Nach vier Verhandlungsrunden vereinbarte die IG Metall für die Beschäftigten der nordwestdeutschen Stahlindustrie (NRW, Niedersachsen, Bremen) eine tabellenwirksame Entgelterhöhung. Angesichts der hohen Inflation ist jedoch ein Reallohnverlust vereinbart worden.
Von Marc Treude, Aachen
Die IG Metall bewirbt den Abschluss als höchste Anhebung in der Stahlindustrie seit 30 Jahren. Numerisch mag das stimmen, doch angesichts der horrenden Gewinne der Stahlkonzerne sowie der galoppierenden Inflation ist das Ergebnis eine weitere Umverteilung in die Taschen der Bosse. Dieses Ergebnis betrifft vorerst die rund 68.000 Beschäftigten in Nordwestdeutschland, das Tarifgebiet Ost hat den Abschluss übernommen und das Tarifgebiet Saar wird wahrscheinlich mit dem gleichen Ergebnis nachziehen. Die IG Metall hatte mehrere Wochen lang immer wieder mit Warnstreiks ihr Kampfpotential gezeigt, rund jede*r zweite Beschäftigte hatte vorübergehend die Arbeit niedergelegt. Das Tarifergebnis wird von manchen Kolleg*innen trotzdem überwiegend positiv bewertet.
Unter die Beschichtung schauen
Die Entgelte in der Stahlindustrie gehören nicht zu den höchsten. Nach der Tariferhöhung liegen diese zwischen 13,69 EUR (Entgeltgruppe 1) und 20,60 EUR (Entgeltgruppe 9). Auf Grundlage einer 35-Stunden-Woche wird somit ein monatliches Einkommen (ohne Schichtzulagen etc.) von gerade einmal 2553,23 EUR bis 3136,35 EUR erzielt.
Gerade diese Tarifrunde hatte eine besondere Bedeutung. Sie konnte und musste zeigen, was 2022 geht, und was nicht. Während der Corona-Pandemie lagen die Tarifabschlüsse der IG Metall alle im schmerzhaft negativen Bereich, es gibt einen riesigen Nachholbedarf. Dazu kommt die sehr hohe Inflation, die alles andere überlagert. Die Stahlbosse hatten gerade während der Pandemie noch einmal extra hohe Gewinne machen können.
Tarifforderungen müssen drei Dinge berücksichtigen: Erstens soll die Inflation ausgeglichen werden, zweitens soll die gestiegene Produktivität in die Portemonnaies fließen – und drittens soll immer auch eine “Umverteilungskomponente” enthalten sein. Dies bedeutet nichts anderes, als dass von den erwirtschafteten Profiten ein möglichst großer Anteil abgetrotzt werden soll. Vor diesem Hintergrund ist das Tarifergebnis kein Erfolg. Die IGM-Bürokratie scheint auch in dieser Tarifrunde ihre eigenen Vorsätze über Bord geworfen zu haben.
Historische Bedeutung
In Zeiten von Klimakrise, Krieg und Corona-Pandemie haben sich Konzerne weltweit massiv bereichert, es gab massive Umverteilung von unten nach oben. Durch die Inflation wird dieser Prozess weiter beschleunigt. Daher gilt es, die Tarifauseinandersetzungen zu nutzen, um den Spieß umzudrehen. Dies ist nicht gelungen. Die geforderten 8,2 Prozent hätten voll durchgesetzt werden müssen. Trotzdem ist ein historisch vergleichsweise hoher Abschluss zumindest eine Messlatte für die anstehende Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie mit ihren 4,5 Millionen Beschäftigten im Herbst. Die dortige Forderung “zwischen sieben und acht Prozent” ist aber schon deutlich zu niedrig angesetzt. Es wäre unter den gegebenen Bedingungen absolut richtig, eine zweistellige Lohnforderung aufzustellen. Denn letztendlich entscheiden das Kräfteverhältnis im Betrieb, demokratische Strukturen und die Organisierung der Kolleg*innen wie die Runde ausgeht.
Marc Treude ist Vertrauensmann der IGM und Betriebsratsvorsitzender in Aachen.