Chinas Covid-Ausbruch 2022 hat sich zu einer wirtschaftlichen und humanitären Krise ausgeweitet, eine Stadt nach der anderen geht in den Lockdown. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt gerät ins Straucheln.
Von Johannes von Simons, Berlin
Chinas Regierungschef Xi Jinping weigert sich, seine kompromisslose „Zero Covid“-Politik zu ändern. Bei dieser Politik geht es mehr um brutale soziale Kontrolle und staatliche Repression als um Wissenschaft. Über 300 Millionen Menschen in China lebten Ende Mai in Städten, die vollständig oder teilweise abgeriegelt waren. Auch Teile der Hauptstadt Peking sind im Lockdown, dort sind Hunderte Wohnsiedlungen und Millionen Pekinger*innen vollständig abgeriegelt.
Shanghai mit 28 Millionen Einwohner*innen befand sich von Ende März bis in den Juni in einem totalen Lockdown. Als sich die Omikron-Variante dort zum ersten Mal auszubreiten begann, sagte die Regierung, eine Sperrung sei „undenkbar“. Als es schlimmer wurde, kündigte sie einen zweistufigen Lockdown an – jeweils die halbe Stadt auf einmal.
Eingesperrt in den Wohnungen
Xi Jinping sagt, China habe die beste Corona-Politik der Welt. Aber diese Politik beruht auf einem massiven Polizeistaat, umfassender Zensur und der Abwesenheit demokratischer Rechte. Im Mai gaben Xi und der Ständige Ausschuss des Politbüros strenge Anweisungen, dass die „Zero Covid“-Politik noch energischer umgesetzt werden müsse. Trotz eines rückläufigen Infektionstrends in Shanghai verschärfte die lokale Regierung den Lockdown zunächst: die Befehle des Diktators stehen über Wissenschaft und Logik.
Im Lockdown müssen die meisten Menschen in ihren Wohnungen bleiben und dürfen nicht raus, nicht einmal, um Essen zu kaufen. Mangel an Nahrungsmitteln, Medikamenten und anderem Notwendigen herrscht überall. Wenn eine Person positiv getestet wird, werden alle Bewohner*innen derselben Etage dieses Wohnhauses in ein Quarantänezentrum gebracht; oft betrifft es sogar den gesamten Wohnblock.
Alle haben Angst davor, in die Quarantänezentren geschickt zu werden, in denen schlimme Zustände herrschen. Einige dieser Zentren werden als „schlimmer als Gefängnisse“ beschrieben; Gefangene wissen immerhin, wann sie entlassen werden. Diese Politik ist brutal, kostspielig und eine Verschwendung von Ressourcen. „Null Covid“ à la Xi Jinping bedeutet, dass lebenswichtige Ressourcen und Personal vom ohnehin überlasteten öffentlichen Gesundheitssystem abgezogen werden, um Massentests durchzuführen und Quarantänezentren zu betreiben.
Chinas Impfprogramm hingegen war bei der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppe, den älteren Menschen, nicht erfolgreich. Fast 100 Millionen Über-60-Jährige sind nicht vollständig geimpft. Die „Zero Covid“-Politik mit Massenlockdowns verschlimmert dieses Problem. So ist die Impfung älterer Menschen in Shanghai seit Beginn der Abriegelung um die Hälfte zurückgegangen. Statt die Alten und Risikogruppen zu impfen, werden Massentests von Millionen von Menschen priorisiert. Die eigentlichen Gewinner sind Chinas Testunternehmen. Mehrere der großen Corona-Testunternehmen meldeten im April ein Gewinnwachstum zwischen 60 und 190% im Vergleich zum Vorjahr. Mehr als ein Zehntel der 100 reichsten Milliardär*innen Chinas kommen aus dem Pharma- und Gesundheitssektor. Für sie war die Pandemie sehr profitabel.
Job- und Einkommensverluste
Für Arbeitnehmer*innen ist die Situation sehr schlecht. Nicht zur Arbeit zu gehen bedeutet, kein Geld zu verdienen. Viele Beschäftigte im Dienstleistungs-, Bau- und Transportsektor verlieren ihren Arbeitsplatz, entlassene Arbeiter*innen müssen von ihren Ersparnissen leben. In abgeriegelten Städten wie Shanghai schlafen viele Wanderarbeiter*innen auf Straßen, unter Brücken oder in Geldautomaten, weil sie durch den Lockdown obdachlos geworden sind. Eine Gruppe von 20 Bauarbeiter*innen war eine Woche lang ohne Wasser, Strom oder Betten auf einer Baustelle eingeschlossen. Sie benutzten Wasser aus einem Hydranten, um Instantnudeln zu kochen. Einige positiv getestete Wanderarbeiter*innen wurden aus der Stadt vertrieben, weil Beamt*innen die Infektionsstatistik kleinhalten wollten. Arbeiter*innen dürfen in China keine Gewerkschaften gründen. Streiks sind illegal und werden in vielen Fällen brutal niedergeschlagen.
Die Diktatur von Xi Jinping nutzt die „Zero Covid“-Politik als Vorwand, um ihre sozialen Kontrollmechanismen und die Befugnisse des Polizeistaats auszuweiten. Einige lokale Regierungen haben den Bewohner*innen befohlen, ihre Hausschlüssel abzugeben, und sie in ihren Häusern eingeschlossen. Während in Shanghai der Lockdown verschärft wurde, gingen die Polizei und ihre Helfer*innen von Haus zu Haus, um Desinfektionsmittel in jeden Raum zu sprühen und Menschen in Quarantänezentren zu bringen. Notfalls brachen sie die Tür auf. Die sozialen Medien sind voll mit Videos von Protesten und von Ungerechtigkeiten, die von der Polizei begangen wurden.
Chinas Zahl an Corona-Toten ist im Vergleich zum weltweiten Niveau niedrig, aber es gibt viele zusätzliche Todesfälle, weil Menschen während den Lockdowns die medizinische Versorgung verweigert wurde. Krankenhäuser sind an der Belastungsgrenze, wenn das Personal krank wird oder für lange Schichten an Teststationen abberufen wird. Krankenhausangestellte in Shanghai haben gegen die unmenschlichen Bedingungen protestiert und sich in einigen Fällen an Streiks beteiligt. Das Krankenhauspersonal des Reha-Krankenhauses Nr. 2 in Shanghai beschwerte sich, dass sie zur Arbeit gezwungen wurden, obwohl sie positiv auf Corona getestet wurden.
Die Arbeiter*innen wurden in ihren Fabriken eingesperrt, um die Produktion aufrecht zu erhalten, ein sogenannter „geschlossener Kreislauf“. Dies hat zu Zusammenstößen und sogar zu Aufständen geführt. Zehntausende Student*innen in Shanghai waren über einen Monat in den Wohnheimen eingesperrt.
Zunehmende Unzufriedenheit
Jeden Abend wurde in Shanghai vor den Fenstern auf Töpfe und Pfannen eingeschlagen. Social-Media-Beiträge werden zwar weiterhin schnell gelöscht, äußern sich aber zunehmend kritisch auch über die Zentralregierung, nicht nur über die lokalen Beamt*innen wie in der Vergangenheit.
Die Herrschaft der sogenannten Kommunistischen Partei (KPCh) wird zu einer Zeit untergraben, da Xi Jinping verzweifelt nach „Stabilität“ strebt. Die „Zero Covid“-Politik hat die Wirtschaft in eine Rezession gestürzt. Das beschleunigt die Abkopplung vom Rest der Weltwirtschaft („Decoupling“), da sich ausländische Unternehmen aus China zurückziehen. Auch langjährige Optimist*innen unter den Wirtschaftsanalyst*innen sind inzwischen pessimistisch. Ein führender chinesischer Kapitalist sagte, die Wirtschaft befinde sich „in der schlechtesten Verfassung seit 30 Jahren“.
Chinesische Wissenschaftler*innen, darunter einige der prominentesten Virolog*innen des Landes, haben ebenfalls auf eine Änderung der Politik gedrängt. Auch ihre Ansichten werden rücksichtslos zensiert. Die „Zero Covid“-Politik in Frage zu stellen, bedeutet, die Herrschaft von Xi Jinping in Frage zu stellen, und das ist nicht erlaubt. Im Mai kritisierte die WHO Chinas „Zero Covid“-Politik als nicht nachhaltig. Diese Erklärung der WHO wurde in China vollständig verboten.
Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Xi Jinping die „Zero Covid“-Politik aufgeben wird, besonders vor dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Ende diesen Jahres. Auf diesem will Xi seine Diktatur festigen, indem er eine beispiellose dritte Amtszeit absegnen lässt. Aktuell schürt die KPCh weiter den Nationalismus, die „fremde Bedrohung“ und die Notwendigkeit der nationalen Einheit als Mittel zur Kontrolle der Gesellschaft. Der Anstieg der Spannungen kündigt explosive Ereignisse in China an.
„Solidarity Against Repression in China and Hong Kong“ steht auf der Seite von Chinas Arbeiter*innen, Jugendlichen und unterdrückten Minderheiten. Die Pandemie kann von kapitalistischen Regierungen – ob autoritär oder „demokratisch“ – nicht effektiv bekämpft werden. Das Regime von Xi sagt, dass ein Widersetzen gegen seine „Zero Covid“-Linie gleichbedeutend mit Nichtstun oder Aufgeben sei. Ein wirksamer Kampf gegen die Pandemie braucht starke unabhängige Organisationen der Arbeit*innen und uneingeschränkte demokratische Rechte. Die Impfungen müssen intensiviert werden, insbesondere für ältere Menschen, durch eine Massenaufklärungskampagne und die Aufhebung des Importverbots für RNA-Impfstoffe, die eine viel höhere Wirksamkeit gegen Covid-19 haben als die chinesischen.
In Chinas Gesundheitssystem muss massiv investiert und modernisiert werden. Es braucht starke und unabhängige Gewerkschaften der Beschäftigten im Gesundheitswesen und eine demokratische Kontrolle durch die Arbeiter*innenklasse. Falls Notstandsbeschränkungen nötig werden sollten, müssen sie demokratisch beschlossen und von demokratischen Basiskomitees organisiert werden können. Als Teil der Schaffung eines menschenwürdigen Sozialsystems für alle Arbeitnehmer*innen müssen universelle Arbeitslosen- und Krankenversicherungen eingeführt werden. Das diskriminierende Hukou-System (welches die Rechte der Wanderarbeiter*innen einschränkt) muss abgeschafft werden. Sozialistische Maßnahmen zur Übernahme des Reichtums der Kapitalist*innen sind notwendig, um die Wirtschaft demokratisch zu planen. Und all dies erfordert ein Ende der Diktatur. „Solidarity Against Repression in China and Hong Kong“ steht auf der Seite von Chinas Arbeiter*innen, Jugendlichen und unterdrückten Minderheiten und tritt ein für eine vollständig demokratische, von der Arbeiter*innenklasse geführte Gesellschaft.
Weitere Infos: Solidarity Against Repression in China and Hong Kong,
Spenden für den Kampf gegen Diktatur und Kapitalismus in China: chinaworker.info