regenwälder Amazoniens und Südostasiens, die als Hauptquelle der globalen Sauerstoffproduktion gelten, werden großflächig gerodet, um Platz für Rinderfarmen und Futtermittelanbau auch für den europäischen Markt zu schaffen. Laut UN stammen 14,5 % des weltweiten CO2-Ausstoßes aus der Massentierhaltung. Das wird nur noch vom militärischen Bereich übertroffen.
Was genau „macht“ die Milch denn? – Gesundheit und Propaganda
Mit teuren Werbekampagnen wie „Die Milch macht müde Männer munter“ in den 1950er Jahren oder „Die Milch macht’s“ in den 1980ern wurde uns von der Milchwirtschaft mit ihrem Jahresumsatz von 28 Mrd. Euro (2020) mehr oder weniger erfolgreich suggeriert, der Verzicht auf tierische Lebensmittel sei ungesund. Dabei sind alle Proteine, die man sich durch Nahrung zuführen muss, allesamt in Pflanzen in ausreichender Menge und körperlich guter Verwertbarkeit zu finden. Auch der berühmte Eisenmangel ist bei Veganer*innen nicht häufiger belegt als im gesellschaftlichen Mittel.
Während die Deutsche Gesellschaft für Ernährung weiter Kuhmilch als „Calciumlieferant Nr. 1“ bewirbt, berichtet das Ärzteblatt 2014, dass der Milchkonsum laut einer schwedischen Studie die Osteoporoseneigung nicht nur nicht senkt, sondern womöglich sogar verstärkt. Es ist inzwischen erwiesen, dass Kuhmilch beim Menschen Allergien auslösen und verstärken kann. Den Zusammenhang zwischen dem Konsum von Kuhmilchprodukten und Neurodermitis, Asthma, Akne, diverser entzündlicher Erkrankungen bei Kindern, Parkinson und sogar Krebs an dieser Stelle auszuführen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Klar ist, dass das, was die meisten von uns über Milch zu wissen glauben, Käse ist.
Vom Sonntagsbraten zum Haferdrink – Veganismus als Luxusgut
Für Menschen mit geringeren Einkommen ist der Konsum vieler veganer Ersatzprodukte oft unerschwinglich. Kostet ein Liter H-Milch einer Hausmarke z.B. 72 Cent, zahlt man für einen Liter Haferdrink im Supermarkt günstigstenfalls 99 Cent. Bei Fleisch und veganen Alternativprodukten geht die Spanne noch deutlicher auseinander. Der Vorwurf bürgerlicher Politiker*innen, „die Menschen“ wollten ja das billige Fleisch und die billigen Milchprodukte aus Massentierhaltung, ist für Menschen, die sich schon preiswerte Lebensmittel kaum leisten können, eine schallende Ohrfeige.
„Im Jahr 2019 wurden mit vegetarischen und veganen Lebensmitteln (bis zur neunten Kalenderwoche) rund 1,22 Milliarden Euro in Deutschland umgesetzt. Demgegenüber lag dieser [Umsatz] im Jahr 2017 noch bei 736 Millionen Euro“, schreibt Sandra Ahrens im Juli 2020 auf Statistica.com. Solche Zahlen gelten für konsumkritische Argumentationen als Beleg für den Einfluss einer Konsumänderung auf die Lebensmittelindustrie. Letztlich drücken sie aber nur einen Bruchteil des Veränderungspotentials aus und lassen außer Acht, zu welch hohen Preisen sie teilweise verkauft werden sowie unter welchen Umständen, Arbeitsbedingungen und mit welchen ökologischen Begleiterscheinungen auch pflanzliche Lebensmittel hergestellt werden.
Die zerstörerische Kraft der Profitinteressen wirkt nicht nur bei der Herstellung tierischer Nahrung. Auch für vegane Produkte – viele enthalten z.B. Palmöl – vernichten Großkonzerne Regenwald und die Lebensgrundlagen von Menschen in der neokolonialen Welt. Nicht nur in der Fleischindustrie, sondern beispielsweise auch bei der Ernte von Spargel oder Erdbeeren herrschen nicht nur hierzulande menschenverachtende Arbeitsbedingungen.
Vergesellschaftung und Planung
Die für die Lebensmittelproduktion wichtigen Entscheidungen werden in einer kapitalistischen Gesellschaft letztlich nicht am Supermarktregal, sondern in den Führungsetagen von Nestlé, Tönnies & Co. getroffen. Deshalb wehren wir uns gegen die Verlagerung der moralischen Verantwortung auf die Konsument*innen und suchen nach gesellschaftlichen Lösungen. Allein die Tatsache, dass mit dem weltweit produzierten Viehfutter neun Milliarden Menschen ernährt werden könnten, schreit förmlich nach gesamtgesellschaftlicher Planung. Unser sozialistisches Programm richtet sich nach den Bedürfnissen der Menschen. Die begrenzte Macht einer Konsumentscheidung hilft vielen, die diese Zustände zu recht ablehnen, mit dem Gefühl der eigenen gesellschaftlichen Ohnmacht umzugehen. Wir respektieren diese Entscheidungen und wollen sie keineswegs relativieren.
Grundlegende Veränderungen erreichen wir jedoch erst, wenn wir die Grundsatzentscheidungen in die eigenen Hände nehmen. Wenn nach Bedürfnissen geplant wird, werden keine Lebensmittel weggeschmissen, weil sie nicht verkauft werden, keine Zutaten verwendet, deren Produktion möglichst billig sein muss ohne Rücksicht auf Umwelt, Arbeitsbedingungen und Gesundheit. An diesen Punkt kommen wir nur, wenn wir uns gemeinsam organisieren, wenn Umwelt- und Klimabewegung, Tierrechtsaktivist*innen und die Arbeiter*innenbewegung Seite an Seite dafür kämpfen.
Eine andere Welt ist möglich
Es ist im Interesse der überwiegenden Mehrheit, unter Einsatz von möglichst wenigen Ressourcen möglichst gesund und lecker zu essen. Es erscheint uns sehr unwahrscheinlich, dass Menschen, die die direkte Kontrolle über die Lebensmittelproduktion ausüben, das Leid von Tieren, die Umweltzerstörung und Verschwendung von Ressourcen und Lebensmitteln, ganz zu schweigen vom Hunger in großen Teilen der Welt, auch nur ansatzweise so in Kauf nehmen würden, wie es die kapitalistische Produktionsweise mit ihren Mechanismen zur Profitmaximierung tut.
Wenn wir die Ressourcen der gesamten Gesellschaft zusammenlegen, um gesunde und leckere Lebensmittel zu entwickeln und planvoll herzustellen, werden wir nicht nur letztlich mindestens viel weniger tierische Produkte herstellen, sondern auch vegane Produkte, die ohne das Profitinteresse der Großkonzerne günstiger, gesünder, leckerer und nachhaltiger produziert werden.
Foto durch Marco Verch