Das Ergebnis der Parlamentswahlen am 19. Juni ist ein weiterer Schritt in die Ungewissheit. Zum ersten Mal seit dem Jahr 2000 hat der Präsident keine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Stattdessen sind drei Kräfte dominant. Die Rechte um Marine Le-Pen (89 Abgeordnete) , die Macronist*innen (245 Abgeordnete) und die Linke um Jean-Luc Mélenchon (131 Abgeordnete). Die niedrige Wahlbeteiligung ist ein Zeichen, dass viele von dieser Wahl keine Lösungen erwarteten. Es ist unklar, ob eine Koalition zustande kommt. Die Linke sollte auf die Mobilisierung sozialer Bewegungen setzen.
Von Gabrielle Fery, Hamburg
Die zweite Amtszeit Macrons ist ein neues Kapitel in der Geschichte der 5. Republik. Sollte Macron kein Bündnis mit einer anderen Partei schließen, wäre er der erste Präsident seit 2002, der keine absolute Mehrheit hat. Das zeigt, wie groß die Unzufriedenheit über die neoliberale Politik seiner ersten Amtszeit ist.
Ohne absolute Mehrheit sind die Fähigkeiten einer Regierung eingeschränkt, Gesetze zu verabschieden und den Haushalt zu bestimmen. Koalitionen zwischen Parteien sind in Frankreich sehr selten. Solch eine erstaunliche Veränderung wäre letztendlich das Ergebnis des Erfolges der NUPES (Neue populäre ökologische und soziale Union), eines linken Bündnisses um Mélenchon, den Präsidentschaftskandidaten von La France Insoumise. Neben dieser Gruppierung besteht das Bündnis aus der Kommunistischen Partei, den Grünen und der Mehrheit der Sozialdemokrat*innen (“Sozialistische Partei”).
Doch der Erfolg der Linken hat Grenzen. Gleichzeitig erzielte Le Pens Rassemblement National (RN) ein Rekordergebnis, steigerte sich auf 89 Sitze im Vergleich zu acht bei der Wahl 2017. Die niedrige Wahlbeteiligung zeigt, dass große Teile des französischen Proletariats, insbesondere in den Banlieues – eher arme Vororte mit einem großen Anteil von Migrant*innen – sich nichts von der Wahl erhofften.
Die Medien haben die niedrige Wahlbeteiligung von 54% kaum erwähnt. Vor allem ärmere Teile der Bevölkerung beteiligen sich nicht. Ihre Gründe sind vielfältig: Erinnerung an Verrat und gebrochene Versprechen, Mangel an Informationen oder generelles Misstrauen gegenüber der Politik. Es ist erstaunlich, dass viele Kräfte, unter anderem Mélenchon, auf solche Fragen fast ausschließlich moralisch reagieren. Er sagte zwischen den Wahlgängen, dass, wer nicht wähle, sich nicht beschweren dürfe.
In vergangenen Jahrzehnten hatte die PS (die französische Sozialdemokratie) viel Unterstützung in den Banlieues. Ihre Politik hat zur Erosion ihrer Unterstützung geführt. Die Banlieues erleben seit Jahren Brutalität und Neoliberalismus, daher gelten sie als schwer mobilisierbare Gebiete. Es gelang Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen im April, durch einen antirassistischen Diskurs und der Angst vor einem Wahlsieg der Rechten Teile der dortigen Bevölkerung zu gewinnen. Vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gab es lokale Initiativen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Dies ist nur möglich durch antikapitalistische und antirassistische Inhalte, die die Interessen der Arbeiter*innenklasse repräsentieren.
Dies konnte er bei der Parlamentswahlen nicht wiederholen. Neben Entpolitisierung und Mangel an Information über die Bedeutung dieser Wahl lässt sich das auch mit dem – berechtigten – Misstrauen gegenüber den Parteien erklären, mit denen sich Mélenchon sich verbündet hat.
Abschied von der Republikanischen Front?
Nach der ersten Runde der Parlamentswahlen am 12. Juni wurde es den Macronist*innen klar, dass die Möglichkeit bestand, dass NUPES viele Wahlkreise gewinnt. Diese führte zu einer harten und übertriebenen Rhetorik gegen NUPES. So sagte eine der zwei Umweltministerinnen, dass das Ziel der NUPES „die Anarchie“ und die „Einsetzung einer sowjetischen Regelung“ sei. Dabei “vergaßen” sie, den RN zu bekämpfen.
Diese Haltung den Macronist*innen gegen NUPES trägt dazu bei, die sogenannte „Front Républicain“ (Republikanische Front) zu beerdigen. Unter der „Front Républicain“ wird die Tradition der Bekämpfung der Rechtsextremen durch alle republikanischen Kräfte verstanden. Sie entstand am Ende 19. Jahrhundert, um die Rückkehr der Monarchie zu verhindern und lebte bis ins 21. Jahrhundert fort. Macron selbst hatte dies bei den Präsidentschaftswahlen 2017 und 2022 ausgenutzt und sich als einzige Möglichkeit, die Rechten zu verhindern, dargestellt. Die Haltung Macrons könnte den endgültigen Abschied bedeuten. Zwischen den zwei Wahlrunden beendete er seine wichtigste Rede mit den Worten „der Republik soll es an keiner Stimme mangeln“ und stellte damit die linke und rechte Opposition auf eine Stufe.
Hufeisentheorie als Leitmotiv. Dadurch versucht der Präsident, die Republik als gefährdet darzustellen und die Idee zu entwickeln, dass eine „nationale Einheit“ nötig sei. Die präsidentielle Mehrheit scheint keine Koalition bilden wollen, sondern eine wechselnde Mehrheit je nach konkreten Vorhaben erlangen. Dadurch wäre die oft reaktionäre Haltung Macrons durch den RN unterstützt und sogar verstärkt. Am Ende steht die Normalisierung der Rechten.
Die Ergebnisse der RN scheinen erstaunlich, wenn man sich die Kampagne der RN in den Medien anguckt, da sich die Kandidat*innen der RN unfähig zeigten, einfache Fragen zum Beispiel über die Finanzierung der öffentlichen Dienste zu beantworten. Allerdings bietet die Politik Macrons eine günstige Basis für die Rechte. Unter Macron wurde die Autorität der Polizei sowie die Verfolgung von Flüchtlingen verstärkt. Seine antisoziale Politik, die Offensive gegen die muslimische Bevölkerung sowie die Bezeichnung der Linken als „Freunde der Islamist*innen“ und „Feinde der Republik“ spielen der Rechten in die Hände.
NUPES und soziale Kämpfe
Die NUPES ist durch Verhandlungen zwischen linken Parteien entstanden. Man wollte ein Desaster wie 2017 verhindern und von den guten Ergebnissen Melenchons bei den Präsidentschaftswahlen profitieren.
Melenchon warb für eine parlamentarische Mehrheit, um ihn zum Premierminister zu wählen. Dadurch hätte NUPES Maßnahmen auf Basis des Programms der LFI durchsetzen können. Laut Mélenchon sollte das Renteneintrittsalter wieder auf 60 Jahre gesenkt werden. Preise für Grundbedürfnisse sollten festgesetzt, der Mindestlohn auf 1500 Euro erhöht werden. Die Finanzierung von Studierenden sollte deren Autonomie ermöglichen.
Da keine Mehrheit der NUPES zustande kam, sind diese Bestrebungen Mélenchons nicht realisierbar. Die linke Parteien erlangten aber bedeutende Zuwächse im Vergleich zu 2017. NUPES stellt jedoch keine gemeinsame Fraktion in der Nationalversammlung, jede Partei hat ihre eigenständige Gruppe zusätzlich zur NUPES-Gruppe.
NUPES hat viele problematische Aspekte und enthält Widersprüche sowie Fehler. Die Zusammenarbeit mit der PS und den Grünen können als Fehler bzw. Opportunismus bewertet werden. Diese Parteien hatten schon während des AmtszeitFrançois Hollandes (2012-2017) regiert und setzten keine soziale Politik um, sondern führten Angriffe gegen das Arbeitsrecht durch. In manchen Wahlkreisen drängten PS Kandidat*innen Aktivist*innen in den Hintergrund.
Trotz der Kritik soll der fortschrittliche Aspekt dieses Bündnisses anerkannt werden. Einige Abgeordnete sind bekannte Gesichter von sozialen und gewerkschaftlichen Kämpfe, unter anderem das ehemalige “Dienstmädchen” Rachel Keke, eine Aktivistin in der CGT Gewerkschaft, die einen erfolgreichen 22 Monate langen Streik für die Aufwertung der Arbeit der Service- und Reinigungskräfte im Ibis-Hotel Batignolles führte. Durch NUPES ist eine Alternative zum vorgesehenen Duell zwischen Macron und Le Pen entstanden. Das Bündnis ermöglichte auch eine Verschiebung der Debatten bei manchen Aspekten, machte zum Beispiel Polizeigewalt zum Thema. Die Wichtigkeit der sozialen Kämpfe und Aktivist*innen ist nicht zu unterschätzen, aber es ist auch positiv, dass Kräfte innerhalb des Bündnisses gezwungen waren, diese zu thematisieren. Nachdem die Polizei eine Person ermordet hatte, sagte Mélenchon „die Polizei tötet“. Obwohl Mélenchons Lösung nur eine Reform der Polizei ist, gab es wütende Reaktionen von Macronist*innen und der RN.
Die NUPES reicht nicht, um die Situation zu lösen, auch wenn sie eine Alternative zum Neoliberalismus und Rechtsverschiebung stellte. Im Unterschied zu 2017 vertreten die LFI-Abgeordneten nur eine parlamentarische Perspektive und rufen nicht zur Organisierung von unten auf. Angesichts der steigenden Inflation, der Stärkung der Rechten und des neoliberalen Programm Macrons ist klar, dass die Lösung in der politischen Arbeit auf den Straßen, in den Betrieben und Schulen zu finden ist. Damit muss eine Alternative entwickelt werden, und die LFI bzw. NUPES müssen unter Druck gesetzt werden, konsequent antikapitalistisch zu agieren.